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Politik und Kultur in Lateinamerika

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„Gottes Revolution geschehe wie im Himmel so auf Erden“
Zum 90. Geburtstag von Ernesto Cardenal

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

Nicaragua: Ernesto Cardinal bei einer Lesung 2010 - Foto: Quetzal-Redaktion.gtDieser Ausblick auf Gottes Revolution bildet den Schluss der bisher veröffentlichten Erinnerungen von Ernesto Cardenal. Sie drücken das Credo eines Menschen aus, der sich als Priester stets im Dienst der Armen sah und der als Dichter Weltruhm erlangte. Seine größte Bekanntheit erlangte er aber als Kulturminister Nicaraguas. Für Ernesto Cardenal, der schon 1954 gegen die Diktatur der Somozas gekämpft hatte, war der Sieg der Sandinisten am 19. Juli 1979 eine „wunderbare Revolution“. Sie ließ all das Wirklichkeit werden, wofür er gestritten und gedichtet hatte – „eine neue Gesellschaft …, mit einem Geist von Gemeinschaft, der Solidarität und Kameradschaft“.

Die aktive Mitwirkung eines Priesters an einer bewaffneten Revolution, die sich am sozialistischen Kuba orientierte, mag für europäische Verhältnisse und erst recht im Rückblick des Jahres 2015 seltsam anmuten. Noch mehr mag verwundern, wenn man weiß, dass die Familie des am 20. Januar 1925 geborenen Ernesto Cardenal Martínez der traditionellen nicaraguanischen Oberschicht angehört. Was hat ihn veranlasst, mit seiner Klasse zu brechen und bis heute für den Kommunismus als Himmelreich auf Erden einzutreten?

Den jungen Ernesto zog es schon frühzeitig zur Dichtkunst, mit 18 Jahren begann er zu schreiben. In Nicaragua, dem „Land der Dichter“, fand er dafür gute Bedingungen, zumal die nicaraguanischen Poeten sich nicht nur gegenseitig beeinflussten, sondern die älteren die jüngeren förderten. Doch Nicaraguas Dichter wollten ihrem Land nicht nur eine künstlerische Stimme geben, sondern auch eine politische. Für Ernesto Cardenal, der sich bereits als Student politisch betätigte und sich 1954 an der sogenannten April-Revolution gegen Somoza beteiligte, wurde diese Verbindung von Poesie und politischem Engagement zu einem wesentlichen Attribut.

Ich ziehe den Vers vor, wie sie wissen, denn er ist leichter und kürzer
und das Volk nimmt ihn besser auf, genau wie ein Poster.
Ohne zu vergessen, dass revolutionäre Kunst ohne künstlerischen Wert
keinen revolutionären Wert hat.

(Epistel an José Coronel Urtecho)

1952 erhielt er seinen ersten Literaturpreis für „Mit Walker in Nicaragua“. Schon damals zeichneten sich seine Gedichte durch ihre historischen Bezüge und klaren politischen Bekenntnisse aus. Sein künstlerisches Schaffen brachte ihn auch in Kontakt zu Thomas Merton, der Ernesto Cardenal während dessen Noviziats im Trappistenkloster von Gethsemani (Kentucky/ USA) begleitete und der zu dessen väterlichem Freund wurde. Für den jungen Dichter, der 1961 in Medellín (Kolumbien) in ein Priesterseminar eintrat und 1965 seine Priesterweihe in Managua erhielt, war diese Entscheidung zugleich eine Art Flucht aus dem Kapitalismus. Aber eine Flucht, die ihn politisch radikalisierte. Cardenal selbst kommentiert dies mit folgenden Worten: „In Wirklichkeit bin ich durch das Evangelium zur Revolution gekommen, also nicht durch Karl Marx, sondern durch Christus. Das Evangelium hat mich zum Marxisten gemacht.“

Diese Radikalisierung teilt Ernesto Cardenal mit anderen Lateinamerikanern seiner Generation, die sich in ihrer Jugend für die bewaffnete Revolution entschieden hatten und dafür zum Teil ihr Leben ließen. Politisch sozialisiert wurde diese Generation vor allem durch die Herrschaft brutaler Militärdiktatoren, die im Dienste Washingtons die Bevölkerung unterdrückten. Im Falle Nicaraguas kommt hinzu, dass das Erbe Sandinos, der erfolgreich gegen die Intervention der US-Marines gekämpft hatte und 1934 von Anastasio „Tacho“ Somoza ermordet worden war, lebendig blieb.

