Quetzal Vogel
News Icon
Quetzal

Politik und Kultur in Lateinamerika

Template: single_normal
Artikel

Zum Tod von Henry Kissinger. Was ist und wohin führt Realpolitik?

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Am 29. November 2023 verstarb Henry Kissinger im Alter von 100 Jahren. Ein Ereignis, das in einer Welle von Nachrufen weltweit Beachtung fand. In seinem langen Leben diente Kissinger zwölf US-Präsidenten als Berater, wobei seine Zeit als Sicherheitsberater und Außenminister unter Richard Nixon von 1969 bis 1975 zweifellos den Höhepunkt seiner politischen Karriere darstellt. Es liegt in der Natur seines Wirkens, dass Kissinger auf der einen Seite als „Lichtgestalt“ (Der Spiegel) und „Jahrhundertgestalt der internationalen Politik“ (Annalena Baerbock) gefeiert wird, während er auf der anderen Seite als „Kriegsverbrecher“ verurteilt wird. Einen informativen Überblick über das mediale Echo des Mainstreams bietet der Beitrag von Florian Warweg auf den Nachdenkseiten (s.u.).

Wer mit dem Namen von Henry Kissinger wenig anfangen kann und sich in relativ kurzer Zeit (ca. 90 Minuten) eine erste Meinung bilden will, dem seien das von Günter Gaus geführte Gespräch (Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg 2002) und die Reportage des NDR vom 2. Dezember 2023 empfohlen. Ergänzend können die Sendungen des SWR2 (26. Mai 2023) und des Bayrischen Rundfunks (30. November 2023) hinzugezogen werden. Wer sich intensiver mit dem Wirken von Henry Kissinger befassen will, wird vor allem in den Biographien von Greg Grandin (2016) und Bernd Greiner (2020) fündig. Da Kissinger auch ein überaus fleißiger Autor war, können diejenigen, die das entsprechende Interesse und die notwendige Zeit aufbringen, diesen auch von dieser Seite kennenlernen (Dazu eine kleine Auswahl weiter unten. Dort finden sich auch die Angaben zu den vorn genannten Nachrichten, Sendungen und Büchern.)

Kissingers Markenzeichen

Will man das umstrittene Wirken Kissingers auf einen sehr kurzen Nenner bringen, dann bietet sich – wie auch die zahlreichen Nachrufe zeigen – der Begriff „Realpolitik“ an. Ungeachtet aller berechtigten Kritik kann man im Agieren des ehemaligen Außenministers und Beraters dann etwas Positives erkennen, wenn man es mit der gegenwärtigen Außen- und Sicherheitspolitik des „Wertewestens“ vergleicht.

Kissingers Markenzeichen als „Wächter des Imperiums“ war die kalte, nüchterne Analyse. Dass dies nicht vor Fehleinschätzungen und Niederlagen schützt, zeigt der Umgang von Nixon und Kissinger mit dem US-Krieg in Vietnam höchst anschaulich. Beide wussten bereits bei ihrem Regierungsantritt 1969, dass dieser nicht zu gewinnen war. Trotzdem weiteten sie den Krieg aus und ließen von 1969 bis 1973 das neutrale Kambodscha bombardieren. 1970 führten sie dort einen Regimechange durch und ließen anschließend US-amerikanische und südvietnamesische Truppen einmarschieren. In diesem konkreten Fall mündete Kissingers Realpolitik in einem massenhaften Kriegsverbrechen, bei dem wahrscheinlich 300.000 bis 600.000 Kambodschaner getötet wurden. In Lateinamerika gilt Kissinger aufgrund seiner Protagonistenrolle beim Sturz von Salvador Allende als Freund von Diktatoren und Organisator anti-demokratischer Regimechanges (Kornbluh 2023).

In anderen Fällen hingegen zeitigte seine Realpolitik durchaus positive Ergebnisse, so bei der Entspannungspolitik mit der Sowjetunion Anfang der 1970er Jahre. Kissingers frühzeitigen Warnungen vor den verheerenden Folgen der Osterweiterung der NATO ab 1997 erfolgten ebenfalls auf der Basis realpolitischer Analysen. Damit wird klar, dass zwischen der Realpolitik Kissingers und der ideologisch verblendeten Außen- und Sicherheitspolitik der Biden-Administration (mit den Neocons im Hintergrund), der Deutschland unter Kanzler Olaf Scholz in blinder Vasallentreue folgt, Welten liegen. Hätte man auf Kissinger und andere warnende Stimmen gehört, wäre der Stellvertreterkrieg in der Ukraine aller Wahrscheinlichkeit nach vermieden worden.

