„Volkseigentum plus Demokratie, das ist noch nicht probiert, noch nirgends in der Welt.“
Volker Braun
Einleitung
Neben der Bewertung des politischen Wirkens von Hugo Chávez erfordert auch seine Wirtschaftspolitik eine grundlegende Analyse. Denn seine offenkundige Abkehr vom Neoliberalismus und der Versuch der Errichtung des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ haben weit über die Landesgrenzen hinaus Signale an die Armen und Ausgeschlossenen gesendet. Vor allem sein Ziel, dass die Politik wieder Vorrang vor der Wirtschaft oder zumindest die Kontrolle über selbige haben müsse, bedeutet eine Neuausrichtung der nationalen Wirtschaftspolitik.
Dieses Anliegen erforderte natürlich auch ein neues ökonomisches Modell. Bereits 2001 zeichneten sich erste Eckpunkt ab: 1) Ende der Privatisierungen; 2) eine beschränkte Landreform und 3) Nutzung der Ölrenten für Sozialprogramme. Ab seiner Wiederwahl 2006 setzte er verstärkt auf die Verstaatlichung sämtlicher Schlüsselindustrien. Er lehnte jedoch – wohl mit Blick auf mögliche internationale Sanktionen gegen das Land – radikale Enteignungen, also Enteignungen ohne Entschädigungen, ab. Finanzierungsquelle für all diese Vorhaben sollten die Einnahmen aus dem Ölexport sein. Es handelt sich somit um Reformen in einer Rentenökonomie, mit dem Ziel, eine neue Wirtschaftspolitik für die Massen zu initiieren, d.h., erstmals wirklich und tatsächlich die Armen an den Erfolgen der ökonomischen Tätigkeiten teilhaben zu lassen.
Diese Schritte und Absichten allein machen allerdings noch kein tragfähiges Wirtschaftsmodell aus. Im Folgenden wird gezeigt, wie komplex eine moderne Volkswirtschaft ist und welche Hürden überwunden werden müssen, um Chávez‘ Vorstellungen eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ zu verwirklichen. Er selbst war sich wohl über einige der wichtigsten Fragen selbst nicht im Klaren:
- Wie soll die Abhängigkeit vom Ölexport durchbrochen und die Wirtschaft diversifiziert werden?
- Welche Unternehmensform soll fortan gefördert werden – staatsdirektionistisch verwaltete Betriebe oder die Arbeiterselbstverwaltung?
- Und wie nimmt die neue Wirtschaftspolitik Rücksicht auf die Umwelt?
Die folgende Analyse greift einige dieser Fragen auf. Es ist jedoch unmöglich, umfassend jeden einzelnen Punkt zu untersuchen und zu bewerten. Vielmehr geht es um die Darlegung von Hintergrundinformationen, um angesichts der weitgehend gleichlautenden Berichterstattung in den Mainstreammedien ein weiter gefasstes Bild vom politischen und ökonomischen Handeln des vormaligen Präsidenten zu erhalten.
Änderungen in der Wirtschaftsstruktur
Unbestritten wichtigster Wirtschaftssektor in Venezuela ist (und bleibt) die Rohölförderung. Etwa 95 Prozent der gesamten Exporterlöse des Landes stammen aus der Ölausfuhr. 2011 lag der Betrag bei 89 Milliarden US-Dollar. Die Einnahmen aus dem Export von Öl machen mehr als die Hälfte der Staatseinnahmen aus, was verdeutlicht, welche strategische Bedeutung diese Aktivität für die Wirtschaftspolitik von Hugo Chávez hatte. Die Ölrenten waren zugleich essentielle Finanzierungsquelle für die anvisierte Umgestaltung der Ökonomie. Strategische Wirtschaftssektoren sollten fortan unter staatlicher Kontrolle stehen. Die Verstaatlichung begann zunächst bei der Erdölindustrie. Bereits 1999 legte die neue Verfassung fest, dass die Aktien der venezolanischen Ölgesellschaft Petroleos de Venezuela Sociedad Anónima (PDVSA) zu 100 Prozent dem Staat gehören und das Unternehmen Verfassungsrang einnimmt. In seiner strategischen Ausrichtung unterlag es fortan Weisungen aus dem Energie- und Ölministerium. Anfang 2003 verstärkte der Staat durch große Umstrukturierungen die Kontrolle über die PDVSA, nachdem sich Mitarbeiter des Ölkonzerns durch ihren Streik maßgeblich am Putsch gegen Chávez im April 2002 beteiligt hatten. Knapp zwei Drittel, mithin etwa 18.000 Arbeiter, wurden entlassen und ersetzt.
