Die Kürze
„Warum bist du so kurz? liebst du, wie vormals, denn
Nun nicht mehr den Gesang? fandst du, als Jüngling, doch
In den Tagen der Hoffnung,
Wenn du sangest, das Ende nie?“
Wie mein Glück, ist mein Lied. –Willst du im Abendroth
Froh dich baden? Hinweg ist’s, und die Erd’ ist kalt,
Und der Vogel der Nacht schwirrt
Unbequem vor das Auge dir.
Friedrich Hölderlin
I „Lo breve, si bueno, dos veces” (sprichwörtlich)
Bereits die antiken Rhetoren huldigten dem Grundsatz, dass in der Kürze die Würze liege. Neben der „puritas“ (Reinheit im Sinne von sprachlicher Korrektheit) und der „perspicuitas“ (Klarheit, Verständlichkeit) gehörte die „brevitas“ (Kürze) zu den „virtutes orationis“ des Marcus Fabianus Quintilianus. Gemeint war die angemessene Kürze, das richtige Maß zwischen übermäßiger Raffung, die auf Kosten der Verständlichkeit geht, und wortreicher, den Zuhörer langweilender Weitschweifigkeit. Die moderne Rhetorik verfügt über Untersuchungen, wann die Aufmerksamkeit des Publikums nachlässt, und in kirchlichen Predigerseminaren kursiert noch immer das Aperçu „Du darfst über alles predigen, nur nicht über zwanzig Minuten“ – allerdings mit wechselnden Zeitangaben.
Man kommt dem, was die antiken Rhetoren mit „brevitas“ gemeint hatten, näher, wenn man ausgerechnet Homer als Vorbild für Kürze nennen hört, da innerhalb der Großform des Epos bei ihm nichts redundant sei. Ein modernes Sachwörterbuch zur Sprachwissenschaft definiert „redundant“ als Information ohne Neuigkeitswert. „Von Redundanz spricht man vor allem dann, wenn Informationseinheiten weggelassen werden können, ohne dass die Botschaft abnimmt.“[1]
Die Weltliteratur der letzten zweieinhalbtausend Jahre stellt einen fast unübersehbaren Kanon von Kurzformen zur Verfügung. Einen großen Teil davon kann man unter dem Oberbegriff didaktischer oder sonst wie zweckgerichteter Texte subsumieren. Beispiele dafür sind die in diesem Zusammenhang immer wieder – und nicht immer zutreffend – als „Urtext“ genannten Äsopschen Fabeln, aber auch die Gleichnisse im Neuen Testament oder etwa die Bestiarien bzw. deren bis in die Spätantike zurückreichende Vorform des „Physiologus“, der Naturbeschreibung und Heilsgeschehen in Verbindung bringt. Gerade auf die Bestiarien greifen moderne Meister der Kurzform wie Franz Kafka, Guillaume Apollinaire, Jorge Luis Borges oder Juan José Arreola gerne, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen zurück. Die Kürze dieser Texte, speziell der Fabeln, ist z. T. wohl Folge der pädagogischen Absicht. Auch heute werden Schriften zu didaktischen Zwecken gekürzt. Bisweilen – wie das Phänomen der die 1950er prägenden „Reader’s Digest Auswahlbände“ zeigt – ist die Grenze zwischen volksbildnerischer Absicht und Zensur fließend.
Als weitere Gruppe könnte man Spruchdichtungen aller Art, vom römischen bis zum barocken Epitaph, von Epigramm und Aphorismus bis zum japanischen Haiku zusammenfassen, wobei der Haiku, eine aus drei Zeilen zu insgesamt siebzehn Silben bestehende Form, von einer wie auch immer gelagerten Interpretierbarkeit, die einen versteckten Sinn zu finden trachtet, am weitesten entfernt ist. Vielleicht gehört auch der der Abwehr alles Dogmatischen dienende Spontispruch der 1960er bis 1970er Jahre in diese Kategorie. Generell kann man, wenn man sich den Kanon abendländischer Dichtung und seine Rezeption ansieht, sagen, dass das Etikett „kurz“ oft mit „klein“ assoziiert und als Nebenform abgehandelt wird, der man im Pädagogischen liegende Berechtigung zubilligt. Möglicherweise hängt es damit zusammen, dass der Europäer keine Sinn-Lücken erträgt und stets nach einer Auflösung oder Abrundung sucht. Dass dies im 21. Jahrhundert mit dem Verlust geschlossener Weltbilder zunehmend schwierig wird, mag zur Wiederentdeckung einer Kürze beigetragen haben, die jenseits aller Zweckrichtung liegt.
