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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Blanca Nieves und Kompanie

Teresa de la Parra | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

Blanca Nieves, die an Alter und Größe den dritten Rang unter den Mädchen einnahm, war damals fünf. Sie hatte einen bronzenen Teint, dunkle Augen, pechschwarzes Haar, sonnengebräunte Beine, noch brauner gebrannte Arme und ich muss demütig gestehen dieses „Schneeweißchen“ zu sein, ohne der Bezeichnung auch nur im Geringsten zu entsprechen.

Da ich und mein Name nun mal untrennbar zusammengehörten, gaben wir beide zu jeder Zeit einen wandelnden Widerspruch ab und nur der Macht der Gewohnheit war es zu verdanken, dass diese Ungereimtheit allgemein einfach hingenommen wurde, ohne sich großartig darüber zu wundern oder lächerlich zu machen. Wie später zu sehen sein wird, trug Mama die Schuld an dieser hanebüchenen Albernheit, da sie aus einem Hang zum Poetischen die Wirklichkeit verkannte und sie irgendwelchen willkürlichen und gefälligen Gesetzen unterwarf, die sie sich von ihrer Fantasie eingeben ließ. Die Realität blieb aber unerbittlich.

Ebendarum leerte Mama mit verschwenderischer Hand auf Schritt und Tritt ein Füllhorn von Fehlentscheidungen aus, die gleichermaßen unumkehrbar wie voller Anmut waren. Blanca Nieves war eine solche Entgleisung, die mich lange Zeit zur Zielscheibe harmlosen Spottes machte. Meiner dreizehn Monate älteren Schwester den Namen Violeta zu geben, war ein weiterer noch viel schwerwiegender Ausrutscher – doch davon später. Hier sei nur so viel gesagt, dass meine fünf Schwestern und ich damals unserem Alter nach – von sieben Monate bis sieben Jahre – ordentlich wie die Orgelpfeifen aufgereiht waren. Von unserem jeweils fest zugeteilten Posten aus herrschten wir in aller Einfachheit über die ganze Welt. Diese lag innerhalb der Grenzen unserer Plantage Piedra Azul und diente wohl nur dem einen Zweck, uns ein gutes Zuhause zu sein, wo es jeden Tag aufs Neue Spannendes und Überraschendes zu entdecken gab.

An diesem Ort, dessen Bannkreis wir Mädchen niemals überschritten, lebten wir von Anfang an mit unserer Mama und unter der Herrschaft von Papa, einer Art Reitergottheit mit Gamaschen, kastanienbraunem Bart und breitkrempigem Panamahut.

Kultur_blancanieves1_Quetzalredaktion_gtNeben Papa und Mama war da noch Evelyn, eine englische Mulattin von der Insel Trinidad, die uns badete, uns unsere Kleidung nähte, uns in artikellosem Spanisch maßregelte und bereits in aller Herrgottsfrühe wie aus dem Ei gepellt aussah mit ihrem Korsett, ihrer gestärkten Bluse, ihrer Schürze und ihrem Ledergürtel. Rund um die Uhr vermittelte sie in ihrem Mieder und mit ihrem widerspenstigen krausen Haar, das leicht glänzte und soweit wie möglich glatt gebürstet war, den Eindruck von Ordnung, Beherrschtheit und Strenge – derweil ein dezenter Duft von Kokosöl ihren Körper umspielte.

