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Der Fall Pinochet

Mechthild Lauth | | Artikel drucken
Lesedauer: 14 Minuten

Ein Erfolg für den Kampf gegen die Straflosigkeit

Der Fall Pinochet war und ist nach wie vor in vielerlei Hinsicht interessant und bemerkenswert. Insbesondere im Bereich des internationalen Strafrechts hat er bereits jetzt wesentliche Akzente gesetzt. Es wurde zum ersten Mal bewiesen, daß eine Strafverfolgung über staatliche Grenzen hinweg nicht nur durch die ebenfalls noch im Entstehen befindlichen Modelle der internationalen Tribunale, sondern auch durch die nationalen Gerichte anderer Staaten als derjenigen, deren Staatsangehörigkeit die Täter besitzen, zumindest grundsätzlich möglich ist. Andererseits verdeutlichen Bezeichnungen wie „der Fall Pinochet – Zwischenfall oder Präzedenzfall“ die Ambivalenz und Skepsis, mit der diesem Fall vor allem auch in Fachkreisen begegnet wird. Die Reichweite der Problematik wird am Beispiel des internationalen Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie schwierig es selbst für ein mit einem Mandat ausgestattetes internationales Tribunal ist, Verfahren gegen Staatsoberhäupter anzustrengen. Die Anklagen der früheren bosnischen Serbenführer Karadzic und Mladic sowie die Anklage gegen Milosevic* durch dieses Tribunal sind zwar ein erster Ansatz, bei der praktischen Durchführung der Verfahren aber stößt auch dieses Tribunal immer wieder an die Grenzen des politisch Machbaren.

Es scheint mittlerweile gefestigte Rechtsprechung, insbesondere von internationalen Gerichtshöfen, zu sein, daß Staaten im Falle von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen die Verpflichtung trifft, diese Straftaten aufzudecken, zu verfolgen und auch vor Gericht zu verhandeln. In diesem Zusammenhang ist von besonderem Interesse das Urteil des interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Velasquez-Rodriguez, in dem bereits im Jahre 1988 eine derartige Verpflichtung für Staaten ausgesprochen wurde. Nach diesem Urteil trifft Staaten die Verpflichtung, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, sie zu untersuchen und zu bestrafen, falls sie dennoch begangen werden. Das Verschwinden und der vermutliche Mord an einem jungen Studenten, Velasquez-Rodriguez, im Jahre 1980 in Honduras und das diesbezügliche Urteil, daß die Angehörigen des Opfers erwirkten, war der Anfang einer Reparationspolitik in Lateinamerika. Als Honduras sich weigerte, das Verschwinden des jungen Mannes zu untersuchen, wurde offensichtlich, daß dieses Verschwinden dem Staat zugerechnet werden konnte, woraufhin Honduras vor den interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht wurde. In mehreren Entscheidungen entschied der interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte, daß Honduras die amerikanische Menschenrechtskonvention verletzt hatte und daß diese Staaten eine Pflicht haben, eine Verletzung der durch die Konvention garantierten Rechte zu verhindern, zu untersuchen und zu bestrafen. Darüber hinaus entschied der Gerichtshof, daß – wann immer diese Rechte verletzt waren – die Staaten zur Entschädigung der Opfer verpflichtet sind. Vor dem Hintergrund der zahlreichen in Lateinamerika ausgesprochenen Amnestien war die Botschaft des Velasquez-Rodriguez-Urteils eindeutig, indem es den Staaten eine klare Verpflichtung auferlegte, Strafverfahren in Fällen von schweren Menschenrechtsverletzungen durchzuführen. Eine Anklage und eventuelle Verurteilung Pinochets stünde daher in Einklang mit diesen Grundsätzen.

Auch wenn die abschließende Beurteilung des Falles Pinochet angesichts der mehrfachen „Rückschläge“, die er während seines Verlaufs erlitten hat und vor allem auch angesichts dessen, daß eine endgültige Entscheidung – sei es durch ein rechtskräftiges Urteil oder einen endgültigen Abschluß des Verfahrens ohne Gerichtsprozeß -schwierig bleibt, so bleibt doch der Eindruck bestehen, daß er maßgebliche Anstösse für die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen und damit für den internationalen Menschenrechtsschutz insgesamt geliefert hat. Insbesondere wurde deutlich, daß gerade das immer wieder von der Verteidigung sowie von Pinochet selbst bemühte Argument, Staatsoberhäupter genössen bei der Ausübung ihrer Ämter sozusagen sowohl innerhalb als auch außerhalb des eigenen Staates umfassende Immunität, die sie weltweit vor Strafverfolgung schütze, zumindest in dieser Weitreiche nicht mehr haltbar ist. Fraglich ist allerdings, ob bzw. inwieweit diese Grundsätze bereits dem geltenden Völkerrecht zuzurechnen sind.