Realpolitik basiert zuvörderst auf der Anerkennung der Interessen und der Stärke der Gegenseite. Wie alle Menschen können auch Realpolitiker irren und sogar zu Kriegsverbrechern werden. Dennoch sind sie – weil sie sich von Interessen statt von Moral leiten lassen – berechenbar. Um es kurz zu fassen: Obwohl für Kissinger der Erhalt der Hegemonie der USA Maßstab seines Handels war, hat er im Streben nach einer stabilen Weltordnung immer auch den weltfriedenswahrenden Kompromiss gesucht. Aus realpolitischer Perspektive ist der Weg zu einem Ausgleich mit dem Gegner grundsätzlich immer offen. Zur Voraussetzung von Realpolitik gehört, dass man die Interessen und Intentionen der Gegenseite richtig versteht. Das ist der grundsätzliche Unterschied – und Vorzug – gegenüber einer wertebasierte Außenpolitik. Weil man über unterschiedliche Werte nicht verhandeln kann und damit dem notwendigen Verstehen der anderen Seite die Grundlage entzogen wird, ist mit einem „moralpolitischen“ Ansatz der Weg zur Eskalation und in die Sackgasse vorgezeichnet. Im worst case droht gar ein dritter Weltkrieg.

Kissingers realpolitisches Meisterstück …

Der Ausgleich zwischen USA und der Volksrepublik China gilt zu Recht als das Meisterstück der Realpolitik Kissingers. Der lange Krieg in Vietnam und die sich abzeichnende Niederlage der USA gaben den Anstoß für die Änderung der Politik gegenüber Beijing. Ein überstürzter Rückzug Washingtons aus Indochina hätte für andere Völker das Signal zur Revolte sein können. Der Bruch zwischen der VR China und der Sowjetunion, der sich 1969 zu einer militärischen Konfrontation zugespitzt hatte, bot in den Augen Kissingers eine günstige Gelegenheit, die Niederlage in Vietnam in einen diplomatischen Sieg gegenüber Moskau zu verwandeln. 1971 war er im Auftrag von US-Präsident Nixon erstmals nach Beijing gereist, um in Gesprächen mit Premierminister Zhou Enlai eine Annährung einzuleiten. Später verhandelte er mit allen führenden Funktionären der Volksrepublik, darunter Mao Zedong und Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping. Ab 1971 nahmen deren Diplomaten den Platz Taiwans (Republik China) bei den Vereinten Nationen ein. Im Februar 1972 besuchte Richard Nixon China. Die chinesische Wirtschaft befand sich in einer Sackgasse, die „proletarische Kulturrevolution“, die Mao einige Jahre zuvor initiiert hatte, erwies sich als Katastrophe, die das Land ausbluten ließ.

Der realpolitische Kompromiss, auf dessen Grundlage die VR China künftig ihre Beziehungen zu den USA gestaltete, bestand in der „Ein-China-Politik“, mit der Taiwan offiziell zur „abtrünnigen Provinz“ Beijings herabgestuft wurde. Die Weltwirtschaftskrise in den 1970er Jahren beschleunigte die Annäherung zwischen der Volksrepublik und den USA. Im Jahr 1979 nahmen beide Länder offiziell diplomatische Beziehungen auf. Deng Xiaoping, dem es nach Maos Tod 1976 gelungen war, die Macht zu übernehmen, reiste im Januar 1979 in die USA und leitete damit die offizielle wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern ein. Die chinesisch-amerikanische Zusammenarbeit überdauerte den Zusammenbruch der Sowjetunion und beförderte die Weltmarktöffnung Chinas. Für die US-Wirtschaft wurde China zu einem neuen Riesenmarkt und zum lukrativen Zielort für Investitionen, während die USA zum wichtigsten Exportland Chinas wurden. Für die Symbiose beider Wirtschaften prägte der Historiker Niall Ferguson 2006 den Begriff „Chimerica“. Die US-Elite sah in der Einbeziehung Chinas in die neoliberale Globalisierung den besten Weg zur Verwestlichung des Landes. Der Marktöffnung sollte der Anfang vom Ende der Herrschaft der Kommunistischen Partei in China sein.

… und dessen nichtintendierte Folgen

Statt zum prowestlichen Juniorpartner der USA zu degenerieren, profitierte die Volksrepublik von der Globalisierung und entwickelte sich so zur größten Herausforderung der unipolaren Weltordnung Washingtons. Nachdem dies klar geworden war, entschloss sich Präsident Barack Obama im November 2011 zum „Pivot to Asia“ (dt.: Schwenk nach Asien). Zwei Jahre zuvor hatte er sich selbst zum „ersten pazifischen Präsidenten“ der USA ausgerufen. Seither besteht das Hauptziel Washingtons in der Zurückdrängung des chinesischen Einflusses. Unter Donald Trump (2017-2021) verschärften die USA ihren Kurs und eröffneten einen Handels- und Technologiekrieg gegen China, der bis heute anhält. Nach dem Amtsantritt von Joe Biden im Januar 2021 verschlechterten sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern weiter, wobei Washington vor allem die Taiwan-Frage eskalierte. 2023 erreichten sie ihren bisherigen Tiefpunkt.

Um die Situation zu entschärfen und wenigstens ein Minimum an Kontakten zu ermöglichen, reiste der hochbetagte Henry Kissinger im Juli erneut nach China. Dort hatte er sich zunächst mit dem chinesischen Spitzendiplomaten Wang Yi und Verteidigungsminister Li Shangfu getroffen. Ein Gespräch mit Präsident Xi Jinping krönte seinen „privaten“ Besuch in Beijing. Kissinger betonte, dass die Beziehungen ihrer Länder „mit dem Weltfrieden und dem Fortschritt der menschlichen Gesellschaft verbunden“ seien und sie deshalb „Missverständnisse beseitigen, friedlich zusammenleben und Konfrontationen vermeiden sollten“.

