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Der Geist der Briefwaage

Teresa de la Parra | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

Zeichnung: Briefwaage 1 - Quetzal-Redaktion, gtEs war einmal ein überaus aufgeweckter und findiger Kobold, der aus Draht, Stoff und Handschuhleder gemacht war. Sein Körper glich einer Kartoffel, der Kopf einer weißen Trüffel, die Füße ähnelten zwei Teelöffeln, Arme und Beine bestanden aus einem Stückchen Hutdraht. Die in cremefarbenes Wildleder gehüllten Hände schenkten ihm eine gewisse britische Eleganz, die allenfalls nur durch den feuerroten Hut unterminiert wurde. Seinen Augen haftete etwas Geheimnisvolles an: Sie starrten hartnäckig nach rechts, was ihnen einen auffälligen Silberblick verlieh.

Er stammte aus Irland, dem klassischen Land der Feen, Luftgeister und Zwerge, worauf er sich einiges einbildete, und um nichts in der Welt hätte er zugegeben, dass er in seiner Heimat nur ein unbedeutendes Mitglied einer Truppe fahrender Sänger gewesen war. Über derartige Details ging er hinweg, das hatte keinen zu kümmern!

Nach weiß Gott was für Reisen und außergewöhnlichen Abenteuern hatte er zuletzt eine der höchsten Positionen erklommen, die einem ledernen Gnom vergönnt waren, nämlich die eines Geists der Briefwaage auf dem Schreibtisch eines Poeten. Er hielt es für eine Selbstverständlichkeit, den lieben langen Tag mit boshaftem Grinsen auf der Waagschale dieser prächtigen Errungenschaft der Technik auf und nieder zu schaukeln. In der ersten Zeit war er sich der hohen Ehre, die der Dichter ihm mit dieser Vertrauensstellung erwiesen hatte, noch bewusst. Jedoch durch die unablässigen Ausrufe seines Herrn   („Vorsicht“, „Nicht anfassen“, „Nicht mit dem Staubwedel drankommen“, „Ist er nicht anmutig “, „Ihm obliegt das Wiegen der Karten und Briefe.“) war der Gnom am Ende so hochnäsig geworden, dass er jegliches Gefühl für seine wahre Bedeutung verlor und schließlich sogar, wenn man ihn für ein Momentchen vom Platz nahm, um die Korrespondenz zu wiegen, in Wut ausbrach und schrie, niemand habe das Recht ihn zu belästigen, das sei sein Zuhause, er werde den Tarif verdoppeln und was er sonst noch so an schlimmen Taten auf Lager habe.

So thronte er tagein tagaus auf der Briefwaage wie ein Merowingerkönig auf seinem Langschild. Herablassend betrachtetete er von dort das winzige Reich des Schreibtischs: eine goldene Uhr, eine Nussschale, ein Blumenstrauß, eine Lampe, ein Tintenfass, ein Lineal, mehrere respektvoll um einen gläsernen Petschaft herum angeordnete Siegellackstangen in leuchtenden Farben.

„Jawohl“, proklamierte er von oben herab, „ich bin der Geist der Briefwaage, und Sie alle sind meine demütigen Untertanen. Die Nussschale diene mir als mein Boot, wenn es mir ankömmt, nach Irland zurückzukehren, die Uhr ist da, um mir die Stunde anzuzeigen, in der ich geruhe, mich schlafen zu legen, der Blumenstrauß sei mein Garten, die Lampe spende mir Licht, wenn es mir beliebt,  nachts aufzubleiben, und mit dem Lineal halte ich die Fortschritte meines Wachstums fest (ich messe 170 Millimeter, seit mir die Idee kam, mittelalterliches Schuhwerk zu tragen).  Mit dem Siegellack habe ich noch nichts Besonderes vor. Aber des Tintenfasses bediene ich mich, wenn mich die Lust packt, Kringel zu spucken.“

Sprachs und spie mit unsäglicher Dreistigkeit in das Tintenfass.

„Hast du denn gar keine Kinderstube?“, protestierte das Tintenfass. „Komm herunter zu mir, dann kriegst du einen schönen Klecks auf deine Wange und in Großbuchstaben „böser Gnom“ auf deinen Buckel geschrieben!“

„Ha, du mit deinem widerwärtigen bleischweren Kloakenwasser kannst mir gar nichts. Wenn ich mich über dich beuge, zeigst du notgedrungen mein Bild.“

Und tatsächlich tauchte seine Fratze, einem bösartigen Teufelchen gleich, schwarz und glänzend auf dem Boden des Tintenfasses auf. 

Sobald sich jedoch sein Herr an den Schreibtisch setzte, heuchelte der Wicht mit falschem Lächeln: „Alles in bester Ordnung. Jetzt kannst du in aller Ruhe auf das Vortrefflichste schriftstellern, ich bin auf meinem Posten.“

Daraufhin blickte der von Natur aus gutmütige und leichtgläubige Dichter den Geist voller Wohlgefallen an, richtete ein Stäbchen grünen Weihrauchs in der Räucherpfanne auf und brannte es ab. Der blaue Dunst stieg in feinen Spiralen hoch zum Kopf des Zwergs und umschmeichelte ihn mit süßlicher Zärtlichkeit. Der Winzling atmete den Duft mit Freuden ein und hüpfte so sehr auf und ab, dass die Waage statt seines Normalgewichts von zehn Gramm nun stolze fünfzehn Gramm anzeigte, woraus er folgerte, dass Beweihräucherung die einzige ihm angemessene Labung sei und nur ihn so erquicken könne.

