50 Jahre nach der Debütaufnahme Soy Buenos Aires – Pedro Orillas (1970) schenkt uns Dino Saluzzi sein dreißigstes Album. Dies ist Albores (2020), in dem sich der argentinische Komponist allein mit seinem Bandoneon, dem Instrument, das ihn seit seinem frühen Kindheit begleitet, präsentiert. Aufgenommen in seinem Saluzzi Music Studio in Buenos Aires, besteht die Aufnahme aus neun bisher unveröffentlichten Stücken des Komponisten, die sich nach wie vor jedem Versuch einer Klassifizierung entziehen – ohne jedoch in unfassbare Abstraktion oder egozentrische Selbstgespräche zu verfallen.
Obwohl Albores nicht das erste Album ist, mit dem sich Timoteo Dino Saluzzi (Salta, 1935) allein vorstellt, wie er es auch in Andina (1988) gemacht hat, ist es im Gegensatz zu diesem ein Solo-Bandoneon-Album – oder, wie Saluzzi es selbst definiert hat, ein Werk des Künstlers in der Einsamkeit. Es ist mittlerweile bekannt, dass für den Argentinier »Ehrlichkeit« im künstlerischen Schaffen Hand in Hand mit Einsamkeit geht. In diesem Sinne ist Albores mit Imágenes (2015), seinem vorherigen Werk, das ausschließlich aus Werken für Soloklavier besteht, eng verknüpft.
Albores, die sechzehnte Platte des Argentiniers auf dem Münchner ECM-Label, beginnt mit dem Titel Adiós Maestro Kancheli, einem herzlichen Abschiedsgruß an den kürzlich verstorbenen georgischen Komponisten Giya Kancheli (1935-2019), der ein Freund Saluzzis war. Es sei daran erinnert, dass Kancheli zehn Jahre zuvor bereits zu Lebzeiten von Saluzzi in Begleitung des Geigers Gidon Kremer und des Vibraphonisten Andrei Pushkare mit dem Album Themes from the Songbook (2010), das ausschließlich aus Werken des vielbewunderten Komponisten besteht, geehrt wurde. Wie es nicht anders sein kann, folgt auf jedem Abschied eine Abwesenheit, wie der zweite Titel, Ausencias, andeutet. Dies ist eine Ballade, die am Tag danach geschrieben zu sein scheint, von jemandem, der von einer Beerdigung zurückkehrt und sich nicht in die ihn umgebende Realität einfügen kann – wie der Komponist und Landsmann Saluzzis Gustavo Cuchi Leguizamón in seiner Chacarera del aveloriado treffend beschrieb.
Wie der Uruguayer Daniel Viglietti sich selbst in Bezug auf die Quelle der musikalischen Kreation und des Ausdrucks definierte, könnte man sagen, dass auch Saluzzi ein »Komponist von Songs aus dem Innern« ist. Das bezieht sich nicht nur auf die Tatsache, dass der Geburtsort Saluzzis in dem argentinischen »Hinterland« liegt, sondern vielmehr darauf, dass die Musik aus seinem Inneren fließt. Albores stellt ein homogenes Werk dar, in dem die Stücke von persönlichen Erinnerungen genährt werden, um von einem Leben zu zeugen, dass wiederum auch in Zusammenhang mit dem Schicksal anderer Menschen steht und sich aus der Geschichte eines Landes ergibt. Obwohl in Saluzzis umfangreichem Œuvre und im besonderen Fall Albores die Vergangenheit das Rohmaterial des musikalischen Ausdrucks darstellt, gelingt es dem Bandoneonisten, die Erzählung lebendig zu halten: Saluzzi lässt die Vergangenheit wieder aufleben, indem er ihr seine Stimme leiht – ohne jedoch in Melancholie zu verfallen. Es ist ansonsten eine Leistung, dass dies technisch in der Aufnahme festgehalten werden konnte, in der beispielsweise das Zupfen der Tasten und das »Atmen« der Blasebälge ebenso wichtig sind wie die vorgetragenen Melodien und Harmonien sowie die Pausen.
In Albores wird nicht bloß die Breite des Instrument dargelegt, sondern diese Entfaltung ist vielmehr die »natürliche« Folge des aufrichtigen Aktes der musikalischen Erzählung von Szenen aus einem Leben. In diesem Sinne kann der Titel des Albums, Albores, zwar als »Morgendämmerung« übersetzt werden, entzieht sich aber der wörtliche Übertragung und bezieht sich eher auf das mehrfache Erwachen eines Menschen zum Leben: Er beschreibt das Mysterium, dass die Geburt eines Individuums einerseits u.a. eine Synthese aus zahlreichen Geschichten, Wünschen, Werden und Traditionen ist. Andererseits ist jeder Mensch der Protagonist verschiedener »Geburten« und »Wiedergeburten« im Laufe seines Lebens. Wie der dritte Titel andeutet, lässt Saluzzi in diesem Album das Leben erzählen. Die Milonga Según me cuenta la vida führt uns zurück zu der Stimme der Tango-Legende Edmundo Rivero, die zweifelsohne in einem der vielen »Erwachen« des sechsundachtzig jährigen Komponisten präsent ist. Dies zeigt sich beispielsweise auch in Titeln wie Íntimo und grundsätzlich in Don Caye, einer Reihe von Variationen über ein Thema seines Vaters, Cayetano Saluzzi, der sein erster Lehrer auf dem Instrument war.
Interessanterweise schließt das Album nicht mit einem Abschied (es sei daran erinnert, dass der Abschied das Album eröffnet), sondern mit einer Ofrenda (Dt.: Gabe) – was sich in den andinen Kulturen, aus denen Saluzzi selbst stammt, auf ein Ritual der Danksagung an Mutter Erde bezieht. Diese Toccata erinnert zuweilen an Beethovens Adagio der Klaviersonate Opus 110. Saluzzi entfaltet das Instrument in auf- und absteigenden Skalen, wie einer, der ein Fischernetz auswirft und wieder einholt. Auch hier, wie im gesamten Album, wird deutlich, dass Saluzzi die Erinnerungsschichten sondiert, die sich in seinem Inneren festgesetzt haben. Oder anders ausgedrückt: Saluzzi extrahiert die Themen aus der umgebenden Stille, wie eins Michelangelo Buonarroti, als er den David aus dem Marmor zog und das Überflüssige entfernte.
Unter anderem deshalb stellt Albores nicht nur eine Bandoneon-Meisterklasse dar, sondern zeigt uns auch, wie sich der Musiker in den Dienst der Musik stellt, um sich zu erinnern und auszudrücken, was wir sind und woher wir kommen. In Albores klingt Saluzzi wieder einladend wie in einer brüderlichen Umarmung und bezeugt immer wieder mit Herz und Transparenz. Das Werk beweist nicht nur, dass dieses Album allein ausgereicht hätte, um einen Musiker zu weihen, sondern auch, dass wir das Privileg haben, Zeitgenossen eines der authentischsten Komponisten und Instrumentalisten unserer Zeit zu sein – und von seiner wunderbaren Musik erweckt zu werden.
Dino Saluzzi
Albores
ECM, 2020