Jeder ihrer Schritte wurde begleitet von einem sanften Geraschel, mit dem sich ihre Vorliebe für Wäschestärke und ihre pragmatische Einstellung verrieten, die sie – ebenso fest wie eine Auster an ihrer Muschel haftet – auf dem Boden der Tatsachen stehen ließ. Weil sich Gegensätze ja bekanntlich anziehen, war Mama Evelyns größte Bewunderin. Wenn Evelyn mit dem ihr typischen Geraschel sich mit einer oder zweien von uns an der Hand entfernte, kam es nicht selten vor, dass Mama die Augen zum Himmel erhob und sanft, aus tiefster Seele im Ton eines feierlichen Dankgebets und in ihrer unverkennbaren Sprachmelodie ausrief: „Evelyn ist mein Fels in der Brandung. Was täte ich nur ohne sie!“

Wie ich Jahre später herausfand, hatte sich ihr „Fels in der Brandung“ einzig und allein deshalb von Trinidad nach Piedra Azul begeben, um uns Mädchen Englisch beizubringen. Von einer derartigen Abmachung wussten wir allerdings nichts, einfach daher, weil wir zu der damaligen Zeit – trotz Evelyn – nicht die geringste Ahnung davon hatten, dass es diese Sprache überhaupt gab. Das hätte alles auch nur unnötig verkompliziert. Auch die Artikel unserer Muttersprache fanden wir entbehrlich und so störte es uns in keinster Weise, wenn Evelyn uns so ausschimpfte: „Schon wieder hast du Trotzkopf mit Rumgerutsche auf Boden sauberes Kleidchen schmutzig gemacht!“

Zu Evelyns Tross gehörten drei Kindermädchen, die ihr unmittelbar unterstanden, im Rang aber den anderen Bediensteten übergeordnet waren und die Evelyn dabei unterstützten uns zu baden, anzuziehen und zu Bett zu bringen. Sie wurden in unserem Haushalt so häufig ausgetauscht, dass ich heute nur noch ganz verschwommene und dunkle Erinnerungen an ihre dunklen Gesichter und ihre so vertrauten wie ausgefallenen Namen habe: Hermenegilda … Eufemia … Pastora … Armanda. Abgesehen von Evelyns Stab hatten wir noch zwei Hausmädchen: Altagracia, die bei Tisch bediente und Jesusita, die die Betten machte, und von der sich Mama, während sie sich sanft in der Hängematte wiegte, oft stundenlang ihre schöne, naturgewellte und offene Haarpracht frisieren ließ.

In der Küche schaltete und waltete, einen halben alten Sack wie eine Glasbläserschürze um die Taille gebunden, die stets bärbeißige Candelaria, von der Papa oft sagte, wenn er sich eine Hallaca1 oder eine Tasse schwarzen Kaffee schmecken ließ: „Meinetwegen können alle von hier weggehen, Hauptsache Candelaria bleibt“. Und mochte auch Jahr um Jahr vergehen und ein jedes sich ändern – Candelaria lief weiterhin unbeirrt mit ihrem alten Fetzen, dem Schüreisen und ihrer auf ewig erzürnten Seele inmitten des Kochgeschirrs zwischen Mahlstein und Kaffeesieb hin und her.

Außerhalb von Haus und Küche gab es schließlich noch den Majordomus, die Halbpächter, die Tagelöhner, die Zuckersiederei, die Kühe, die Kälbchen, die Mangobäume, den Fluss, die Schmetterlinge, die abscheulichen Kröten, die halbmythischen furchterregenden Schlangen und vieles mehr, was aber hier aufzuzählen zu weit führen würde.

Wie bereits gesagt bildeten wir sechs Orgelpfeifen unangefochten das Zentrum dieses Universums. Wir wussten nur zu genau, dass Papa, Mama, die Schlangen, Evelyn und Candelaria – alle, wirklich alle bloß zu unserem Wohl und Wehe existierten, einzig unseren Wünschen untergeordnet. Wir waren uns dessen absolut sicher, ohne uns jedoch etwas darauf einzubilden. Seinen Grund hatte diese Bescheidenheit in unseren klaren und bodenständigen Ansichten, die uns davor bewahrten, anmaßend und habgierig das uns Zustehende zu überschreiten.

Ist es doch nur zu wahr, dass eitle Meinungen hoffärtige Wünsche und Seelen nach sich ziehen. Von alledem waren wir gottlob aber frei und darin den Tieren gleich.