II „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“ (Lewis Carroll)
Die große bürgerliche Romanliteratur des 19. Jahrhunderts (Honoré de Balzac, Gustave Flaubert, Lew Tolstoj, Herman Melville, Charles Dickens u. a.) kann man auch vor dem Hintergrund der literarischen Aufarbeitung des 20. Jahrhunderts als zwangsläufig zum Scheitern verurteilten, am Ideal des Epos orientierten Versuch auffassen, der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács) der Moderne beizukommen, indem das Individuum im Laufe seiner Biografie auf die Suche nach einer Abgeschlossenheit geschickt wird, die objektiv nicht mehr besteht. Der Gang des Helden in die Welt stellt in einer durch die hektischen Umbrüche der industrialisierten Welt gekennzeichneten Zeit keine Garantie mehr für eine Sinnfindung dar.
Literarisch versuchte der Futurismus, der um die Zeit des Ersten Weltkriegs aufkam, Schnelligkeit darstellbar zu machen. Bereits Blaise Cendrars’ „Prose du Transsibérien et de la petite Jeanne de France“ (1913) ist einer jener Texte, der Modernität mit Technik und Tempo assoziiert. Der Umbruch, der in der modernen Großstadt seinen Ausdruck fand, wurde vor allem als Akzeleration erlebt, der der Mensch hilflos ausgesetzt ist und der er sich aktiv zu stellen hat, wenn er nicht, wie Alfred Döblins Held Franz Biberkopf in Berlin Alexanderplatz (1929) unter die Räder kommen will.
John Dos Passos schlägt in Manhattan Transfer (1925) die Verteilung auf verschiedene Personen als Exemplifikationen des Umgangs mit dem Phänomen der modernen Großstadt vor, aber der eigentliche Held seines Romans ist die Metropole selbst.
Vielleicht ist die Anverwandlung alter literarischer Kurzformen zusammen mit der Tendenz zum Fragmentarischen seit Beginn des 20. Jahrhunderts, die das Werk von Franz Kafka bereits dominiert, eine Konsequenz einer immer schneller werdenden Zeit. Jorge Luis Borges, einer der Meister der Kurzform, kommentiert das so: „Uns fehlt der Optimismus des 19. Jahrhunderts, zu glauben, diese Welt ließe sich auf fünfhundert Seiten einfangen, deshalb wählen wir die kurze Form!“
Die explosionsartige Ausbreitung der Massenmedien in den letzten zwanzig Jahren stellt eine neue Qualität dieses Prozesses dar und wird unweigerlich zu neuartigen literarischen Ausdrucksformen führen. E-Mail und Internet bringen eine annähernde Zeitgleichheit des Sendens und Empfangens von Nachrichten. Die Zeit, die die Nachrichtenübermittlung – auch im globalen Kontext – braucht, tendiert mittlerweile gegen Null. Damit geht allerdings zwangsläufig eine Überforderung des Rezipienten einher.
Paul Virilio, Urbanist und Begründer der Dromologie (Wissenschaft von der Geschwindigkeit), sieht unser Zeitalter von einer unheilvoll sich verselbstständigenden Beschleunigung bis hin zum „rasenden Stillstand“ [2] bestimmt. Für ihn beruhen die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse auf einer Schnelligkeit, die uns zur gleichen Zeit mobilisiert und lähmt.
