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Villegas, Enrique: Folklore + Villegas – Metamorfosis – Tributo a Monk

Gonzalo Compañy | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

In Zeiten, in denen die großen Plattenläden nach und nach ihre analogen Verkaufsabteilungen zugungsten der Smartphones-Verkäufe abbauen, hätte sich die Musikszene in den letzten Monaten für die Musikliebhaber:innen in Bezug auf Wiederveröffentlichungen nicht besser präsentieren können. Nach der Ankundigung von zwei bisher unveröffentlichten Alben des argentinischen Komponisten und Pianisten Gustavo Cuchi Leguizamón sind nun drei Alben des Pianisten Enrique Mono Villegas (Buenos Aires, 1913–1986) erschienen. Es handelt sich um Longplays, die zwischen den frühen 1950er und den späten 1960er Jahren entstanden und bedauerlischerweise jahrzehntelang unerreichbar waren.

Zum einen geht es um Folklore + Villegas (1952), was man zweifelsohne als Inkunabel bezeichnen kann, denn das Album war bis dahin nur in den Regalen weniger Sammler:innen zu finden. Das Repertoire der Platte basiert auf den Werken des legendären Folk-Quintetts Los Hermanos Ábalos, einer Gruppe, die 1939 im nördlichen Teil des Landes gegründet wurde und über 60 Jahre lang aktiv war. Für die Wiederveröffentlichung zeichnete das argentinische Label Melopea verantwortlich, dessen Leiter, der fruchtbare Musiker Litto Nebbia (Rosario, 1948), nicht nur zu den Mitbegründern des Rock in spanischer Sprache ist, sondern seit Ende der 1980er Jahre auch für die Aufnahme, Produktion und Veröffentlichung unzähliger Musiker verantwortlich ist und, wie in diesem Fall, auch in Ungnade gefallene Musiker bzw. vergriffene Alben vor dem Vergessen rettet sowie bisher veröffentlichte Aufnahmen der Öffentlichkeit vorstellt. Bei Folklore + Villegas war dies wiederum dank des Engagements des Instituto Nacional de la Música (INAMU) möglich, einer nichtstaatlichen öffentlichen Einrichtung zur Förderung der musikalischen Aktivitäten in Argentinien, die 2016 die rund 1500 Platten des Labels Music Hall übernahm, das sich 1993 in Konkurs gegangen war und sich bis dahin in einem Gerichtsverfahren befand. Die Geschichte dieser emblematischen Rettung wird in einem eher kurzen aber doch fesselnden Dokumentarfilm von 2018 erzählt.

Folklore + Villegas, so sagten wir, ist eines der mehr als 200 Werke eines solchen Katalogs, die bisher zur Neuauflage lizenziert wurden. In diesem Album zeigt Villegas seine Vielseitigkeit als Musiker, die die Kritiker:innen seiner Zeit verwirrte und sogar irritierte, da er sich dagegen wehrte, in eine Schublade gesteck zu werden. Als Schüler des Komponisten und Dirigenten Alberto Williams (1862–1952) begann Enrique Villegas seine professionelle Klaviertätigkeit mit einem Repertoire so genannter klassischer Musik, d. h. der geschriebenen Tradition, bis hin zur Uraufführung des G-Dur-Klavierkonzerts von Maurice Ravel in Teatro Colón in Buenos Aires im Jahr 1932, also nur wenige Monate seit seiner Weltpremiere in Paris mit der Pianistin Marguerite Long (1874–1966) und dem Komponisten am Pult. Parallel zum Beitritt zum Tango- und Jazz-Ensembles ist Folklore + Villegas, in direkter Anspielung auf den Eindruck seiner persönlichen Prägung auf die Musik, die aus seiner Tastatur kam, sein Aufnahmedebüt.

