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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Land der Kontraste

Sonja Heidegger | | Artikel drucken
Lesedauer: 4 Minuten

Einerseits leben 80 Prozent der Venezolaner/innen in Armut und etwa 40 Prozent davon unter dem Existenzminimum, obwohl ihr Land reich an natürlichen Ressourcen ist. Auf der anderen Seite versickerten die Einnahmen des drittgrößten Erdölexporteurs jahrzehntelang in einem System von Vetternwirtschaft, Korruption und Willkür, Verschwendung, massiver Steuerhinterziehungen, Subventionen und Privilegien. Erst die Wahlen von 1998 markierten den Niedergang der beiden Traditionsparteien Acción Democrática (AD) und Comité de Organización Política Electoral Independiente (COPEI), die das politische Panorama über einen Zeitraum von 40 Jahren dominierten. Deren Misswirtschaft und Korruption führten neben steigender Armut zu einer drastischen Verschlechterung der elementaren staatlichen Dienstleistungen und des Gesundheits-, Erziehungs- und Justizwesens.

Venezuelas derzeitiger linksnationaler Präsident Hugo Chávez kündigte 1998 im Wahlkampf an, das alte, korrupte politische System zu zerschlagen, die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich zu beseitigen und ein „humanes Wirtschaftssystem“ (staatsgelenkte Wirtschaftspolitik statt Neoliberalismus) aufzubauen. Zu Beginn seiner Regierungszeit hatte Chávez einen Rückhalt in der Bevölkerung wie kaum ein anderer Präsident seit Venezuelas Unabhängigkeit. Insbesondere die verarmten Gesellschaftsschichten, also ein Großteil des Volkes, sahen in dem charismatischen Caudillo die letzte Hoffnung. Doch entgegen seiner Versprechungen gelang es Chávez nicht, den Reichtum aus der Ölförderung der gesamten Bevölkerung zugute kommen zu lassen. Vielmehr wurde die Ansammlung von Machtbefugnissen und Sondervollmachten, mit denen Chávez am Parlament vorbei Gesetze verabschieden lassen kann, im Ausland zunehmend kritisch beobachtet. Vor allem die USA verärgerte er mit seinen engen Kontakten zu Kuba, Libyen und zum Irak. Durch die aktive Rolle Venezuelas im kolumbianischen Friedensprozess wird dem Land von politischen Gegnern außerdem Nähe zu der linken Guerilla der FARC und ELN vorgeworfen. Nachdem Chávez mit Blick auf die bevorstehende Bombardierung Afghanistans dazu aufrief, Terror nicht mit noch mehr Terror zu vergelten, zog Washington vorübergehend seinen Botschafter aus Venezuela ab. Kurz darauf trafen sich Anfang November letzten Jahres Vertreter der „National Security Agency“ aus dem Pentagon und dem US-Außenministerium zu Beratungen über die Venezuela-Politik der USA. Ähnliche Besprechungen gab es auch 1953, 1963 und 1973, unmittelbar vor den Militärputschen im Iran, dem Vietnamkrieg und der Machtübernahme des Diktators Pinochet in Chile. Das Weiße Haus wies indessen zurück, den Militärputsch gegen Chávez befürwortet zu haben.

Nachdem Chávez im April versucht hatte, durch eine Auswechslung der Führungsriege das staatseigene, aber unabhängig agierende Erdölunternehmen Petroleos de Venezuela S. A. (PdVSA) unter seine direkte Kontrolle zu bringen, traten die Arbeiter des Unternehmens in den Streik. Im Anschluß daran riefen der Gewerkschaftsdachverband CTV und der Arbeitgeberverband zum Generalstreik auf, mit dem die größten Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen gegen die Personalpolitik in der staatlichen Ölindustrie protestieren wollten. Die Gewalt brach am dritten Tag des Generalstreiks bei einer Großdemonstration in der Hauptstadt aus. Polizisten und bewaffnete Anhänger des Präsidenten schossen auf die Demonstranten. Dabei wurden nach Angaben der Behörden mindestens 13 Menschen getötet und mehr als hundert verletzt. Die Militärführung gab dem Präsidenten die Schuld an den Todesopfern und forderte ihn zum Rücktritt auf. Große Teile der Armee schlossen sich der Opposition, einem diffusen Bündnis aus Großunternehmern, rechten Gewerkschaften und Funktionären der traditionellen Parteien, an, so dass Chávez schließlich unter dem Druck des Militärs gestürzt wurde. Daraufhin übernahm die vom Militär eingesetzte Übergangsregierung, unter der Leitung des Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Fedecámaras, Pedro Carmona, die Führung des Landes. Carmona wollte alles auf einmal: die Auflösung des Parlaments, des Obersten Gerichtshofs und der Nationalen Wahlkommission. Die neue Verfassung von 1999 sollte ab sofort nicht mehr gelten. Gleichzeitig kam es in praktisch allen Stadtbezirken von Caracas, vor allem in den Slums, zu spontanen Protesten und Demonstrationen gegen den Sturz von Chávez. Nachdem klar geworden war, dass die Unterstützung in der Bevölkerung für Chávez viel größer war als erwartet, schlossen sich verschiedene Militäreinheiten dem Protest an. Das Übergangsregime verlor schnell den breiten Rückhalt der Armee, Carmona trat zurück und Chávez übernahm die Präsidentschaft erneut. Die turbulenten Ereignisse illustrieren, dass die venezolanische Armee entgegen anderen lateinamerikanischen Ländern enge Bindungen an die Bevölkerung hat und wie alle Einwohner/innen des Landes tief in zwei gegensätzliche Lager gespalten ist.

Die gesellschaftliche Polarisierung spiegelt sich auf ökonomischer und politischer Ebene wider. Bereits im Dezember sorgte ein Gesetzespaket, das unter anderem eine Landreform vorsieht, für innenpolitischen Konfliktstoff. Dem neuen Agrargesetz nach soll der Landbesitz begrenzt und damit staatliche Enteignung ermöglicht werden. Begründet wird das Vorhaben mit den Besitzverhältnissen: Ein Prozent der Bevölkerung besitzt 60 Prozent des kultivierbaren Landes. Die Präsidenten der beiden größten Agrarverbände bezeichneten das Gesetz als marxistisch. Nicht zuletzt der Widerstand der Oligarchie, Reformvorhaben zugunsten sozialer Gerechtigkeit durchzusetzen, sorgt dafür, dass von den sozialrevolutionären Ankündigungen des Präsidenten außer einem absoluten Machtanspruch tatsächlich nicht viel übrig geblieben ist.

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