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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Melo, Patrícia: Die Stadt der Anderen

Gabriele Eschweiler | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Am Anfang war das Wort

„It’s like a jungle sometimes

It makes me wonder

how I keep from goin‘ under“

Grandmaster Flash & The Furious Five: The Message (1982)

 

Die Anfänge unserer heutigen Megacities liegen in grauer Vorzeit. In vielen Teilen der Erde wie dem alten Mesopotamien, Ägypten, China, Südamerika u. a. legen imposante Ruinen bis heute Zeugnis ab von untergegangenen Zentren des Fortschritts und der Macht. In der Antike war Rom der erste Schmelztiegel. Im Mittelalter galten städtische Ansiedlungen als wichtige Handelszentren und – nicht nur aufgrund ihrer Wehrmauern – als geschützter und lebenswerter Raum. In der Neuzeit avancierten die Großstädte zum Hort der Gelehrsamkeit sowie höfischer und bürgerlicher Kultur. Im 18. und 19. Jahrhundert weiteten London, Paris, Sankt Petersburg, Moskau u. a. ihre unumstrittene Vorrangstellung als  europäische Hochburgen des Geisteslebens international aus.

Im urbanen Lebensraum hatte sich die arbeitsteilige Gesellschaft entwickelt, die von Historikern als die wahrscheinlich dramatischste Revolution aller Zeiten bewertet wird. Bei der nicht minder alles umwälzenden Industrialisierung ab dem späten 18. Jahrhundert verkam die Stadt zu einem bedrohlichen Dschungel und unerbittlichen Moloch, dem die Menschenwürde zum Opfer fiel.

Im Zuge der Urbanisierung rückten die großen (Industrie-)Städte als Orte der Verelendung vermehrt in den Fokus der Literatur. Mit der sozialkritischen Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845) lieferte Friedrich Engels die theoretischen Grundlagen. Charles Dickens, Victor Hugo, Honoré de Balzac, Émile Zola u. a. prangerten in ihren Romanen die großen sozialen Probleme der Zeit an. Boten die Kapitalen Großbritanniens und Frankreichs bis zur Jahrhundertwende lediglich die Kulisse für die Handlung, so stieg in der neuen Großstadtliteratur die Stadt selber zum Akteur auf wie in den bahnbrechenden avantgardistischen Meisterwerken „Ulysses“ (1922) von James Joyce, „Manhattan Transfer“ (1925) von John Dos Passos und „Berlin Alexanderplatz“ (1929) von Alfred Döblin u. a. Die Bewohner waren nurmehr Teil einer unbestimmbaren großen gesichtslosen Masse, in deren Anonymität sie in ihrer Bedeutungslosigkeit untergingen. Soziale Unsichtbarkeit in letzter Konsequenz thematisierte der US-Amerikaner Ralph Ellison in seinem Roman „Der unsichtbare Mann“ (1952) um einen namenlosen Helden.     

Mit „Die Stadt der Anderen“ (pt: Menos que um, 2022) steht Patrícia Melo ganz klar in dieser literarischen Tradition. Ihr Buch spielt in der brasilianischen Metropole São Paulo, als die Pandemie SARS Covid 2019 die ganze Welt fest im Griff hat. Die verantwortungslose Coronapolitik des damaligen Präsidenten Jair Bolsonaro gilt als ursächlich für die überproportional vielen Todesopfer im Land. In drei Teilen mit jeweils siebzehn meist sehr komprimierten Kapiteln werden in rasant alternierender Folge die Schicksale unterschiedlichster Menschen, die auf der Praça da Matriz im Herzen von São Paulo ein von Armut, Obdachlosigkeit und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Ausgrenzung bestimmtes Leben führen, schlaglichtartig beleuchtet. Die Personen, die in pikaresker Manier nur kurz anskizziert werden und nicht mehr als Stereotype verkörpern, führen allesamt einen aussichtslosen Existenzkampf am Abgrund des Lebens. Auf die bereits erlittenen Einbußen von Identitätsstiftendem wie Zuhause, sozialer Status, Arbeit, Hab und Gut folgen auf der letzten Etappe ihres Abstiegs der Verlust ihres letzten bisschen Würde, ihrer Hoffnung und schlussendlich ihres Lebens. Die Obdachlosen leben in einer  Art Parallelgesellschaft, in der die gleichen wirtschaftlichen und sozialen Regeln gelten wie in der bürgerlichen. „Die Straße war in erster Linie ein Arbeitsplatz.“ Neben der Prostitution und dem Drogenhandel ist das Sammeln und Verkaufen von recyclebaren Wertstoffen eine weitere Möglichkeit Geld zu verdienen. Gänzlich ohne ökonomischen Zwang, dafür aber obsessiv erstellt der obdachlose Schriftsteller in seinem „Heft der kategorisierten Worte“ Listen „von Ausdrücken voller natürlicher Poesie“.

Das Sammeln zählt zu den ältesten Überlebensstrategien der Menschheit. Auch Kunst und Literatur bedienen sich dieser Methode, um kulturelle(s) Wissen und Werte an die Nachwelt weiterzugeben. Der wissenschaftliche Umgang mit dem zusammengetragenen Material besteht im Katalogisieren, Ordnen und dem evaluierenden Klassifizieren. In der Weltliteratur spielen Listen seit der Antike eine wichtige Rolle. In der klassischen Rhetorik wird die Kunst des Aufzählens (enumeratio) begründet. Poetische Listen finden sich insbesondere in den modernen und postmodernen Werken von Gustave Flaubert, James Joyce, Jorge Luis Borges, Georges Perec, Julian Barnes u. a.

In Patrícia Melos Roman, in dem keine der austauschbaren Figuren im Vordergrund steht, genießt einzig und allein die Sprache Heldenstatus. Die Macht des Wortes wird auf verschiedenen Handlungsebenen gezeigt. Da sind Menschen, die wie der Rapper ZJ ihre Klagen und Visionen von einer besseren Welt ertönen lassen, Agitatoren, die in glühenden Reden oder journalistischen Arbeiten aufklären und zum Handeln anfeuern, religiöse Fanatiker, die mit Hilfe der Heiligen Schrift Menschen auf den rechten Weg zurückführen möchten sowie Angehörige staatlicher Institutionen, die es sich leisten können Recht und Ordnung mittels Drohungen und manipulativem Verhalten durchzusetzen.       

Der obdachlose Schriftsteller ist ebenfalls von der biblischen Vorherrschaft der Buchstaben überzeugt. „Bevor die Menschen, die Dinge, das Leben sich vor seinen Augen scheibchenweise entfalteten, vor alledem kamen die Wörter. Das Wort. Es waren die Worte, die über die Schöpfung, die Ideen, die Geschichten bestimmten. Die Menschen, die Dinge und selbst die Natur waren nur Aufhänger für die Worte.“

 

Patrícia Melo

Die Stadt der Anderen

Unionsverlag, Zürich 2024

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