Eines Nachts riss sanfte Musik ihn aus tiefstem Schlaf. Sie kam von zwei armen fahrenden Sängern. Diese ähnelten ihm in Kleidung und Statur und waren gekommen, um ihm eine Serenade darzubringen. Der eine spielte Gitarre und sang mit Schmalz,  der andere begleitete ihn, indem er sich mit beiden Händen aufs Herz schlug, als wollte er sagen: „Welch göttliche Musik! Nichts dergleichen hat mich je so beglückt!“

„Was soll das? Was geht hier vor?“, entrüstete sich der Kobold und rieb sich die Augen mit wütender Faust. „Wer erdreistet sich, mitten in der Nacht auf meinem Tisch zu musizieren und zu singen?“  

„Wir sind’s nur“, entgegnete der Gitarrist voller Freundlichkeit. „Augenscheinlich hat das Glück dich wohl seit dem Tag deines Abschieds von unserer Spielmannsgruppe nicht mehr verlassen, bist du doch jetzt eine hochgestellte Persönlichkeit. Wie du siehst, haben wir eine lange Reise hinter uns und sind sehr erschöpft …“

„Erstens verbitte ich es mir, dass Sie mich duzen und zweitens und ein für alle Mal: Ich kenne Sie nicht! Ich … in einer Bande von fahrendem Volk … Das kann ja wohl nur ein schlechter Scherz sein … Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Machen Sie, dass Sie wegkommen von hier, und zwar ein bisschen plötzlich. Landstreicherpack!“

„Euer Hochwohlgeboren, Sie müssen uns doch wiedererkennen“, flehte der enttäuschte Musikant. „Wir waren ein Trio! All unsere großen Erfolge … ich stand in der Mitte, mein Gefährte rechts und Sie links, schielend, zur Volksbelustigung. Den gleichen Blick haben Sie ja immer noch drauf. Hier habe ich das Foto, das ein Musikenthusiast geschossen hat an dem Abend, bevor Sie sich davongemacht haben.“

Er legte seine Gitarre zur Seite, zückte eine Rolle Bromidpapier und breitete sie aus. Tatsächlich waren die drei Spielleute aus Leder und Draht abgebildet: Der Rechte war eindeutig der Geist der Briefwaage.

„Jetzt schlägt’s dreizehn“, echauffierte sich dieser. „Derlei Witze mag ich nicht. Ich bin der Geist der Briefwaage, mit Bettlern wie Ihnen habe ich nichts gemein.“

Zeichnung: Briefwaage 2 - Quetzal-Redaktion, gt„Aber Euer Gnaden“, antwortete der Musikus zutiefst betrübt. „Wir verlangen doch nichts Großes. Wir bitten lediglich um die Erlaubnis, hier in ihrem schönen Zuhause zu leben. Bedenken Sie, dass für die Reise unsere gesamten Ersparnisse draufgegangen sind.“

„Und was geht mich das an?“

„Wir werden Sie nicht weiter behelligen und: Wir werden hübsche Romanzen zu Gehör bringen.“

„Ich hasse Musik. Außerdem sehe ich es schon kommen. Sie werden rufschädigende Verlautbarungen in den Umlauf bringen … Ganz herzlichen Dank dafür!  … Die Zahl meiner Neider ist groß … Ich kenne da ein Tintenfass, dem Ihre Verleumdungen äußerst zupass kämen. Sehen Sie zu, wie Sie klarkommen; ich jedenfalls habe nichts mit Ihnen zu tun.“

„Ist das Ihr letztes Wort?“, fragten die Spielmänner bestürzt von so viel Undankbarkeit.

„Ja, unwiderruflich“, schloss der Geist der Briefwaage.

Weil sich die Unglücklichen in ihrer Verzweiflung und Ratlosigkeit aber nicht von der Stelle rührten, keifte er: „Machen Sie, dass Sie fortkommen.“ Und indem er sich auf der Waagschale erhob: „Oder muss ich erst die Polizei rufen?“

Wutschnaubend  rutschte er aus, seine Beine versagten ihm den Dienst, und er stürzte laut fluchend bis auf den Grund des Tintenfasses, das ihn verschluckte. Beseelt von nichts anderem als Respekt und Selbstlosigkeit wollten die beiden Barden ihren alten Freund befreien. Doch bedauerlicherweise ließ das Tintenfass, das noch zahlreiche Rechnungen offen hatte, mit Getöse seinen Deckel zuschnappen, sodass die Wandersänger ihm nicht beispringen konnten.

Als der Dichter am nächsten Tag die Bescherung sah, schwante ihm sofort, was sich zugetragen hatte, und die  Undankbarkeit des Geistes widerte ihn an. Nachdem er ihn aus dem schwarzen Abgrund herausgezogen und vergebens zu reinigen versucht hatte, stopfte er ihn in den hintersten Winkel eines Schubfaches, da er so keine Verwendung mehr für ihn hatte,  ihn aber auch nicht wegwerfen wollte.

Selbst an diesem Verbannungsort hat der Lederwichtel seinen Dünkel nicht abgelegt. Und so unterhält er in altgewohnter Manier seine neue Nachbarschaft, die aus einem kaputten Briefbeschwerer, einer Schildpattschale und einem Stapel alter Rechnungen besteht, mit seinen Fantasiestückchen. „Als ich der Herrscher der Briefwaage war, oblag es mir dafür Sorge zu tragen, dass die Telegramme ankamen. Aber eines Tages warf ein Verrückter mich in ein Tintenfass …“

Was die zwei Bänkelsänger angeht, hat der Dichter sie auf einen Laubzweig platziert. Sie ähneln zwei bunten Paradiesvögeln in einem Urwald und tirilieren dort den ganzen Tag auf das Allerlieblichste.

Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler

 

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Abbildungen: [1]; [2] Quetzal-Redaktion, gt

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