Nach der Reorganisation der wichtigsten Firma in Venezuela folgten Enteignungen auch in anderen Sektoren – vor allem im Bereich der Rohstoffe wie Eisenerz, Aluminium oder Gold (u.a. Las Cristinas). Nach seiner Wiederwahl im Jahr 2006 verstaatlichte Chávez zunehmend Industriebetriebe, zunächst v.a. die Eisen- und Stahlindustrien (u.a. Matesi, Consigua, Venprecar, Tabsa, Orinoco Iron, Sidetur), die Stromversorgung (u.a. Electricidad de Caracas) und die Häfen. Zentral für seine Wirtschaftspolitik war auch die Nationalisierung der Zementindustrie (u.a. Cemex, Holcim, Lafarge), der Nahrungsmittelversorgung (u.a. Cargill, Polar) und von Keramikfirmen (u.a. Cerámicas Carabobo).
Ausländische Unternehmen wurden in der Regel für die Enteignungen entschädigt – zum Teil mit mehreren Hundert Millionen US-Dollar. Beispielsweise erfolgte die Enteignung von Ternium-Sidor für zwei Milliarden US-Dollar. Die schweizerische Zementfirma Holcim wurde mit 650 Millionen US-Dollar abgefunden, und Exxon erhielt nach einem Urteil eines internationalen Schiedsgerichts 908 Millionen US-Dollar. Zahlreiche weitere Entschädigungsverfahren laufen derzeit vor dem Schlichtungsgremium der Weltbank. Es handelt sich folglich nicht um eine „sozialistische“ radikale Verstaatlichung, sondern um eine „kapitalistische“ Enteignung.
Infolge dessen kam es unter Chávez zu einer enormen Ausweitung des Staatssektors. Allein zwischen 2007 und 2010 wurden rund 350 Unternehmen verstaatlicht. Der Staat ist heute der größte Arbeitgeber in der Industrie. Dies hat für die Arbeitnehmer zunächst einige positive Auswirkungen. Infolge des neuen Arbeitsgesetzes (Ley Orgánica del Trabajo de los Trabajadores y Trabajadoras, LOT) vom 30 April 2012 wurden deren Rechte umfassend gestärkt. Fortan sind zum Beispiel Zeitarbeit und Outsourcing untersagt, und die Wochenarbeitszeit reduziert sich auf 40 Stunden. Allerdings sind diese Reformen für die Unternehmen durch die höheren Ausgaben für den Faktor Arbeit mit hohen Kosten verbunden, was deren Effizienz schwächt und oft Verluste verursacht. Potenziert wird diese Entwicklung dadurch, dass Führungspositionen in den Firmen mit treuen Gefolgsleuten, die nicht immer die besten Fachleute waren, besetzt wurden.
