Víctor Jara wurde vor 50 Jahren, am 16. September 1973, in Santiago de Chile von den Putschisten, die fünf Tage zuvor den Vorsatz von General Augusto Pinochet, dass die Demokratie hin und wieder in Blut gebadet werden müsse, in die Tat umgesetzt hatten, brutal ermordet. Auf Einladung des Leipziger Felsenkellers sowie mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der „Jungen Welt“ hatten seine Tochter Amanda und ihre musikalische Begleiterin Yolanda Marvel die Gelegenheit, in sechs deutschen Städten an sein Leben und Wirken zu erinnern. Neben Frankfurt am Main, Hamburg, Chemnitz, Berlin und Cottbus waren sie am 22. September auch in Leipzig zu Gast. Wie bei den fünf anderen Veranstaltungen war auch hier der Saal ausverkauft. Dass das Programm den geplanten zeitlichen Rahmen deutlich sprengte und die zahlreichen Gäste fast dreieinhalb Stunden mit ungebrochenem Interesse dem gelungenen Mix aus Gespräch und Musik folgten, dürfte aber wohl eine Leipziger Besonderheit gewesen sein. Bereits bei der inhaltlichen und organisatorischen Vorbereitung, die maßgeblich in den Händen von Volker Külow lag, war klar geworden, dass Leipzig auf sehr spezifische Weise mit den damaligen Ereignissen in Chile verbunden war.
Bereits in den drei Jahren der Regierung der Unidad Popular (1970-1973) hatten sich die Beziehungen zwischen dem südamerikanischen Land und der DDR deutlich intensiviert. Es waren Jahre des Aufbruchs und der Hoffnung, die durch den Putsch vom 11. September 1973 abrupt beendet wurden. Aus Trauer und Schmerz entstand eine breite Welle der Solidarität. Wie andere Länder auch, nahm die DDR zahlreiche Menschen aus Chile auf, die vor der Pinochet-Diktatur fliehen mussten. Unter Leitung der Professoren Manfred Kossok und Eberhardt Hackethal entstand 1974 das Lateinamerika-Seminar (LAS), das an der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität angesiedelt war. Hier bot sich Politikern, Wissenschaftlern und Studenten, die vor allem mit der Kommunistischen Partei Chiles verbunden waren, die Gelegenheit, Lehren aus der Niederlage des demokratischen Weges zum Sozialismus zu ziehen und Strategien des Widerstandes gegen die Diktatur zu diskutieren.
Der Abend mit Amanda Jara bot die Möglichkeit, auf dieses fast vergessene Erbe der Solidarität mit dem chilenischen Volk aufmerksam zu machen. Zuvor aber standen die Erinnerungen an Víctor Jara, die hoffnungsvollen Jahre des revolutionären Aufbruchs und die bittere Zeit des Exils im Zentrum des Gesprächs, das von Volker Külow mit feinem Gespür für die angesprochenen Themen moderiert wurde. Nach diesen thematischen Blöcken – jeweils durch Lieder von Víctor Jara eingeleitet und wunderbar vorgetragen von Yolanda Marvel – wurde der Fokus der Diskussion erweitert. Im letzten Drittel des Programms ging es vor allem um die aktuelle Entwicklung in Chile und die Rolle, die das bereits erwähnte LAS bei der Organisierung des Widerstandes gegen die Diktatur gespielt hatte. Es war ein Glücksfall, dass Vania Amigo, die schon an der Vorbereitung und Durchführung der Leipziger Veranstaltung mitgewirkt hatte, an dieser Stelle ihre persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen einbringen konnte. Während Amanda, die als Neunjährige mit Mutter und Schwester ins englische Exil flüchten musste, noch die Zeit unter Allende miterlebt hatte, kam Vania 1974 in der DDR zur Welt. Ihre noch jungen Eltern waren ebenfalls vor der Diktatur geflohen und hatten später im LAS mitgearbeitet. Ihr Vater Sergio Amigo hatte 1981 an der Karl-Marx-Universität Leipzig seine Diplomarbeit über die Rolle der katholischen Kirche in Lateinamerika verteidigt und ist dann 1989 mit seiner Familie nach Chile zurückgekehrt. Inzwischen lebt und arbeitet Vania Amigo wieder in Leipzig. Mit ihrer persönlichen Perspektive hat sie nicht nur die Debatte über Chile bereichert, sondern auch dazu beitragen, das Schicksal der Exilanten zwischen drei Welten – Chile im Aufbruch, Putsch und Exil, Rückkehr nach 15 Jahren – besser fassbar zu machen. Zusammen mit Amanda, deren Beiträge von Vania einfühlsam übersetzt wurden, vermittelten sie dem Publikum sehr persönliche Einsichten in das harte, oft zerrissene Leben der Menschen, die um des eigenen Überlebens willen aus ihrer Heimat flüchten müssen.