Fraglich bleibt darüber hinaus, inwieweit der Fall Pinochet tatsächlich positive Ausstrahlungswirkungen, vor allem auf dem gesamten lateinamerkanischen Kontinent, haben wird. Straflosigkeit, in diesem Zusammenhang verstanden als die Nichtverurteilung bzw. in der Regel bereits das Nicht-unter-Anklage-Stellen von notorischen Menschenrechtsverletzern, ist insbesondere in Lateinamerika ein altbekanntes Phänomen. Hervorgerufen durch verschiedene Generalamnestien, die z.T. mit der politischen Sach- bzw. Zwangslage begründet wurden, z.T. als – wie z.B. in Argentinien – wirksamer „Schlußstrich“ verstanden wurden, verschärft die Straflosigkeit die tiefsitzende Resignation der Opfer von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und ist insbesondere auch im Hinblick auf die fehlende Abschreckungswirkung, die Gerichtsverfahren und Strafurteilen regelmäßig innewohnt, problematisch. Daher ist ein diesbezügliches Umdenken und die – wenn auch verspätetete – Aufarbeitung von schweren Menschenrechtsverletzungen erforderlich. In diesem Zusammenhang ist das Verfahren gegen Pinochet – unabhängig von seinem tatsächlichen Ausgang – bereits im Ansatz durchaus positiv zu bewerten.

Die in der Sache Pinochet ergangenen Urteile und sonstigen Entscheidungen sind mittlerweile recht unüberschaulich geworden. Dennoch soll hier versucht werden, einen kurzen Überblick über dieses Verfahren zu geben und zu untersuchen, inwieweit dieses tatsächlich eine Abkehr von der bisher weit verbreiteten Praxis der Straflosigkeit darstellen kann.

Am 17. Oktober 1998 wurde General Augusto Pinochet in London, wo er sich anläßlich einer medizinischen Behandlung aufhielt, unter Hausarrest gestellt, weil gegen ihn ein Haftbefehl des spanischen Untersuchungsrichters Garzon vorlag. Auf die von Pinochet daraufhin mit der Begründung, er genieße diplomatische Immunität und könne daher von einem ausländischen Gericht nicht zur Rechenschaft gezogen werden, eingelegten Rechtsmittel entschied das britische House of Lords, seine diplomatische Immunität aufzuheben. Der Auslieferung des Ex-Diktators nach Spanien stand nun eigentlich nichts mehr im Wege. Dennoch konnte Pinochet kurz darauf die Heimreise nach Chile antreten, da ein Gutachten britischer Ärzte ihm bescheinigte, daß er geistig nicht in der Lage sei, einem Prozeß zu folgen, da sein Erinnerungsvermögen stark beeinträchtigt sei und er den Inhalt und die Bedeutung der Fragen, die ein Gericht ihm stellen würde, voraussichtlich nur mit Mühe begreifen könne. Dieses Gutachten war zwar nicht unumstritten, insbesondere hatten die Regierungen Belgiens, Frankreichs, der Schweiz und Spaniens Einwände dagegen vorgebracht, es war aber letztendlich die entscheidende Grundlage für die Entscheidung des britischen Innenministers Jack Straw, den Ex-Diktator freizulassen und nicht nach Spanien auszuliefern. Kurz darauf konnte Pinochet die Heimreise nach Chile antreten.

Von besonderem Interesse sind daher hier vor allem die Entscheidungen der chilenischen Justiz. Nach der Rückreise Pinochets nach Chile verbreitete sich die nicht ganz unberechtigte Befürchtung, daß das Kapitel der Verurteilung Pinochets zum Unmut aller Opfer und Menschenrechtsorganisationen nun abgeschlossen sei.

Die Angelegenheit entwickelte sich jedoch zunächst positiver als erwartet. Richter Juan Guzman Tapia wurde vom Obersten Gericht Chiles als Sonder-Untersuchungsrichter zur Bearbeitung des Falles Pinochet eingesetzt. Guzman hatte zunächst beantragt, die Immunität des heutigen Senators auf Lebenszeit aufzuheben, um ihn u.a. wegen neunzehn Entführungen anzuklagen, die von der sogenannten „Todeskarawane“ 1973 verübt wurden. Mittlerweile liegen Richter Guzman bereits mehr als 200 Klagen von ehemaligen Opfern oder deren Familienangehörigen vor.

Am 8. August 2000 hatte der Oberste Gerichtshof Chiles mit vierzehn zu sechs Stimmen in letzter Instanz entschieden, die Immunität Pinochets aufzuheben. Nach der in Chile als historisch empfundenen Entscheidung war von diesem Zeitpunkt an grundsätzlich der Weg frei, Pinochet wegen zahlreicher Menschenrechtsverletzungen während seiner Diktatur von 1973 bis 1990 vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen. Es muß allerdings hier betont werden, daß es sich bei dem Verfahren über die Aufhebung der Immunität nicht um einen Prozeß gehandelt hat, sondern lediglich um ein Vorverfahren. Auch muß berücksichtigt werden, daß Pinochet wegen zahlreicher während der Diktatur begangenener Menschenrechtsverletzungen höchstwahrscheinlich von vornherein nicht zur Rechenschaft gezogen werden wird, da er in den Genuß einer von ihm selbst erlassenen Amnestie für die zwischen 1973 und 1978 begangenen Verbrechen kommt.

Ein weiterer positiver Ansatz ist aber die am l. Dezember 2000 erfolgte Unterzeichnung des Haftbefehls gegen Pinochet, dessen Vollzug allerdings bereits fünf Tage später vom chilenischen Appelationsgericht wieder ausgesetzt wurde, da das nach chilenischem Strafprozeßrecht erforderliche medizinische Gutachten nicht vorgelegen hatte.

Somit wurde dieses Gutachten zum Dreh- und Angelpunkt des Verfahrens. Eine Besonderheit des chilenischen Strafprozeßrechts liegt nämlich darin begründet, daß jeder Angeklagte, der älter als 70 Jahre ist, auf seinen Gesundheitszustand untersucht werden muß. Pinochet hatte sich jedoch zunächst geweigert, sich untersuchen zu lassen. Es war daraufhin unter anderem strittig, ob die erforderliche Gesundheitsuntersuchung auch gegen seinen Willen angeordnet werden könnte. Obwohl dieses medizinische Gutachten zur Verhandlungsfähigkeit des Ex-Diktators mittlerweile vorliegt, haben die Ermittler das weitere Vorgehen im Fall des chilenischen Ex-Diktators zunächst offen gelassen. Laut Richter Guzman können die Ergebnisse des Gutachtens scheinbar unterschiedlich beurteilt werden. In dem Bericht bestätigten die Ärzte, Pinochet leide an „leichtem bis mittelschwerem Altersschwachsinn“. Nach chilenischem Recht kann Demenz zwar zur Aufhebung einer Verurteilung führen, jedoch nicht zur Unterbrechung eines bereits eingeleiteten Gerichtsverfahrens. Nach Angaben des Neurologen Jorge Ferrer waren sich die Ärzte über den Zustand Pinochets „einig“. Zu den möglichen juristischen Auswirkungen des Berichts machte Ferrer, den die Verteidigung Pinochets als Beobachter abgestellt hatte, keine Angaben. Der von der Anklage benannte Beobachter, der Neurologe Luis Fornazzari, betonte dagegen, leichter Altersschwachsinn hindere Pinochet nicht daran, vor Gericht zu erscheinen.

Nachdem nun erneut Anklage gegen Augusto Pinochet erhoben und dieser unter Hausarrest gestellt wurde, erwägen dessen Anwälte nunmehr den Gang vor den Obersten Gerichtshof. Anwalt Pablo Rodriguez Grez sagte, die Verteidigung prüfe, ob sie die Anklage vor dem Berufungsgericht in Santiago anfechten oder direkt vor dem Obersten Gerichtshof Rechtsmittel einlegen werde.

Auch bleibt hier zu berücksichtigen, daß ein Verfahren – wenn es denn dazu kommen sollte -mindestens zwei Jahre in Anspruch nehmen würde, manche Juristen rechnen sogar mit einer bis zu achtjährigen Dauer. Sollte Pinochet der 19 ihm zur Last gelegten Fälle der Todeskarawane für schuldig befunden werden, so sieht das Gesetz 15 bis 20 Jahre Haft für ihn vor.

Mittlerweile liegt jedoch eindeutiges Belastungsmaterial vor, aus dem hervorgeht, daß Pinochet nicht nur von dem Vorgehen der Todeskarawane gewußt hat, sondern darüber hinaus auch den Befehl hierfür erteilt hatte. Ein handschriftliches Dokument Pinochets belegt, daß dieser entgegen seiner Aussage über die Ereignisse der Todeskarawane informiert war. Die Anwälte der Opfer beantragten die Berücksichtigung dieser Beweisstücke bei der Entscheidung über die Eröffnung des Prozesses. Den Anwälten zufolge belasten diese Pinochet so schwer, daß die Richter des Berufungsgerichtes den Antrag auf Prozeßeröffnung kaum mehr ablehnen können.

Erfreulich ist darüber hinaus, daß immer mehr Beteiligte des „Systems Pinochet“ Auskunft geben über Verbrechen während der Diktatur in Chile. So legte z.B. ein ehemaliger Agent des berüchtigten Geheimdienstes DINA, der Amerikaner Michael Townley, im vergangenen November ein Geständnis ab: Er tötete am 30. September 1974 den ehemaligen Oberbefehlshaber der chilenischen Armee und seine Frau im argentinischen Exil mit einer Autobombe. Mit Townley hatte zum ersten Mal ein Vertreter der DINA ein während der Diktatur begangenes Verbrechen gestanden. Aber auch weitere ehemalige Mitarbeiter des Regimes sagen aus: Der Direktor der bis Ende der achtziger Jahre aktiven Anti-Terror-Einheit (UAT), General Humberto Gordon, sagte im Zusammenhang mit den Ermittlungen über die Ermordung des Journalisten Jose Carrasco aus, Pinochet sei der oberste Verantwortliche der UAT gewesen. Alle acht in diesem Fall Verdächtigen gehörten der UAT an. Außerdem bekannte der Anwalt eines des Mordes an dem Gewerkschaftsführer Tucapel Jiminez beschuldigten Unteroffiziers, sein Klient wisse, wer den Gewerkschaftsführer ermordet habe, doch aus Loyalität gebe er den Namen nicht preis. Der Unteroffizier gehörte dem Heeres-Geheimdienst DINE an. Die Anwälte der Angehörigen des Ermordeten werteten diese Ausage als das erste Eingeständnis, daß auch der Heeres-Geheimdienst gemordet hat. Es scheint somit eindeutig: Ob DINA, UAT oder DINE, laut General Gordon hieß der oberste Chef immer Pinochet.

Interessant ist schließlich auch, daß immer mehr amerikanische Geheimdokumente, darunter zahlreiche aus den Archiven des Geheimdienstes CIA, zur Veröffentlichung freigegeben werden, die illustrieren, wie die Amerikaner das Terrain für den Sturz des sozialistischen Allende-Regimes in Chile und den Putsch Pinochets vorbereitet hatten. Vor allem aber geht aus diesen Dokumenten eine indirekte Involvierung General Pinochets bei der Ermordung des sozialistischen chilenischen Außenministers Orlando Letelier hervor. Wenige Tage vor der Ermordung Leteliers am 11. September 1976 in Washington soll Pinochet auf Grund dieser Unterlagen persönlich den paraguayischen Diktator Alfredo Stroessner angerufen und ihn gebeten haben, den beiden chilenischen Geheimdienstagenten Michael Townley und Armando Ferndández Larios im Hinblick auf den Mordanschlag falsche Pässe bereitzustellen. Außerdem belegen die Dokumente, daß die CIA mindestens seit 1976 über die mörderischen Aktivitäten der internationalen „Operación Condor“ gegen Oppositionelle informiert war. Die CIA hatte seit Beginn der siebziger Jahre die Opposition gegen die Regierung Allende finanziell unterstützt und auf Befehl des damaligen amerikanischen Präsidenten systematisch Maßnahmen zur Destabilisierung der chilenischen Wirtschaft eingeleitet. In einem Memorandum des damaligen Sicherheitsberaters Kissinger an Nixon vom 17. September 1970 ist die Rede von einem „geheimen Aktionsplan“ gegen die Regierung Allende. Aus den Dokumenten soll zudem hervorgehen, daß eine rechtsextreme chilenische Gruppe, die mit dem Geheimdienst CNI (Centro Nacional de Informaciones) verbunden war, die Ermordung des ersten demokratischen Präsidenten nach der Pinochet-Ära, Patricio Aylwin, geplant hatte. Das Attentat hätte bezweckt, die Demokratisierung in Chile zu unterminieren. Auch diese Unterlagen könnten einen Prozeß gegen Pinochet stark beeinflussen.

Die bisher von chilenischen Gerichten in der Sache Pinochet ergangenen Entscheidungen werden bereits jetzt als ein Erfolg für die Unabhängigkeit der chilenischen Justiz gewertet. Allerdings ist es insbesondere dem Mut und der Hartnäckigkeit einiger weniger Juristen, insbesondere Richter Guzman, zu verdanken, daß das Verfahren diesen Verlauf genommen hat. Wie weit ihr Einfluß und ihre Möglichkeiten nun konkret reichen, bleibt abzuwarten.

Auch Gerichte anderer lateinamerikanischer Länder beschäftigen sich mit der Aufarbeitung der Verbrechen, die während Pinochets Diktatur begangen wurden. So hat am 21. November 2000 ein Gericht in Buenos Aires den ehemaligen chilenischen Geheimdienstagenten Enrique Arancibia Clavel zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Mehrheit der Richter sah es als erwiesen an, daß Arancibia Clavel an der Ermordung des ehemaligen chilenischen Armeechefs Carlos Prats in Buenos Aires im Jahr 1974 beteiligt gewesen war. Prats war bis zum Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende im September 1973 durch Augusto Pinochet Chef der chilenischen Streitkräfte. Nach dem Putsch trat er von seinem Posten zurück und ging ins Exil nach Argentinien. Gleichzeitig hatten die Richter in diesem Fall auch die Auslieferung Pinochets, der den Befehl zur Ermordung Prats erteilt haben soll, beantragt. Dieses Vorgehen der argentinischen Justiz erscheint insbesondere vor dem Hintergrund interessant, daß Argentinien und Chile, zumindest in der Operation Condor, in der Regimegegner auch außerhalb der Länder aufgespürt, gefoltert und eliminiert wurden, kooperiert hatten.

Nicht nur durch die sicherlich als positiv zu bewertenden gerichtlichen Entscheidungen, die kürzlich in der Sache Pinochet und einiger seiner Komplizen ergangen sind, sondern auch durch weitere Einrichtungen, die sich mit der Aufarbeitung und Dokumentierung der unter den Militärdiktaturen begangenen Menschenrechtsverletzungen schon vor längerer Zeit befaßt haben, sind konkrete Erfolge im Kampf gegen die Straflosigkeit in Lateinamerika zu verzeichnen. Insbesondere die chilenische Wahrheitskommission hat hier eine Pionierrolle übernommen, wenngleich sie auch nicht die allererste nach diesem Modell eingerichtete Kommission war. In den folgenden Jahren haben weltweit andere Länder, die sich der Frage nach der Auseinandersetzung mit vergangenen Menschenrechtsverletzungen stellen mußten, insbesondere die argentinische und die chilenische Wahrheitskommission als Vorbild genutzt und ähnliche, auf die jeweiligen Gegebenheiten zugeschnittene Modelle eingerichtet. Das wohl bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungeskommission, bei deren Einrichtung auf die Probleme einiger lateinamerikanischer, insbesondere der chilenischen, Kommissionen Bezug genommen wurde und versucht wurde, einerseits die Unzulänglichkeiten dieser Komissionen zu vermeiden, andererseits aber gerade auch die positiven Erfahrungen für die jeweiligen Länder nutzbar zu machen. Auch wenn diese, meist als Wahrheitskommissionen bezeichneten Einrichtungen, in der Regel keinerlei strafrechtliche Kompetenz bei ihrer Aufklärungsarbeit besaßen und häufig dem Vorwurf ausgesetzt waren, sie würden das Problem der Straflosigkeit sogar noch verschärfen, so sind doch auch deren Feststellungen oftmals Grundlage für Verurteilungen sowie deren Empfehlungen Ausgangspunkt für eine demokratische Konsolidierung in den jeweiligen Ländern.

Ebenso wie diese Kommissionen ihren – wenn auch kleinen, aber sicherlich nicht zu unterschätzenden – Beitrag im Kampf gegen die Nichtaufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen geleistet haben, wird auch das Verfahren gegen Pinochet, sowohl das in England geführte als auch das in Chile durchgeführte, seinen Beitrag im Kampf gegen die Straflosigkeit weltweit leisten. So hat es in ähnlich gelagerten Fällen ebenfalls bereits Versuche gegeben, ehemalige Staatsoberhäupter anderer Länder, wie z.B. im Fall des ehemaligen Diktators des Tschads, Habre, der im Senegal vor Gericht gestellt werden sollte, zu verurteilen.

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*Redaktionsschluß war am 23. Juni 2001.

Mechtild Lauth ist Assessorin und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig tätig.

Chacabuco, nach dem Militärputsch 1973 errichtetes Konzentrationslager im Norden Chiles.

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