III The limit of a single sitting (Edgar Allan Poe)
Die moderne Wiederentdeckung einer keiner pädagogischen Absicht oder anderen Zwecken geschuldeten Kürze steht mit den geänderten Lebensverhältnissen ab Mitte des 19. Jahrhunderts in unmittelbarem Zusammenhang. Der erste der modernen Apologeten der Kürze war wahrscheinlich der Amerikaner Edgar Allan Poe. Mit seinem pragmatisch ausgerichteten Essay Die Methode der Komposition (1846) verlangt er vom Autor Kürze, denn wenn man einen Text, etwa ein Gedicht, nicht um seinen Effekt bringen wolle, dann habe er zwangsläufig kurz zu sein. Die Kurzgeschichte ist nach Poes Ansicht (Vorbildcharakter hatten für ihn hierbei die brief tales von Nathaniel Hawthorne) dem Roman vorzuziehen, da durch die notwendige, alltagsbedingte Unterbrechung des Lektüreprozesses die „Einheit des Effekts“ zerstört werde. Die Forderung, den Leser in Spannung zu halten, hängt zusammen mit dem Aufstieg des Zeitungswesens, dieses wiederum mit der Entstehung moderner Drucktechniken im 19. Jahrhundert. Das Aufkommen des Feuilletons bot Autoren neue und bessere Absatzmöglichkeiten und war der Wegbereiter der Kurzgeschichte und des Episodenromans. Für Letzteren war Eugène Sues Zeitungsroman Die Geheimnisse von Paris (1842-43), der direkt das Feedback seiner Leserschaft miteinbeziehen konnte und somit eine absolute Neuheit darstellte, paradigmatisch. Der Leser wurde durch Tricks, wie den klassischen Cliffhanger[3], zum weiteren Lesen und damit zum Kaufen des Blattes gebracht. Entsprechend bedingen sich die Entwicklung der Kurzgeschichte und die amerikanische Tradition des Journalisten-Autors. Bereits Edgar Allan Poe schrieb seine Geschichten zur Publikation in Zeitungen. Ambrose Bierce war Journalist und Schriftsteller, ebenso wie der von Joseph Conrad bewunderte Stephen Crane, der wiederum das unangefochtene Vorbild für Ernest Hemingway war. Die Liste ließe sich gerade in der amerikanischen Literaturgeschichte beliebig fortsetzen.
Schnörkellose Kürze und klare Sprache waren für die deutschen Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg (Heinrich Böll, Alfred Andersch, Wolfdietrich Schnurre, Wolfgang Weyrauch, um nur einige zu nennen) das Antidot gegen den Schwulst und das falsche Pathos der Nazis, die dereinst die Dauer ihrer Herrschaft auf tausend Jahre veranschlagt hatten. Dass die Kurzgeschichte die Gegenwart zum Thema hat und sich oft auf den Knick in der Biografie eines einzelnen Protagonisten beschränkt, erinnert von Ferne immer noch an Zeitungsmeldungen, passte aber in die nach Aufarbeitung geradezu schreiende Zeit nach der Nazi-Barbarei.
IV„ … je dichter, je kompakter, desto ausdrucksvoller und schärfer …“ (Anton Tschechow)
Die Kurzgeschichte ist eine komprimierte Erzählform. Grundprinzip ist, dass alles, was der Leser sich selbst zu erschließen in der Lage ist, weggelassen werden kann. Einleitungen, die langsam in Ort und Zeit der Handlung einführen, zählen genauso zu den Redundanzen wie atmosphärisch dichte Charakterisierungen oder essayistische Einschübe. Die Handlung liegt jenseits der Wörter – Ernest Hemingway hat dies mit einem Eisberg verglichen, von dem das Wenigste sichtbar ist. Bei ihm wird gerade das Weggelassene zum eigentlichen Rückgrat der Story. Die Pragmatik der amerikanischen Poetiken der Kürze von Edgar Allan Poe bis Ernest Hemingway steht in der „brevitas“-Tradition der antiken Rhetoren. Zugleich klingt aber auch schon eine Skepsis gegen die Wörter an, die die Literatur des 19. von der des 20. Jahrhunderts unterscheidet und die die Entwicklung der Kurzformen bis hin zur Kürzestgeschichte prägt.