Chávez hat bei diesem Prozess der Enteignungen die Chance verpasst, flächendeckend selbstverwaltete Industriestrukturen zu schaffen. Genossenschaften und Arbeiterselbstverwaltungen blieben die Ausnahme, wenngleich es einige erfolgreiche Beispiele wie die Unión Cooperativa AgroIndustrial de Cacao gibt. Die Superintendencia Nacional de Cooperativas (Sunacoop) nannte für 2008 eine Zahl von 262.904 Genossenschaften im Land. Ein gewaltiger Anstieg gegenüber den 813 eingetragenen Genossenschaften im Jahr 1999. Aber Dario Azzelini, einer der ausgewiesenen Experten auf dem Gebiet, gibt zu bedenken, dass von dieser Gesamtheit lediglich etwa 70.000 wirtschaftlich aktiv waren, davon viele als Familienbetrieb. Die Mehrheit hatte sich eintragen lassen, weil damit keinerlei Kosten und die Aussichten verbunden waren, an günstige Kredite zu gelangen oder Steuern zu sparen. Andere existierten nur auf dem Papier.
Zudem kam es immer wieder zu Konflikten zwischen den Arbeitern und der Regierung, vor allem bei enteigneten Firmen. Vielen Aktivisten negativ in Erinnerung bleibt der Fall der Papierfabrik Venepal, später umbenannt in Invepal. Nach dem Bankrott 2004 wurde das Unternehmen fast eineinhalb Jahre durch die Belegschaft besetzt gehalten. Schließlich übernahm die Regierung die Firma mit einer 51-Prozent-Mehrheit und übergab die restlichen 49 Prozent der Arbeiterschaft. Die neuen Genossen wählten in einer Vollversammlung mit 260 zu 20 Stimmen die alte Führung des Unternehmens ab und setzten gewählte Vertreter ein. Dieser Akt der Selbstverwaltung ging dem Staat jedoch zu weit. Sich auf die 51-Prozent-Mehrheit berufend, focht das Wirtschaftsministerium diesen Entscheid an, worauf der Staat die Unternehmensführung bestimmte. Ein ähnlicher Fall ereignete sich bei der Verstaatlichung der Aluminiumgesellschaft Alcasa. Anstelle von Selbstverwaltung war es der Staat, der sämtliche wichtigen Beschlüsse und Entscheidungen traf. Die Regierung trieb somit einen Keil zwischen die genossenschaftlich organisierte Belegschaft und die direktionistische staatliche Verwaltung.
Die Fortschritte von Chávez bei der Demokratisierung der Produktion sind somit als unzureichend einzuschätzen. Sein Modell erinnert eher an die bürokratische Planwirtschaft im ehemaligen Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) als an ein neues Modell von Mitbestimmungsunternehmen. Heinz Dieterich, geistiger Vater des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, stellte beispielsweise in der historisch-vergleichenden Betrachtung für die DDR und die Sowjetunion fest, dass die
„Verstaatlichung der Produktionsmittel […] das imperialistische Subjekt des Großkapitals liquidiert [hatte], doch es hatte nicht ein neues Subjekt sozialistischer Produktionsmitteleigner hervorgerufen, welches in Momenten der Krise bereit gewesen wäre, sein kollektives Produktiveigentum und die damit verbundene Produktionsweise zu verteidigen. Das neue Subjekt politökonomischen Handelns, dem die reale Verfügungsgewalt über dieses Eigentum unterlag, war eine neue Klasse oder Führungsschicht, die zu weit von den Mehrheiten entfernt war, um deren wirkliche Vorstellungen und Loyalitäten zu kennen oder aufzunehmen. […] Doch ist andererseits klar, dass die neue staatliche Eigentumsform bei Beibehaltung der zentralen Funktionsmechanismen der Marktökonomie nicht das Transformationspotential entwickeln konnte, das notwendig war, um eine qualitativ andere Produktionsweise herbeizuführen, welche die Basis eines irreversiblen neuen zivilisatorischen Systems hätte werden können. […] Die Verstaatlichung des Produktiveigentums und seine zentralverwaltungswirtschaftliche Organisation sind keine hinreichenden Mittel, um eine Ökonomie aufzubauen, die im Sinne politisch-ökonomischer Wissenschaft als sozialistische zu bezeichnen ist“ (Dieterich, H., Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, 2006, S. 183-184).