Realpolitik ist keine Zauberformel

Dieser kurze Rückblick auf das Wirken Henry Kissingers macht zweierlei deutlich. Sein realpolitischer Ansatz hebt sich einerseits positiv von der derzeit im Westen dominanten moralisierenden oder „feministischen“ Außenpolitik ab. Andererseits hat ihn seine Realpolitik auf die abschüssige Bahn der Verletzung von Völkerrecht und Menschenrechten geführt. Dies mag nicht zuletzt aus seinen persönlichen Eitelkeiten resultieren und einer gehörigen Portion Zynismus geschuldet sein. Dies allein erklärt aber die Recht brechende Dimension seiner Politik nicht hinreichend. Die Ursache ist vielmehr in seiner selbst gewählten Funktion als „Wächter des Imperium“ (Greiner) zu suchen. Mit dem Machtverlust der USA und dem Aufstieg neuer Mächte (BRICS plus) eröffnet sich die Möglichkeit, Realpolitik auf neue Art zu betreiben. Diese gegenhegemoniale Realpolitik steht vor der gewaltigen Aufgabe, die wachsende Kriegsgefahr einzuhegen und die Menschheitsprobleme (Klimakrise, Armut, Migration, Energie- und Ernährungskrise etc.) zu entschärfen. Dazu bedarf es einer Realpolitik, die auf Kooperation und Frieden gerichtet ist. Es liegt in der Natur menschlicher Interaktion, dass ihr keine Zauberkräfte innewohnen. Eine Grundlage für eine neue, multipolare Weltordnung bildet sie aber alle Male. Kissingers Ära gehört der Vergangenheit an. Sein Plädoyer für das Verstehen der Gegenseite sollte aber weiterhin gelten. Das wäre ein Vermächtnis, dem alle friedliebenden Menschen zustimmen können.

 


 

Anregendes & Weiterführendes

A. Links zu Sendungen und Beiträgen per Internet

www.ardmediathek.de/video/rbb-fernsehen/zur-person-henry-a-kissinger/rbb-fernsehen/Y3JpZDovL3JiYl8xMDFlNWU3ZC1kMzM0LTQyYWYtODQ0Ny01ZGNlMGY5Yzg2MTVfcHVibGljYXRpb24 (Zur Person: Henry Kissinger im Gespräch mit Günter Gaus 2002) ca. 45 min.

www.ardmediathek.de/video/doku-und-reportage/henry-kissinger-eine-jahrhundert-gestalt/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS9wcm9wbGFuXzE5NjE5MzE4OV9nYW56ZVNlbmR1bmc (Henry Kissinger – Eine Jahrhundertgestalt, NDR, 2.12.023) ca. 43 min.

www.ardmediathek.de/video/kontrovers/50-jahre-sicherheitskonferenz/br-fernsehen/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzZiNmZmZDdiLTM2NGUtNGU1MS1iNDAzLTI1MGNlOWQ4ZmZjMw (50 Jahre Sicherheitskonferenz, 29.1.2024, BR Fernsehen) ca. 12 min.

Henry Kissinger – Machtpolitiker und US-Stratege. SWR2 Wissen, Sendung vom 26. Mai 2023 unter: www.swr.de/swr2/wissen/henry-kissinger-machtpolitiker-und-us-stratege-swr2-wissen-2023-05-26-104.html

Kissingers Realpolitik: Friedensstifter oder Kriegsverbrecher? BR, Sendung vom 30.11.2023 unter: www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/kissingers-realpolitik-friedensstifter-oder-kriegsverbrecher,Tx6FdFH

Warweg, Florian: „Er war eine Lichtgestalt“ – Wie medialer und politischer Mainstream den Kriegsverbrecher Henry Kissinger in ihren Nachrufen feiern | Veröffentlicht am: 30. November 2023 bei Nachdenksenten unter: www.nachdenkseiten.de/?p=107494

B. Literatur

Grandin, Greg: Kissingers langer Schatten. München 2016

Greiner, Bernd: Henry Kissinger – Wächter des Imperiums. Eine Biografie. München 2020

Kissinger, Henry: Leadership. Six Studies in World Strategy. 2022 (dt.: Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21.Jahrhundert) Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew, Margaret Thatcher

Kissinger, Henry: World Order. New York 2014 (dt.: Weltordnung)

Kissinger, Henry: On China. New York 2011 (dt.: China – Zwischen Tradition und Herausforderung)

Kornbluh, Peter: Kissinger and Chile. Why Allende had to be Overthrown, in: LASA-Forum 54 (Summer 2023) 3, S. 60-62

Rojas, René/ Sunkara, Bhaskar/ Wolters, Jonah (Hrsg.): The Good Die Young. The Verdict on Henry Kissinger. Verso Books 2023

 

Bildquellen: [1, 3] CoverScans, [2] SnapShot, NDR

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert