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Die Geschichte von dem Fräulein Staubkorn, der Sonnentänzerin

Teresa de la Parra | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten

Die Geschichte von dem Fräulein Staubkorn, der Sonnentänzerin1 - Bild: Quetzal-Redaktion, CDEs war an einem Morgen Ende April. Das rauschhaft schöne Wetter kontrastierte an jenem Tag auf ironische Weise mit der erbärmlichen Fron, der ich als Lohnschreiber ausgeliefert war. Als ich einmal den Kopf hob, fiel mein Blick auf meine Filzpuppe Jimmy, die mir mit dem Rücken gegen den Lampenstiel gelehnt und sich hin- und herwiegend gegenübersaß.  Der Schirm der Leuchte diente ihm wohl als Sonnenschutz. Er nahm mich nicht wahr und schaute – auf eine Weise, die ich so von ihm nicht kannte – mit ungewohnter Aufmerksamkeit einem Sonnenstrahl hinterher, der das Zimmer durchmaß.

„Was hast du, lieber Jimmy?“, fragte ich ihn. „Woran denkst du?“

„An die Vergangenheit“, gab er kurz angebunden zurück, ohne mich dabei weiter zu beachten und verlor sich erneut in seiner Betrachtung. Und wie um die Verletzung abzumildern, die von der Schroffheit seiner Antwort ausgegangen war, fügte er hinzu: „Ich habe keine Veranlassung, vor dir etwas geheim zu halten. Aber andererseits kannst du auch nichts für mich tun …“ Und ach, er seufzte herzzerreißend!

Eine Weile verging. Er verdrehte halb die beiden weißen Filzscheiben, die seine schwarzen Pupillen umrundeten und seinen Ausdruck beseelten. Seine Aufmerksamkeit wurde ins Innerste gelenkt und traf auf einen melancholischen Traum. Dann sprach er das zu mir: „Ja, ich sinne der Vergangenheit nach. Ich grüble ohne Unterlass, aber heute, an diesem lauen und verführerischen Frühlingstag, werde ich von meinen Erinnerungen ganz besonders heimgesucht. Und über den Sonnenstrahl, der deine Fersen trifft und den Teppich verwandelt, sei gesagt, dass er … jenem anderen so sehr ähnelt, in dem ich … das erste Mal erblickt habe. Aber ach, ich merke, dass du mir bei der Armseligkeit meiner Worte wirst zu Hilfe kommen müssen. Stell dir das blondeste, silbrigste, irrsinnig ätherischste Geschöpf vor, das jemals  gegen die Widrigkeiten des Lebens angetanzt hat. Kaum dass sie erschienen war, gingen mein Traum und ihre wunderbare Wirklichkeit eine Einheit ein. Wie bezaubernd! Sie entstieg dem Sonnenstrahl und betrat mit ihrer blendenden Gegenwart jenen Pfad der Klarheit, den ich mir gerade in Erinnerung gerufen habe. Die unmerklichen Seufzer unseres täppischen Takts beseelten um sie herum ein Völkchen von ihr sehr ähnlichen Wesen, denen aber ihre erhabene Anmut und ihr zündender Charme fehlten. Sie tollte ein wenig mit ihnen herum, schloss sich ihren Reigen an, entkam geschickt durch einen Spalt und entging mit einem Sprung der unzüchtigen Umarmung der trunkenen und aufdringlichen, bestialischen Monster-Mücke. Zugleich wurde sie unmerklich und sanft schwankend in meine Richtung gezogen. Gott, wie schön sie war! Streng genommen kann man nicht davon sprechen, dass sie ein Gesicht hatte. Ich gehe sogar so weit dir zu sagen, dass sie in Wirklichkeit gänzlich formlos war. Aber sie entnahm in schwindelerregendem Tempo der Sonne alle möglichen Antlitze, die ich mir hätte erträumen können und die meinen Vorstellungen von Liebe genau entsprachen. Ihr Lächeln war nicht auf ihre Lippen begrenzt, sondern erstreckte sich auf alle ihre Regungen.  Alsbald erschien sie goldgelb wie der Widerschein eines Kupfergeschirrs, dann wieder blass und grau wie das Licht der Dämmerung, schon dunkel und geheimnisvoll wie die Nacht. Sie war zugleich weich wie Samt, toll wie Sand im Wind, heimtückisch wie die Schaumkrone am Rand einer brechenden Welle. Meine Worte konnten ihren Verwandlungen nicht folgen — sie war tausendfach schneller.

Wie befallen von einer Art heiliger Erstarrung hielt ich in ihrer Betrachtung längere Zeit inne … Doch mit einem Mal entrang sich meiner Kehle ein Schrei … Die himmlische Tänzerin drohte auf den Boden zu fallen. Mein ganzes Sein protestierte ob der Schmach eines solchen Zusammenstoßes, und ich eilte hinzu.

Meine jähe Bewegung versetzte die Welt des Sonnenstrahls in Aufruhr, und viele der Elfen schnellten, ich denke mal aus Furcht, in die Höhe. Ich aber behielt meine Geliebte im Blick. Wie angewurzelt und mit angehaltenem Atem überwachte ich sie mit ausgestreckter Hand. Oh herrliche Freude! Die größte und zugleich letzte meines Lebens. In diese ausgespreizte Hand ließ sie sich fallen. Ich erspare dir eine detaillierte Schilderung meines Gemütszustandes. Mein Herz pochte dermaßen schnell, da meine Gebieterin sich immer noch auf meiner zitternden Handfläche im Tanze drehte – ein langsamer harmonischer Walzer von unendlichem Liebreiz.

„Fräulein Staubkorn …“, sprach ich sie an.

„Und woher kennst du meinen Namen?“

„Eine Eingebung“, gab ich zur Antwort,  „…  kurz gesagt  … die Liebe.“

„Die Liebe“, rief sie aus, „sieh da, sieh da!“ und sie setzte ihren Reigen fort, diesmal aber auf eine freche Art. Sie schien sich über mich lustig zu machen.

„Lach mich nicht aus“, erwiderte ich, „ich liebe dich wirklich. Im Ernst!“

Die Geschichte von dem Fräulein Staubkorn, der Sonnentänzerin2 - Bild: Quetzal-Redaktion, CD„Was bitteschön habe ich mit Seriosität zu schaffen?“,  entgegnete sie. „Ich bin das Fräulein Staubkorn, Sonnentänzerin. Ich weiß nur zu gut, dass meine Abstammung nicht die edelste ist. Ich entkam einem Riss im Boden und bin nie wieder zu meiner mütterlichen Herkunft zurückgekehrt. Wenn man sie mir als von bescheidenster Niedrigkeit beschreibt, muss ich das so hinnehmen, aber das macht mir nichts aus, da ich jetzt die Sonnentänzerin bin. Du darfst mich nicht lieben.Wenn du das tätest, dann würdest du mich auch zu dir hinziehen wollen, und was wird dann aus mir? Mach die Probe aufs Exempel — nimm deine Hand kurz weg und entziehe sie dem Sonnenlicht.“

Ich tat wie geheißen.

Doch wie groß war meine Enttäuschung, als ich in das Halbdunkel zurückgekehrt auf meinem Handteller ein bedauernswertes und ungestaltes Dingelchen in einem trüben Grauton erblickte, völlig bewegungslos und unförmig. Den Tränen war ich nahe!

„Da siehst du es“, sagte sie. „Das ist der Beweis! Nur die Kunst hält mich am Leben. Schnell, bring mich wieder in den Sonnenstrahl zurück.“

Ich gehorchte. Dankbar machte sie in meiner Hand erneut ein Tänzchen.

„Woraus ist deine Hand?“

„Aus Filz“, erklärte ich treuherzig.

„Das kratzt, da ist mir meine Fahrt durch die Lüfte doch wesentlich angenehmer“, rief sie aus und machte Anstalten davonzufliegen.

Was mich in diesem Moment ritt, vermag ich nicht zu sagen. Wütend wegen der Beleidigung, aber mehr noch aus Furcht, meiner Eroberung verlustig zu gehen, setzte ich alles auf eine Karte. Zwar wird sie ihre Transparenz einbüßen, „dachte“ ich, dafür aber die Meinige sein. Ich packte sie und sperrte sie in meine Brieftasche, die ich auf meinem Herz deponierte. Hier ist sie nun schon ein ganzes Jahr. Aber alle Heiterkeit ist von mir gewichen. Ich finde noch nicht einmal den Mut, mir diese Fee, die ich verberge, anzuschauen, so deutlich steht mir jene Vision vor Augen, die meine Liebe entfachte. Doch lieber will ich sie so behalten, als sie ganz und gar zu verlieren, indem ich ihr die Freiheit schenke.

„Deshalb hast du sie immer noch in deinem Portefeuille?“, fragte ich ihn von Neugier gepackt.

„Ja. Möchtest du sie sehen?“

Ohne meine Antwort abzuwarten und weil er sein eigenes Begehren nicht mehr zurückhalten konnte, öffnete er die Dokumententasche und entnahm ihr das, was er die „Mumie des Fräulein Staubkorns“ nannte. Nur weil ich nett sein wollte, tat ich so, als könne ich etwas erkennen, aber eigentlich sah ich rein gar nichts. Für einen Moment herrschte zwischen Jimmy und mir peinliches Schweigen.

„Wenn du einen Ratschlag möchtest“, sagte ich schließlich, „gebe ich dir diesen: Gib deiner Freundin die Freiheit. Nutze den Sonnenstrahl hier. Und sollte es auch nicht länger als zwei Stunden anhalten, so werden es doch solche der Verzückung sein. Das ist allemal besser als die Marter fortzusetzen, in der du lebst.“

„Meinst du das wirklich?“, fragte er und warf mir einen angsterfüllten Blick zu. „Zwei Stunden. Ach, was für eine Versuchung mich überkommt. Ja, lass es uns tun. So sei es denn.“

Sprach’s und entließ Fräulein Staubkorn aus seiner Brieftasche, gab sie dem Sonnenstrahl zurück. Was für eine wunderbare Auferstehung! Sobald die kleine Ballerina aus ihrem geheimnisvollen Schlaf erwachte, packte es sie wie wahnsinnig, unvergleichlich und übersinnlich, genau der schwärmerischen Beschreibung entsprechend, die Jimmy mir gegeben hatte. Augenblicklich konnte ich seine Leidenschaft nachempfinden. Unglaublich, wie er sie anblickte, reglos, mit offenem Mund, trunken von Schönheit. Die bittere Sinnlichkeit der Hingabe ging über in die reine Freude des Betrachtens. Und ehrlich gesagt erschien mir Jimmys Gesicht um ein Vieles schöner als die Pirouetten der Fee, weil es erleuchtet war von einem moralischen Edelmut, der der trügerischen Ballerina fernlag.

Aus heiterem Himmel stießen wir beide gleichzeitig einen Schrei aus. Das Fräulein Staubkorn verschwand im Schlund eines gähnenden, ungeheuerlichen, stumpfsinnigen, stecknadelkopfgroßen Insekts.

Was soll man dazu noch weiter sagen?

Starren Blickes erfasste der arme Jimmy die Gaumenfreude des Insekts in ihrem ganzen Ausmaß. Längere Zeit verharrten wir sprachlos, ohne dass uns ein Mittel einfiel, mit dem man meine Reue und seine Verzweiflung hätte ausdrücken können. Von ihm aber kam kein Wort der Kritik — weder an der erlebten Widerwärtigkeit noch gegen mich gerichtet, jedoch konnte ich sehr genau sehen, wie er sich unter dem Vorwand, die Filzscheiben zu richten, die den Ausdruck seiner Pupillen regeln, verstohlen eine Träne wegwischte.

Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler

Teresa de la Parra (1889 – 1936)*

Teresa Parra - Foto: Archivo de la Biblioteca Nacional de Caracas, VenezuelaAna Teresa Parra Sanojo, die Tochter des venezolanischen Diplomaten Rafael Parra Hernáiz, wurde am 5. 10. 1889 in Paris geboren. Im Alter von zwei Jahren kehrte sie nach Venezuela zurück und verbrachte ihre Kindheit auf dem Familienbesitz, eine Zuckerrohrhacienda in Tazón nahe Cúa. Nach dem Tod des Vaters 1898 zog die Mutter Isabel nach Valencia in Spanien, wo ihre Kinder eine streng katholische Schulbildung erhielten. 1910 ging Teresa zusammen mit ihrer Familie wieder nach Caracas. Ihre ersten schriftstellerischen Erfolge feierte sie mit Kurzgeschichten, die sie unter dem Pseudonym Fru-Fru ab 1915 in Venezuela und Paris veröffentlichte. Sie führte ein unkonventionelles Leben und setzte sich für die internationale Frauenbewegung ein. Ihr erster Roman, der unter der Herrschaft des Diktators Juan Vicente Gómez geschrieben worden war, „Ifigenia, diario de una señorita que escribió porque se fastidiaba“ (1924) stieß in ihrem Heimatland auf großen politischen Widerstand, so dass de la Parra ihn schließlich in Paris erstveröffentlichen ließ, wo er mit dem „Prix du meilleur roman americain“ ausgezeichnet wurde. Der autobiographisch gefärbte Roman „Las Memorias de Mamá Blanca“ (1929) war ebenfalls ein Erfolg. Bis zu ihrem Tod am 23. 4. 1936 in Madrid lebte Teresa de la Parra sowohl in Europa wie auch in Lateinamerika. Im Jahre 1947 ließ ihre Familie ihre sterblichen Überreste nach Venezuela holen, um sie in der Familiengruft bestatten zu können. Anlässlich ihres 100. Geburtstags  wurden ihre Gebeine 1989 ins „Panteón Nacional de Venezuela“ in Caracas überführt.

*Autorin: Gabriele Eschweiler

Bildquelle: [1] und [2] Quetzal-Redaktion, CD; [3] Archivo de la Biblioteca Nacional, Caracas-Venezuela

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