In gesellschaftlicher Hinsicht ähnelten wir in jenen Urzeiten Adam und Eva, die von Gott unschuldig und nackt geschaffenen absoluten Herrscher der Welt. Dabei waren wir sechs jedoch den beiden gegenüber entschieden im Vorteil, zum einen wegen Mama, die, um es hier einmal ganz unvoreingenommen anzumerken, mit ihren zarten 24 Jahren, ihren sechs kleinen Mädchen und ihren mit Volants besetzten Kleidern eine wahre Augenweide war, zum anderen – ein weiterer, nicht minder angenehmer Vorteil – durch den Ungehorsam, der ungeahndet blieb, wenn wir, während Evelyn zu Tisch war, unbemerkt so viele Guaven wie möglich in uns hineinstopften, dennoch aber von Gott nicht aus dem Paradies vertrieben und mit Strafen und Unglück überzogen wurden.

Der arme Papa hatte, ohne es verdient zu haben oder davon auch nur etwas zu ahnen, in unseren Augen die undankbare Rolle Gottes inne. Auch wenn er uns nie tadelte, zollten wir aus religiöser Ehrfurcht seiner höchsten Autorität den Tribut eines magischen, von Mystik durchdrungenen Schreckens.

Um ein Beispiel zu nennen: Wenn Papa sich in sein Büro eingeschlossen hatte, verstanden wir es großzügig über diesen Tatbestand hinwegzusehen. Wir bezogen in der an jenes Allerheiligste angrenzenden Vorhalle Quartier, schwangen dort in einer Reihe gleichzeitig unsere Beinchen in die Höhe und brüllten im Chor: Riquiriqui riquirán, los maderos de San Juan2. Da aber erschallte eine klare und kräftige Stimme, nämlich die von Papa, unerwartet aus dem Arkanum des Arbeitszimmers: „Bringt diese Mädchen zur Räson und lasst sie an einem anderen Ort spielen!“ Wie gebannt zum Verstummen gebracht, verharrten wir einige Sekunden regungslos mit weit aufgerissenen Augen und einer Hand vor dem Mund, bis wir uns dann schließlich alle zusammen förmlich überschlugen, um schnellstmöglich an das entgegengesetzte Ende des Flurs zu gelangen, wie Mäuse, die das Mauzen einer Katze vernommen haben.

Kultur_blancanieves2_Quetzalredaktion_gtZum Ausgleich dafür kletterten wir dort bisweilen auf die an vier gespannten Seilen an einem Rosenapfelbaum hängende Schaukel, wo sich an einem lauschigen Plätzchen Mamas Hängematte, ihr Schaukelstuhl und ihr Nähtischchen zwischen Palmen und Säulen ein Stelldichein gaben. Zu sechst standen wir auf dem Spielgerät, hielten uns an der Aufhängung oder aneinander fest, schwangen hin und her, was das Zeug hielt und untermalten unser Bravourstück mit angsterfülltem Geschrei. Plötzlich richtete sich Mama mit Hilfe von Jesusita aus den Tiefen ihrer Hängematte auf, stark aufgeplustert in ihrem weißen, dicht mit Spitzen und Volants besetzten Hauskleid, mit wallendem Haar und dem neuesten Roman von Dumas dem Älteren in Händen. „Herr im Himmel, nun seid doch nicht so ungezogen! Wenigstens zwei oder drei von euch steigen jetzt sofort ab! Seht ihr denn nicht, dass die Schaukel für so viele nicht gemacht wurde? Die Kleinsten werden stürzen! Tut mir um Gottes Willen den Gefallen und kommt sofort da herunter! Und jetzt stört mich nicht weiter, ihr Plagegeister!“

Vom sanften Singsang und den langgezogenen Kadenzen ihrer Stimme wie durch ein Wiegenlied eingelullt verfielen wir in den so vorgegebenen Takt: Auf …, ab …, auf …, ab … . Und berauscht von den Höhen, in die wir uns erhoben sowie von unserem „über die Stränge schlagen“ warfen wir Mama eine Zeitlang Kusshände zu und lächelten sie verliebt an, bis letztendlich alarmiert von unserem Kreischen Evelyn mitsamt ihrem Geraschel auf die Schaukel zulief, sie anhielt, eine nach der anderen von uns von den Seilen abpflückte wie reife Beeren von einer Rebe und uns so dem Boden zurückgab.

Reiste Mama in einem Zweispänner nach Caracas – eine herzzerreißende Begebenheit, die sich alle 15 bis 16 Monate wiederholte – und kehrte sie nach drei Wochen in eben jenem Gefährt so gertenschlank wie ehedem mit einem neuen kleinen Mädchen zurück, ganz so als ob sie es in Wirklichkeit unterwegs in einem Geschäft erstanden hätte, so war – kurz gesagt – unser Leben während des Interregnums unter Evelyns Militärdiktatur eine äußerst ungute, ja abscheuliche, finstere und grabesschwarze Angelegenheit.

Wenn aber gegen neun Uhr morgens der Stallbursche mit Papas Reitpferd Caramelo kam und Papa ein bisschen weiter weg auf einem Stuhl saß, ein Bein über das andere geschlagen, um sich die Sporen anzulegen, verbreitete sich unter uns die frohe Botschaft: „Gleich ist er weg! Gleich ist er weg! Gleich ist die Halle frei für riquiriqui.“

Zwischen Papa und uns bestand ganz eindeutig ein unterschwelliges, auf Dauer angelegtes Missverhältnis. Abgesehen von jenem einen Mal in unserem Leben waren wir ihm gegenüber nie unfolgsam. Das eine Mal aber reichte aus, uns ohne heftige Wortwechsel oder gar Handgreiflichkeiten über viele Jahre hinweg zu entzweien. Jene himmelschreiende Sünde trug sich am Tag unserer Geburt zu. Hatte Papa doch bereits vor seiner Vermählung feierlich erklärt: „Ich wünsche mir einen Sohn und er soll Juan Manuel heißen – genau so wie ich.“

Aber statt Juan Manuel kamen der Reihe nach Aurora, Violeta, Blanca Nieves, Estrella, Rosalinda, Aura Flor: Inbegriffe der Natur, triefend vor süßer Poesie. Papa war kein Dichter und auch kein schlechter Mensch und so hatte er mit dieser blumigen Schwemme ein huldvolles Einsehen und gewährte ihr eine herabsetzende, unseren Stolz zutiefst verletzende Gönnerhaftigkeit, so dass sich die Unstimmigkeit auf ewig fortsetzte.

Ja, Don Juan Manuel, deine stumme Nachsicht war eine große Kränkung! Um zwischen dir und deinen sechs Mädchen ein besseres Einvernehmen zu erzielen, wäre es tausendmal klüger gewesen, deiner Unzufriedenheit hin und wieder mit Worten oder Zornesausbrüchen Ausdruck zu verleihen. Deine Schicksalsergebenheit versperrte wie ein riesiger von dir gefällter Baum den Weg zu unseren Herzen. Beklag‘ dich also nicht, dass – wenn sich beim Ritt in die Sonne deine mit einem Panamahut gekrönte Gestalt auf dem tänzelnden Caramelo in den grünen Zuckerrohrfeldern langsam verlor – diese für uns nicht bedeutungsvoller war als die des Soldaten Bolívar, dessen gerahmtes Bildnis über der verschlossenen Tür deines Arbeitszimmers hing und der tagein tagaus ebenfalls hoch zu Ross in der Gloriole seines gezückten Schwertes mit stolzgeschwellter Brust die ruhmreiche Schlacht von Carabobo befehligte.

 

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Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler

Bildquellen: [1], [2] Quetzal-Redaktion_gt

1Traditionelle venezolanische Spezialität: mit verschiedenen Fleischsorten gefüllte Maispastete, die in Bananenblätter gewickelt war.

2Venezolanisches Kinderlied.

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