V „…das Unsagbare, das sein Wort sucht, das Wort, das sich weigert, das Unsagbare zu sagen…“ (Julio Cortázar)
Heißt dies aber, dass die dicke Romanschwarte ein Auslaufmodell darstellt? Vielleicht ist die Beschränkung auf die Beschreibung des Helden und wie er die Welt sieht ein Akt demütigenden Verzichts auf eine wenigstens annähernd vollständige Darstellung der Realität. In einem seiner Texte in der Sammlung Ein gewisser Lukas (1979) nimmt der Argentinier Julio Cortázar offenbar Bezug auf die in den 1960er und 1970er Jahren in linken Kreisen aufgewärmte Realismus-Formalismus-Diskussion, indem er sein Alter Ego Lukas ein Manifest vorlesen lässt:
„Zwei Bände und einen Anhang zusammenfassend,
verlangt ihr
Dichter
Vom Schriftsteller Erzähler
Romancier
dass er darauf verzichte, voranzugehen,
und sich einrichte hic et nunc (übersetz das, Meyer!),
damit seine Botschaft nicht überschreite
die semantischen, syntaktischen,
der Erkenntnis zugänglichen, parametrischen Bereiche
des Menschen seiner Umwelt. Hm!
Mit anderen Worten, dass er darauf verzichte,
jenseits des Erforschten zu forschen,
oder dass er forsche, um das Erforschte zu erklären,
damit jede Forschung einbezogen wird
in die abgeschlossenen Forschungen.
Soviel vertrau ich euch an:
könnte man doch
im Hier verweilen
und käme trotzdem voran. (Wie glänzend mir das gelungen ist!)
Aber es gibt wissenschaftliche Gesetze, die verneinen
die Möglichkeit einer so widersprüchlichen Bemühung,
und noch etwas, schlicht und ernst:
es gibt keine Grenzen für die Imagination,
es sei denn die des Worts;
Sprache und Erfindung sind brüderliche Feinde“[4]
Wirklichkeitsbeschreibung im Sinne eines tradierten Realismus hat zahlreiche Implikationen, die gerade aus der Wirklichkeit herausführen. Das vorgegebene ideologische Weltbild wird nicht verlassen, sondern lediglich interpretiert. Der Schreibende soll sich nicht im Unbekannten aufhalten – was bisweilen für die Erhaltung der Macht der Mächtigen von Vorteil ist. Ein – im Sinne eines wahren Realismus – Verweilen im Hier und eine Auslegung der Welt – und sei sie noch so fortschrittsorientiert – schließen sich aus, da zwischen Imagination und Wort immer eine Differenz lauert. Der „gewisse Lukas“ schlägt entsprechend einen ironischen Kompromiss vor: Da Fortschritt in der Annäherung an die (zunehmend unbeschreibbare, d. h. abstraktere, den Leser herausfordernde) Wirklichkeit besteht, verzichtet der Schriftsteller auf ihre Darstellung, während die Anhänger einer „Volksschriftstellerei“ Computern und Düsenflugzeugen entsagen. „Wenn ihr uns den dichterischen Fortschritt verbietet, warum wollt ihr dann in aller Ruhe vom wissenschaftlichen Fortschritt profitieren?“[5]
Kürze in diesem Sinne ist also mehr als ein rhetorischer Trick. Die Beschreibung der Tiefe des Eisbergs ist der Imagination eines mutigen Lesers anheimgegeben. Sie ist mit Mitteln der epischen Breite nicht mehr darstellbar, weil sie sich den Wörtern entzieht. Der Held ist der Leser selbst, der sich wie ein Forschungsreisender in eine unentdeckte Welt begibt und dabei natürlich auch scheitern kann. Die Wörter, die der Schriftsteller noch zur Verfügung stellen kann, sind allenfalls Landmarken auf einer unpräzisen Karte. Die verwickelten Sätze zu dechiffrieren, erfordert also einen aktiven, selbstständigen, nicht ferngelenkten Leser. Dazu ist epische Breite weder notwendig noch möglich. Die oben zitierte Definition der Redundanz geht wie folgt weiter: „Im Kommunikationsprozess gilt: je höher die Redundanz, desto sicherer die Informationsweitergabe.“ [6] Aber diese Sicherheit kann der Schriftsteller am Beginn des 21. Jahrhunderts nur dann liefern, wenn die von ihm dargestellte Realität ohnehin bekannt ist, die terra incognita erforscht, die Landkarten erstellt sind. Eine neue Interpretation, eine frische Perspektive auf Bekanntes ist jederzeit möglich. Und selbstverständlich hat dies seine Berechtigung, solange der Autor nicht die begrifflich erfasste Welt für die einzige ausgibt.