Die von Villegas für dieses Album ausgewählten Werke sind Bestandteil des argentinischen Folklore-Repertoires aus der Feder des legendären Pianisten Adolfo Ábalos (1914–2008), mit Rhythmen wie Zambas (Nostalgias santiagueñas, Juntito al fogón, Zamba de los yuyos, Achalay, Zamba de mi pago), Chacareras (Chacarera del Cachimayo, La indecisa), Gatos (El baquianito, Presumido, El utulita), Bailecitos (Bailecito quenero), Carnavalitos (Carnavalito quebradeño) und Triunfos (Alhajita). Obwohl das Klavier logischerweise einen zentralen Platz einnimmt, wird Villegas auf dem gesamten Album von einer klassischen Gitarre und einer Bombo legüero sowie teilweise von einem Charango (Carnavalito quebradeño) begleitet, dem für die Musik des Nordwestens des Landes charaktiristischen Saiteninstrument, dessen Resonanzkörper traditionell aus dem Panzer eines Neunbinden-Gürteltieres gefertigt wurde. Zu dem Dutzend Songs, die dieses Gründungsdokument von Villegas‘ üppiger Diskographie ausmachen, dessen Wiederveröffentlichung gereicht hätte, um den Hörer:innen zu beglücken, kommt ein Bonustrack hinzu – nicht geringeres als das wunderschöne Zamba de mi pago, das u. a. auch zum Repertoire Atahualpa Yupanquis gehörte.

Andererseits hat das ebenfalls argentinische Label RP Music soeben die Neuauflage von zwei 1967 erschienen und seither vergriffenen Platten durchgeführt: Metamorfosis und Tributo a Monk. Und als das noch nicht genug wäre, wurde diese doppelte Wiederauflage als erster Teil der Wiederveröffentlichung von Villegas‘ gesamtes Werk angekündigt! Metamorfosis ist der Titel, den Villegas seiner neuartige Interpretation der 24 Préludes op. 28 von Frédéric Chopin (1810–1849) im Jazztrio-Format gab. Das Album wurde in zwei getrennten Sessions innerhalb von zwei Wochen aufgenommen. Später stellte sich heraus, dass die Musiker mit dem aus der ersten Session entstandenen Materials nicht zufrieden waren, so dass das Trio, bestehend aus Enrique Mono Villegas (Klavier), Jorge López Ruíz (Kontrabass) und Eduardo Casalla (Schlagzeug), beschloss, den Rest der Aufnahme zu verschieben. Weit davon entfernt, nach Hause zu gehen, wurden die verbleibenden Stunden im Studio genutzt, um sieben Jazz-Standards aufzunehmen, die als Tribut an Thelonious Monk veröffentlicht werden sollten. Damit wurde nicht nur die Zeit im Studio ausgefüllt, sondern auch die Chemie wiederhergestellt, die notwendig war, um das Chopin-Projekt erfolgreich in Gang zu bringen. Der Erfolg dieser Entscheidung sollte sich zwei Wochen später zeigen, als die Musiker ins Studio zurück kehrten, um die Aufnahme der Präludien abzuschließen.

Eine erste Annäherung an die Préludes op. 28 (und zwar an die Nr. 4) im Jazz-Format hatte der Pianist bereits unternommen und auf dem ersten der zwei Alben aufgenommen, die er während seines Aufenthalts in New York eingespielt hatte: Introducing Villegas (1955) – ebenfalls im Jazztrio. Das Album wurde erst 2006 zusammen mit dem zweiten Album der NY-Saga, Very, Very Villegas (1957) unter dem Titel Complete New York Sessions 1955–1957 wieder veröffentlicht und bleibt trotz seiner Bedeutung in den kurzsichtigen Anthologien des Jazz weiterhin unbemerkt (ebenso wie sein Autor). In diesem Sinne gehört Play Bach (1959), das Debütalbum des Trios des französischen Pianisten Jacques Loussier (1934–2019) zu den frühesten anerkannten Vorläufern der Verjazzung von Werken klassischer Komponisten. Jahrzehnte später tat er dasselbe – allerdings ohne das Trio – mit den Walzern (Frédéric Chopin par Jacques Loussier, 1980) und in jüngerer Zeit mit den Nocturnes (Impressions on Chopin’s Nocturnes, 2004).

Metamorfosis hält die Frische einer Improvisation über die 24 Präludien fest, die von der extremen Verbundenheit dreier hervorragender Musiker, die sich durch ihre ständige Aktivität in der Jazzszene jener Jahre bestens kannten, zeugt. Das Ergebnis liegt auf der Hand und ist nach wie vor mehr als zufriedenstellend: Eine Neueinspielung des Opus 28 von Chopin in seiner ursprünglichen Reihenfolge und in einer Ausdrucksweise, die, wie Villegas später selbst erklärte, seiner Meinung nach diejenige wäre, die der Komponist im zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwendet hätte. Im Unterschied zu anderen Versuchen der jüngeren Zeit, die mehr oder weniger gelungen sind und bei denen anerkannte Werke des polnischen Komponisten eher karikiert werden, hält das Enrique Villegas Trio hier ein Gleichgewicht zwischen ein Minimum an Treue zu den Noten und der Gesamtstruktur, und dem Platz, der der Stegreifschöpfung bzw. der Variationen eingeräumt wird, ohne jedoch zu irgendeinem Zeitpunkt in befremdliche Selbstgespräche zu verfallen. In diesem Zusammenhang gelingt es Metamorfosis, die Essenz jedes Prélude zu bewahren und gleichzeitig rhythmische und harmonische Mikrovariationen von großer Virtuosität und Spontaneität freizulegen, wobei Chopins Werke nicht als bloße Vorwand für die freie Improvisation dienen, sondern es scheint, als übersetzte das Trio in Echtzeit die ursprünglichen Takte in Jazzsprache.

Die Aufnahme der Jazz-Standards brachte Material hervor, das zwar als Hommage an den damals lebenden großen Pianisten Thelonious Monk (1917–1982) veröffentlicht wurde – aber das Tributo a Monk enthält auch Werken anderer Komponisten. Der Tribut für den in North Caroline stammenden Pianisten beschränkt sich immerhin auf ein etwa 20 Minuten langes Potpourri, mit dem das Album beginnt und in dem nicht weniger als Bemsha Swing, ‚Round Midnight und Blue Monk aufeinander folgen. Hier merkt man, wie die Musiker sich aufwärmen und finden das, was sie suchten, bevor sie ins Aufnahmestudio gingen bzw. als sie sich entschlossen haben, das Studio nicht zu verlassen. Nach dieser gelungenen Begegnung folgen Harold Arlen und Edgar Yip Harburgs It Is Only A Paper Moon, der von Tony Williams komponierte Charmaine, und It Might As Well Be Spring, eines der Werke, die bekanntlich aus der Zusammenarbeit von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II für den Film State Fair (Dir: Walter Lang, 1945) hervorgingen. Den Abschluss bildet Saint Thomas, das mit afro-kubanischen Wurzeln Werk des Saxophonisten Sonny Rollings.

Auch selbst wenn es sich um Standards handelt, d. h. um Stücke, die nicht nur von ihrer Autor:innen, sondern auch im Laufe der Zeit von unzähligen anderen Menschen zahllose Male eingespielt wurden, stellt die Hommage an Monk eine Kostprobe des unerschöpflichen Ideenreichtums von Enrique Villegas‘ Klavier, der sich nicht nur in diesen beiden Alben aus dem Jahr 1967, sondern auch in seinem reichhaltigen, in verschiedenen Instrumentalformaten präsentierten Werk entfaltet. Nach vier weiteren hervorragenden Alben zu urteilen, die in jenen Jahren von Villegas aufgenommen wurden En cuerpo y alma (1966), Porgy & Bess (1968), Encuentro (1968) und Baladas de amor (1968) –, zu denen noch mehrere Aufnahmen aus den Jahren 1964 und 1965 hinzu kommen, die erst in den 1990er Jahren auf vier Alben aufgelegt wurden, kann man sagen, dass sowohl Metamorfosis als auch Tributo a Monk zu einem besonders fruchtbaren Zeitpunkt in der Laufbahn des Pianisten im Besonderen und der Jazzproduktion in Argentinien im Allgemeinen entstanden sind.

Mit der Veröffentlichung von Folklore + Villegas, Metamorfosis und Tributo a Monk stehen den Musikliebhaber:innen zum einem drei Alben wieder zur Verfügung mit dem Original-Cover und dem tadellosen Klang, der dank der Remastering der Originalbänder nun zu genießen ist. Zum anderen wird ihnen erneut die Möglichkeit geboten, die musikalische Vielseitigkeit und Kreativität von Enrique Mono Villegas sowohl in klassischer Musik als auch in der Folklore und im Jazz zu erleben, sowohl einzeln als auch im Zusammenwirken mit seinem exquisiten Mitstreitern. Kurzum: Drei unverzichtbare Alben des universellen Repertoires, die zur Freude der Hörer:innen und zur Anerkennung des brillanten argentinischen Pianisten der Vergessenheit entrissen wurden.

Enrique Villegas

Folklore + Villegas

Melopea, 12/2022

 

Trío Enrique Villegas

Metamorfosis

RP Music, 5/2023

 

Trío Enrique Villegas

Tributo a Monk

RP Music, 5/2023

 


Bildquellen: [1-3] CoverScans

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