Diese Neuausrichtung der internen Wirtschaftsstruktur hin zu Staatsdirektionismus statt Selbstverwaltung wird begleitet von einem zweiten, vielleicht sogar viel größerem Versäumnis: Es ist Chávez nicht gelungen, die Wirtschaft zu diversifizieren. Im Gegenteil, Venezuela ist noch stärker als früher abhängig von einem einzigen Sektor – dem Ölexport.
Eine detaillierte Analyse von dessen Entwicklung folgt weiter unten. Hier ist zunächst von Bedeutung, dass Venezuela damit seinen ‚Ressourcenfluch‚ nicht ablegen konnte und in absehbarer Zeit auch nicht ablegen wird. Dies bedeutet, dass Venezuela, bedingt durch den Reichtum an natürlichen Ressourcen (in dem Fall Öl), international an Wettbewerbsfähigkeit verliert, da sich durch den ständigen Aufwertungsdruck infolge der Devisenerlöse der Wert der Währung von der internen Produktivitätsentwicklung löst. Dieses Phänomen bezeichnet man als „Holländische Krankheit“ (Dutch Disease). Die Folge sind relativ geringe Wachstumsraten und – viel gravierender – die Konzentration der Wirtschaft auf eine kapitalintensive und produktive Enklave, die Ölproduktion, während andere Industriezweige bankrott gehen, weil sie mit den Preisen von importierten Waren nicht mehr konkurrieren können. Der Enklavencharakter zeigt sich auch bei der Mitarbeiterzahl. PDVSA beschäftigt etwa 120.000 Männer und Frauen; die Gesamtzahl der arbeitsfähigen Bevölkerung beläuft sich dagegen auf knapp 1,2 Millionen.
Welche Möglichkeiten boten sich nun Chávez, um die „Holländische Krankheit“ zu bekämpfen. Es gibt viele Ansätze, z.B.:
- Subventionen im Industriesektor, um die Diversifizierung voranzutreiben,
- Importbeschränkungen für Industriegüter (mit dem gleichen Ziel),
- eine Abwertung der Währung, um bei der Industrieproduktion international wettbewerbsfähig zu bleiben,
- wofür wiederum die Nahrungsmittelselbstversorgung gewährleistet sein muss, um hohe Devisenabflüsse für diese Basisgüter zu vermeiden,
- eine konservierende Förderpolitik, was den Fokus auf die Entwicklung einer diversifizierten Wirtschaft legt und die natürlichen Ressourcen (vorerst) nicht oder in vermindertem Maße ausbeutet (wie z.B. das ITT-Projekt in Ecuador), oder
- die Anlage der Öleinnahmen im Ausland (analog dem norwegischen Ölfonds), um einer Aufwertung der Währung entgegenzuwirken, ein (kurzfristiges) Überhitzen der inländischen Wirtschaft zu vermeiden und Rücklagen zu bilden.
Einige dieser wirtschaftspolitischen Maßnahmen wurden unter Chávez zumindest teilweise versucht umzusetzen. Im Januar 2010 wertete Venezuela in einem Doppelkurssystem seine Währung gegenüber dem Dollar ab. Mit diesem Schritt war jedoch nicht angedacht, die Exportsektoren zu stärken – außer Öl gibt es keine nennenswerten –, sondern die Verzerrungen zwischen beiden Währungen aufgrund unterschiedlicher Inflationsraten auszugleichen.
Andere Maßnahmen sind von vornherein als kontraproduktiv zu bezeichnen. Anstelle zum Beispiel Basislebensmittel zu subventionieren, wäre es sinnvoller gewesen, eine leistungsfähige Landwirtschaft aufzubauen, um die starke Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten (siehe unten) zu durchbrechen.
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Bildquellen: [1], [2] Ministerio del Poder Popular para la Comunicación y la Información Venezuela; [3] Aporrea.org, Gonzalo Gómez; [4] Agencia Brasil, Divulgacao Petrobras
Teil 2 des Textes finden Sie hier.