VI „Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag.“ (Franz Kafka)
Während der im Zusammenhang mit Fortsetzungsromanen bereits erwähnte Cliffhanger den Leser nur vorübergehend der eigenen imaginären Unsicherheit überlässt – einem wohligen Schwindelgefühl, aus dem gerettet zu werden er sicher sein kann – , ist die Kürze, um die es in der lateinamerikanischen Tradition der „microcuentos“ geht, für den Leser riskanter. Übersetzen kann man den Begriff am besten mit „Mikrogeschichte“ bzw. „Mikroerzählung“. Neben „klein“ bedeutet das Griechische „mikrós“ auch „eng“. Tatsächlich entziehen sich die auf Streichholzschachtelgröße zusammengefalteten Texte weit gehend gängigen Lesekonventionen. Bereits mit dem zweiten Teil der Übersetzung der Komposita („Geschichte“/„Erzählung“) rennt man – jene Romane und Erzählungen vor Augen, gegen die „der gewisse Lukas“ vorgeht – ins Leere.
Zwar wird allgemein die Kürzesterzählung „An Circe“ (1917) von dem Mexikaner Julio Torri als die erste dieser Art in der lateinamerikanischen Literatur angesehen, aber als der eigentliche Begründer und unangefochtene Meister dieser Gattung gilt trotzdem der Guatemalteke Augusto Monterroso. Sein Text Der Dinosaurier (1959) ist – folgt man Umberto Eco – der kürzeste Roman der Welt.
Der Dinosaurier
Als er aufwachte, war der Dinosaurier immer noch da. |
Einerseits beinhaltet der äußerst knappe Text, der auch von Augusto Monterroso als Roman verstanden werden will, wichtige Ingredienzen dessen, was gängig unter Belletristik verstanden wird, nämlich einen im Sinne auktorialen Stils vorhandenen Protagonisten („er“), der Erstaunliches durchmacht, aber die Fragen, die der Text aufwirft, und die möglichen Antworten, die der Leser durchzuspielen aufgerufen ist, verlegen die fiktionale Handlung auf die Ebene des Rezeptionsprozesses.
Man kann zunächst einmal einen Negativ-Katalog all dessen aufstellen, was bei den „microcuentos“ – zumindest bei einem repräsentativen Teil davon – vermieden bzw. weggelassen wird: Es fehlen Elemente des Dramatischen wie Exposition, Aktion, Höhepunkt oder Auflösungen; es fehlen aber auch Großprosa kennzeichnende Elemente, die z. T. bereits von der Kurzgeschichte ausgespart wurden: Einleitungen, Personenbeschreibungen und andere Charakterisierungen, anekdotische Exkurse und jede Art komplexere, aber kausal decodierbare Handlungsabläufe. Und wenn solche Elemente auftauchen, dann oft so, dass dem Rezipienten damit doch nicht geholfen ist.
Ähnliches gilt, wenn, wie bei den „microcuentos“ häufig, auf tradierte Kurzformen, wie Fabel, Parabel oder Bestiarium, zurückgegriffen wird. Augusto Monterrosos Zeitgenosse Juan José Arreola variiert solche Formen in seinem Erzählband Confabularium (1952) und überschreitet dabei weitere Grenzen, indem er Essays, Sinnsprüche, Zeitungsannoncen oder –artikel fingiert, wobei eine erzähltypologische Einordnung des wiedererkennbaren, parodierten Sujets ebenfalls nicht weiterbringt.
An die Form der Naturgeschichte knüpft auch Julio Cortázar mit seinen Geschichten der Cronopien und Famen (1962) an, ebenso wie er in den darin enthaltenen Unterweisungen die Form der didaktischen Rezeptur wählt, um surreale, Perspektiven verzerrende, verstörende, im wörtlichen Sinne verrückte Einblicke in eine unbekannte, nicht einsortierbare Welt zu geben.
Wegweisend für die Herausbildung dieser Textsorte war die von dem anderen großen argentinischen Literaten Jorge Luis Borges gemeinsam mit Adolfo Bioy Casares herausgegebene Anthologie Cuentos breves y extraordinarios (1953), in der Text(ausschnitt)e der Weltliteratur aller Zeiten versammelt sind, deren gemeinsamer Nenner – so die Herausgeber in ihrem Vorwort – die Kürze und damit die Essenz des Erzählens ist. Jorge Luis Borges bezieht sich auf Franz Kafka, der die lateinamerikanische Tradition der Kürzesterzählungen maßgeblich geprägt hat und der bei allem Unabhängigkeitsstreben unangefochtenes Vorbild blieb.
So vermischen sich im Kampf um Eigenständigkeit die Loslösung von europäischer Großepik mit einem grimmigen, satirischen bis grotesken Humor, der vor der an Absurditäten und Unbegreiflichkeiten strotzenden, episch nur schwer abbildbaren blutigen lateinamerikanischen Geschichte angemessen erscheint.
Die „microcuentos“ erfordern einen äußerst wachen und autonomen Leser, der mehr als nur Konsument sein will und muss. Die Sonden in eine unbekannte Welt, die diese Kürzesttexte legen, entsprechen, anders als die Kritiker des „gewissen Lukas“ nahelegen, sehr wohl einem politischen Programm. Jede Art von Konformismus, jedes sich Einrichten hic et nunc bedeutet auch die Weigerung, sich von einer vom militärisch-technischen Apparat vorgeformten Realität vereinnahmen zu lassen und ist zu unterlaufen. Der Rücktritt vom Amt des Welterklärers, das mit der Figur des europäischen Romanciers von Honoré de Balzac bis Thomas Mann fast automatisch verbunden war und das weit gehend ins 19. Jahrhundert gehört, ist durchgängig. Die Verantwortung – und dies ist zumindest bei Julio Cortázar auch politisch zu verstehen – liegt bei jedem Einzelnen.
VII. „For sale: baby shoes, never worn.“ (Ernest Hemingway)
Die Geschichte der Mikroerzählung ist aber keineswegs abgeschlossen. 1992, also annähernd zeitgleich mit dem Beginn der Internet-Revolution, erschien in den USA die von James und Denise Thomas sowie Tom Hazuka herausgegebene Anthologie „Flash Fiction: 72 Very Short Stories“. „Flash Fiction“ bezeichnet seitdem eine meist mit dem „Worldwide Web“ verbundene Variante der Kürzestgeschichte. Andere Terminologien sind „sudden fiction“, „short short stories“ (ebenfalls dem Titel einer bereits 1983 erschienenen Anthologie entnommen), „fast fiction“, „postcard fiction“, „smoke-long fiction“, „kitchen sink fiction“, „prosetry“, an die Lateinamerikaner erinnernd „micro-stories“ oder „nano fiction“.
Verbreitung finden diese Kürzesttexte in „eZines“ und anderen Internetformaten wie „Smokelong Quarterly“, „Flash Fiction Online“, „Vestal Review“ oder „ia(¶)“, aber auch in Literaturmagazinen und Tageszeitungen.