Bei der Frage „was bleibt?“ ging der Autor dieser Zeilen, der ebenfalls am letzten Teil der Podiumsdiskussion teilnahm, zunächst näher auf die Arbeit des LAS ein. Dessen Kennzeichen waren die schöpferische Verbindung von Wissenschaft und Politik, von Erfahrung und Neuland. Im Rahmen des LAS konnten sich gerade die Jungen akademisch bilden (Diplomarbeiten und Dissertationen) und zugleich mit politisch Erfahrenen (darunter auch ehemalige Minister) ihre Erkenntnisse austauschen. Innovativ war die Leipziger Gruppe (span.: grupo de Leipzig) besonders in der Debatte um die neuen Strategien des Kampfes gegen die Diktatur. Hier wurden wichtige Beiträge zur Strategie der Volksrebellion (Política de Rebelión Popular de Masas) erarbeitet und diskutiert. Für die beiden Leiter des LAS, Manfred Kossok und Eberhardt Hackethal, ging die Zusammenarbeit mit den chilenischen Genossen und Genossinnen weit über das übliche akademische Engagement hinaus. An dieser Stelle sei auf den Anteil verwiesen, den Eberhardt Hackethal an der Ausschleusung des Generalsekretärs der Sozialistischen Partei Chiles, Carlos Altamirano, hatte, dem nach dem Putsch nur die Flucht über die Anden nach Argentinien blieb.
Im Schlussteil ging es um die gegenwärtige Situation in Chile. Dort hatte sich im Ergebnis eine Rebellion der Massen gegen das herrschende neoliberale Modell im Oktober 2019 ein Prozess entwickelt, der die Ausarbeitung einer neuen Verfassung zum Ziel hatte. Am 4. Juli 2022 übergaben die Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung den fertigen Entwurf, über den dann am 4. September in einem Referendum abgestimmt wurde. Mit einer sozialen, feministischen, ökologischen und plurinationalen Ausrichtung sollte das Fundament für den Umbau der Gesellschaft nach solidarischen Prinzipien gelegt werden. Die Rechte führte eine harte Kampagne gegen den neuen Verfassungstext, der von einer deutlichen Mehrheit (62 Prozent) mit Rechazo (dt.: Ich lehne ab) abgewiesen wurde. Wie ist nach so viel Kampf und Enthusiasmus eine derartige Niederlage zu erklären? Um diese Frage drehte sich die abschließende Diskussion. Neben eigenen Fehlern (Unterschätzung des Einflusses und der Macht der Gegner des Verfassungsentwurfs, zu geringe Mobilisierung der „einfachen Leute“) wurde vor allem das langfristig fortwirkende Erbe Pinochets (die Verbindung von Militärdiktatur und Neoliberalismus) für die erneute Niederlage verantwortlich gemacht. Trotz alledem! – Diesem Motto Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts, die beide eng mit der Geschichte der Arbeiterbewegung Leipzigs verbunden sind, folgten mit Blick auf die Zukunft auch die Teilnehmer der Podiumsdiskussion. Die passenden Worte fand Amanda mit dem Satz der argentinischen Mapuche-Sängerin Beatríz Pichi Malen, die sie persönlich kennt und sehr schätzt: „Víctor Jara wurde nicht getötet, er wurde gesät.“ Diese Saat weiter zu pflegen, begreift Amanda als Lebensaufgabe. Die Veranstaltungen in Leipzig und den fünf anderen Städten bilden forthin einen unvergesslichen Teil davon.
Bildquellen: [1, 3-7] Quetzal-Redaktion, gc [2] Quetzal-Redaktion, tz [8] Vania Amigo