Der junge Dichter Ernesto Cardenal setzte sich früh mit diesem Erbe auseinander:

Es gab einen Nikaraguaner im Ausland,
einen „Nica“ aus Niquinohomo,
der arbeitete in der Huasteca Petroleum Co. in Tampico.
Und er hatte fünftausend Dollar gespart.
Und er war weder Militär noch Politiker.
Und er nahm dreitausend Dollar von den fünftausend
und ging nach Nikaragua zu Moncadas Revolution.
Doch als er ankam, ergab sich Moncada.
Der Nica blieb drei Tage traurig im Cerro del Común.
Traurig, ohne zu wissen, was er tun sollte.
Und er war weder Militär noch Politiker.
Er dachte und dachte, und schließlich sagte er zu sich:
Jemand muss es tun.

                        Und dann schrieb er sein erstes Manifest.
(Stunde Null)

Aus der nicaraguanischen Geschichte allein lässt sich der Werdegang von Ernesto Cardenal jedoch nicht begreifen. Hinzu kommen die enge Bekanntschaft mit der kubanischen Revolution und das konsequente Engagement als Befreiungstheologe. 1970 wird er das erste Mal nach Kuba eingeladen. „Meine Erfahrung mit Kuba war entscheidend für mich. Meine erste Reise dorthin, 1970, veränderte mein Leben völlig. Es war wie eine zweite Bekehrung. Die erste war die religiöse, eine Bekehrung zu Gott, diese zweite eine Bekehrung zur Revolution.“

1961 wurde die Frente Sandinista de Liberación Nacional gegründet, um die Familiendiktatur der Somozas zu stürzen. Ernesto Cardenal, der 1966 in Solentiname eine christliche Basisgemeinde gegründet hatte, wurde im Geheimen Sandinist und unterstützte die FSLN ab 1976 durch öffentliche Aktionen im Ausland. Nachdem die somozistische Nationalgarde im Oktober 1977 die Kommune von Solentiname zerstört hatte, ging Cardenal ins Exil nach Costa Rica und bekannte sich auch öffentlich zu den Sandinisten. Erst nach dem Sturz Somozas im Juni 1979 kehrte er nach Nicaragua zurück.

Als Ernesto Cardenal 1979 von den Sandinisten zum Kulturminister berufen wurde, konnte er seine Fähigkeiten als Künstler, Politiker und Priester miteinander vereinen, um aus dieser Synergie die notwendige Kraft für den Aufbau der von ihm erträumten Gesellschaft zu schöpfen. Was er in Solentiname im Kleinen begonnen hatte, fand nun seine Fortsetzung im Großen. Die Alphabetisierungskampagne 1980, der Aufbau von Dichterwerkstätten und eines nationalen Filminstituts, fahrbare Bibliotheken, beeindruckende Wandmalereien, die Auftritte vieler bekannter Künstler aus dem Ausland in Nicaragua, neue Verlage und eine eigene Buchmesse – all das sind Meilensteine der kulturellen Erneuerung Nicaraguas. Die einfachen Nicaraguaner griffen diese Initiativen begeistert auf und veränderten damit sich selbst und ihre Gesellschaft. Der Enthusiasmus und das Glücksgefühl der Menschen ist jetzt noch zu spüren, wenn man in den Erinnerungen Ernesto Cardenals liest.

Die Tätigkeit als Kulturminister des revolutionären Nicaraguas brachte ihm aber auch die Feindschaft zweier Mächtiger ein. Sein Landsmann und Dichterkollege José Coronel Urtecho kommentierte dies mit folgenden Worten: „Was die weltweite Bedeutung der nicaraguanischen Revolution besonders hervorhebt, ist die Tatsache, dass ihre beiden Hauptfeinde Reagan und der Papst sind“. Als Johannes Paul II. am 4. März 1983 Managua besuchte, kam es zu einem Zusammentreffen mit dem nicaraguanischen Priester, dessen Bilder um die Welt gingen. Als Ernesto Cardenal vor dem Papst niederkniete, wies dieser ihn mit erhobenen Zeigefinger zurecht und demütigte ihn so in aller Öffentlichkeit. Später wurden er und zwei andere Priester, die Regierungsposten bei den Sandinisten innehatten, darunter auch sein Bruder Fernando Cardenal, vom Vatikan wegen ihrer politischen Ämter gemaßregelt.

In Nicaragua erwies sich besonders Rosario Murillo als seine Widersacherin. Murillo, die Ehefrau des damaligen und heutigen Präsidenten Daniel Ortega, ist selbst Dichterin und teilt die poetischen Auffassungen Cardenals überhaupt nicht. So sabotierte sie auch die Dichterwerkstätten des Kulturministers, die dieser initiierte, um auch den Nicaraguanern, die bisher davon ausgeschlossen waren, die Möglichkeit zu geben, sich schreibend selbst zu entdecken und ihre eigenen Erfahrungen festzuhalten. Da er aber keine platten Lobeshymnen auf die Revolution fördern wollte, versuchte er den Teilnehmern der Werkstätten in einem Regelwerk die Prinzipien der modernen nicaraguanischen Dichtung nahezubringen. Unter anderem fordert er sie darin auf, nur über das schreiben, das sie kennen und verstehen und möglichst keine abstrakten Begriffe zu verwenden, konkret zu schreiben. Möglicherweise hatte Rosario Murillo ja deshalb solche Probleme mit Cardenal.

Aus Protest gegen den zunehmend autoritären Führungsstil von Daniel Ortega verließ er 1994 die FSLN. Er blieb aktiv, wandte sich aber mehr seiner Dichtung zu. 1989 veröffentlichte er seinen Cántico cósmico (dt. Gesänge des Universums), der als ein epochales Werk der lateinamerikanischen Dichtung gefeiert wurde.

Trotz der Differenzen mit der sandinistischen Führung, Ortegas Präsidentschaft nannte er eine Familiendiktatur, ist er nach wie vor nicht bereit, die „verlorene Revolution“ (so die wörtliche Übersetzung des Titels des dritten Bandes seiner Erinnerungen) im Rückblick kleinzureden. In einem Interview nannte er die nicaraguanische Revolution einmal die vielleicht „schönste Revolution, die jemals stattgefunden hat“. Er bringt das Kunststück fertig, sie einerseits sachlich zu kritisieren, andererseits aber als das zu würdigen, was sie war: Als einen „Sieg der Poesie“, als „die Zurückeroberung unserer nationalen Identität“ und als kulturelle Revolution sowie als ein friedliches Gemeinschaftswerk von Marxisten und Christen, was ihr für immer einen außergewöhnlichen Platz in der Geschichte einräumt. Er benennt kritisch die Fehler in der Politik, die ausufernde Bürokratie, autoritäres Verhalten etc. Als Priester weiß Cardenal nur zu gut um die menschlichen Schwächen, weshalb er gegenüber Journalisten gern darauf verweist, dass es der größte Fehler der Revolution gewesen sei, dass sie von Menschen gemacht wurde.

Die Theologie der Befreiung bleibt für ihn der Kern seines Selbstverständnisses als Christ. Sie habe sich, so sagte er einmal, zur Theologie des Pluralismus gewandelt. Diese war seinerzeit von Kardinal Ratzinger als ebenso schädlich eingeschätzt worden wie ihre Vorgängerin, weil sie den Pluralismus predige, das Miteinander der Religionen.

„Keine Religion kann und darf für sich reklamieren, die einzig wahre zu sein. Alle haben ihre Existenzberechtigung, sind genauso falsch wie sie wahr sind. Sie müssen sich untereinander respektieren, damit es eine tatsächliche Vereinigung der Armen geben kann.“

Werke (Auswahl):

Zerschneide den Stacheldraht. Südamerikanische Psalmen. Wuppertal 1967

In Kuba. Bericht von einer Reise. Wuppertal 1972

Das Evangelium der Bauern von Solentiname. 2 Bände, Wuppertal 1976/78 (Neuausgabe 1991)

Meditation und Widerstand. Dokumentarische Texte und neue Gedichte. Gütersloh 1977

In der Nacht leuchten die Wörter. Gedichte. Berlin 1979

Auferstehung der Völker. Berlin 1982

Das poetische Werk. 9 Bände. Wuppertal 1985–89

Wir sind Sternenstaub. Neue Gedichte und Auswahl aus dem Werk. Wuppertal 1993

Gesänge des Universums– Cantico Cosmico. 2 Bände. Wuppertal 1995

Erinnerungen. 3 Bände:

1. Verlorenes Leben. Wuppertal 1998

2. Die Jahre in Solentiname. Wuppertal 2002

3. Im Herzen der Revolution. Wuppertal 2004

Etwas, das im Himmel wohnt. Neue Gedichte. Wuppertal 2014

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Bildquelle: Quetzal-Redaktion,gt.

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