Interessante Spielarten sind u. a. der Drabble, der aus exakt 100 Wörtern zu bestehen hat (die Überschrift nicht mit eingerechnet), der 69er, der ohne die Überschrift genau 69 Wörter zählt und in dem kanadischen Literaturmagazin NFG erscheint und der 55er, der zehn Zeilen und 55 Wörter aufweist. Die erste Zeile hat zehn Wörter, jede weitere ist um ein Wort zu kürzen, so dass zum Schluss nur noch ein einziges übrig bleibt. Das Projekt „365 Tomorrows“ bietet seit 2005 täglich einen Science-Fiction Flash Fiction Text zur Lektüre an. Bruce Holland Rogers veröffentlicht das Format „369“, das sich in eine übergeordnete Überschrift und drei thematisch verwandte 69er mit jeweils eigenen Titeln aufgliedert. Von Mark Budman stammt der erste Roman-in-flashes. Im Jahre 2007 wurde der Micro Award für englischsprachige Flash Fiction Publikationen erstmalig verliehen.
Die lateinamerikanische Antwort auf Flash Fiction sind z. B. die „cuentos ultracortos“, die mit maximal 200 Wörtern veranschlagt werden, um das Höchstmaß einer Webseite nicht zu überschreiten. Der mexikanische Literaturwissenschaftler Lauro Zavala beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dieser Textsorte und organisierte im Jahre 1998 den Primer Encuentro Internacional de Minificción.
Das 1969 veröffentlichte Buch des Mexikaners Sergio Golwarz „Infundios ejemplares“ enthält bereits alle wesentlichen Elemente dieser neuen Form von Fiktion. Der erste Text des Buches zählt 500 Wörter. Jede der 42 darauf folgenden Kürzestgeschichten ist jeweils kürzer als die vorherige und das Buch endet mit der kürzesten Erzählung der Welt, die lediglich aus dem Wort „Dios“ besteht.
„Wir befinden uns in der Spätzeit des Drucks,
einer Übergangszeit, da das Buch, wie wir es kennen,
dem Ausdruck des Geistes in Lichtformen Platz macht.“
Michael Joyce
Bildquellen: Quetzal-Redaktion, gt und nic (Dino)
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[1] Dietrich Homberger, Sachwörterbuch zur Sprachwissenschaft, Stuttgart 2000, S. 432.
[2] Vgl. Paul Virilio L’inertie polaire (1990).
[3] Der Begriff Cliffhanger geht zurück auf den ursprünglich auch in Fortsetzungen publizierten Roman Blaue Augen (1872-73) von Thomas Hardy, in dem der Protagonist Knight sich so lange am Klippenrand festhalten muss, bis die Heldin Elfride Swancourt ihn schließlich aus seiner misslichen Lage befreien kann.
[4] Julio Cortázar, Ein gewisser Lukas, Frankfurt 1992, S. 132f.
[5] Cortázar, a. a. O., S. 135f.
[6] Homberger, a. a. O., S. 432.
Lateinamerika enthuellt sich am klarsten in der Lyrik der romantischen Musik. Die romantischen und poetischen Gedankenfluege klingen dabei in das Alltagsleben der Menschen, und gewisse Phrasen werden dann auch immer wieder als philophische Lebensweiheit von den Menschen bei enstsprechenden Gelegenheiten erwaeht. Ein Merenguetext hatte den Satz „el universo de tus ojos – das Weltall deiner Augen“. Oder die ganze Geschichte in Armando Manzanero’s MIA : Du wirst immer die Meine bleiben, auch wenn du die Naechte mit einem Anderen betrachtest und dich den Freuden ergebst. Denn ich bin der einzige welcher wuesste wie in deinen Armen zu weinen. Du wirst immer an mich denken… / siehe youtube Video PLACIDO DOMINGO ARMANDO MANZANERO MIA. Oder die Geschichte des Tango „Percal“ (ein billiges Textilmaterial) „Erinnerst du dich noch an den Percal, du warst 15 Fruehlinge, und du hast dann den Percal zurueck gelassen“. Sieh TANGO PERCAL. Oder ein Wutanfall, sieh „JULIO SOSA CAMBALACHE“. Oder wie in „Como fue“: Wie war das ? Waren das deine Augen ? War es dass weil ich solange gewartete hatte? Sieh VINCENTICO VALDEZ COMO FUE. „Wirbelsturm ohne Richtung – bringt mir das Aroma aus ihren Garten!“ sieh CELIO GONZALES VENDAVAL SIN RUMBO.