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Die Kubakrise 1962 – Vor 60 Jahren stand die Welt am Abgrund

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 18 Minuten

„Die großen Bomben erfüllen ihren Zweck, den Frieden und

die Freiheit zu schützen, nur, wenn sie nie fallen. Sie erfüllen diesen Zweck

auch nicht, wenn jedermann weiß, dass sie nie fallen werden. Eben deshalb

besteht die Gefahr, dass sie eines Tages wirklich fallen werden.“

Carl Friedrich von Weizsäcker (Der bedrohte Friede, München & Wien 1982, S. 36-37)

 

Das obige Zitat findet sich in einem Beitrag von Bernd Greiner in der diesjährigen Juni-Nummer der renommierten Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“. Dort spannt der Autor den Bogen von der Kubakrise 1962 zum Ukrainekrieg 2022. Beide – der 60. Jahrestag der „gefährlichste(n) Krise des Kalten Krieges“ (Steiniger 2019, S. 39) wie auch der eskalierende Krieg in der Ukraine – haben bei aller Unterschiedlichkeit eines gemeinsam: Sie rücken die Gefahr, dass die „großen Bomben“ wirklich fallen, mit größtem Nachdruck in unseren Blick und unser Leben. Hier soll zunächst die Betrachtung der Kubakrise im Mittelpunkt stehen, die sich vor allem auf die Lektüre dreier Bücher stützt. Neben dem 2010 erschienenen Titel „Die Kuba-Krise. Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg“ von Bernd Greiner sind dies die Arbeiten der Historiker Reiner Pommerin von 2022 und Rolf Steininger von 2019. Die aus ihnen gewonnenen Einsichten sollen helfen, einer Forderung nachzukommen, die in der April-Ausgabe von „Le monde diplomatique“ formuliert wurde – „Von der Kubakrise lernen“.

Balancieren am Abgrund

Nach dem Scheitern der von der CIA organisierten Invasion gegen das revolutionäre Kuba im April 1961 hatte Washington seine Anstrengungen verstärkt, den Regimewechsel in Havanna mit noch größerem Einsatz zu erzwingen. In den folgenden Monaten wuchs die Gefahr des direkten militärischen Eingreifens der USA. Teil der Eskalation waren Spionageflüge über der Insel. Auf Fotos, die eine amerikanische U2 am 14. Oktober 1962 geschossen hatte, wurden Abschussrampen von sowjetischen Mittelstreckenraketen entdeckt. Am Morgen des 16. Oktober unterrichtete McGregor Bundy, Sicherheitsberater von Präsident John F. Kennedy, diesen von der Stationierung atomarer Waffen auf der Karibikinsel. „Plötzlich stand die nukleare Bedrohung gleichsam vor der Haustür.“ (Pommerin 2020, S. 101). Die allgemeine Chronologie der folgenden Ereignisse ist bekannt. Noch am selben Tag stellte Kennedy unter der Bezeichnung Executive Committee of the National Security Council (ExComm) ein kleines Beratungsgremium zusammen, dem neben seinem Bruder Robert wichtige Minister und ausgewählte Mitarbeiter des Weißen Hauses angehörten. In den nächsten Tagen wurden drei Lösungsvorschläge im ExComm debattiert (ebenda, S. 101-118).

Ein massiver Luftangriff mit anschließender Invasion wurde zuerst favorisiert. Verteidigungsminister Robert McNamara schlug täglich 1000 Luftangriffe an fünf aufeinander folgenden Tagen vor. Später rückte die Verhängung einer Blockade in den Vordergrund, während gleichzeitig die Vorbereitungen für eine Invasion weiterliefen (ebenda, S. 123, 129). Mit seinem Vorschlag, vielleicht doch noch diplomatische Schritte zu erwägen, war Bundy in der ersten Sitzung des ExComm der Einzige in der Runde. Am 22. Oktober um 19 Uhr wandte sich der Präsident mit einer Radio- und Fernsehansprache an die amerikanische und internationale Öffentlichkeit. Nachdem er unter Verweis auf die Stationierung offensiver sowjetischer Nuklearwaffen auf Kuba die bisher getroffenen Gegenmaßnahmen aufgezählt hatte, drohte es mit weiteren Maßnahmen. „Kennedys Rede schloss mit der eindringlichen Warnung: Falls von Kuba aus eine nukleare Rakete auf einen Staat der westlichen Hemisphäre abgefeuert würde, würde er dies als einen Angriff auf die USA ansehen und einen umfassenden nuklearen Vergeltungsschlag gegen die Sowjetunion auslösen. Damit berief er sich deutlich auf die Strategie der massive retaliation. Den ‚Schwarzen Peter‘, den Makel eines möglichen nuklearen Erstschlags, hatte er damit der Sowjetunion zugeschoben“ (ebenda, S. 120).

massive retaliation (Massive Vergeltung)

Die Bereitschaft der Vereinigten Staaten zum Einsatz nuklearer Waffen unterstrich das im Sommer 1956 von den Oberbefehlshabern der amerikanischen Teilstreitkräfte, der Joint Chiefs of Staff (JCS), erstellte strategische Konzept für einen allgemeinen Krieg. Darin hieß es unmissverständlich: „Unabhängig von der Art des Kriegsausbruchs werden die nuklearen Waffen von Anfang an eingesetzt.“ Im April 1957 nahm der NATO-Rat diese strategischen Richtlinien sowie die Maßnahmen zu ihrer Umsetzung an. Nukleare Waffen sollten demnach bei einem sowjetischen Angriff immer dann zum Einsatz kommen, wenn dieser die Dimension eines militärischen Einfalls, einer Unterwanderung oder einer lokalen feindlichen Aktion überschritt. Als beste Vorsorge gegen einen nuklearen Angriff der Sowjetunion galt die Fähigkeit zu sofortiger „massiver Vergeltung“. Diese massive retaliation bedeutete letztlich den vernichtenden nuklearen Gegenschlag.

(Pommerin, Reiner: Die Kubakrise 1962, S. 17-18)

Am 23. Oktober trat in New York UN-Sicherheitsrat zusammen. Zur selben Zeit stimmte der Konsultativrat der Außenminiaster der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Washington der Verhängung der Quarantäne gegen Kuba zu. Am folgenden Tag versetzten die JCS erstmals in der Geschichte des Kalten Krieges das strategische Bomberkommando in die Alarmstufe DEFCON 2 und aktivierten die Quarantäne zur Isolierung Kubas. Daraufhin dehnte die Sowjetunion am 26. Oktober die Gefechtsbereitschaft auf Wandmalerei von Fidel Castro in Neapel (Quelle: Quetzal-Redaktion GC)die Streitkräfte des Warschauer Vertrages aus und versetzte ihre Truppen auf Kuba in volle Alarmbereitschaft. Fidel Castro ordnete seinerseits die Kriegsbereitschaft für die kubanischen Streitkräfte an. Jeder fünfte US-Amerikaner rechnete inzwischen damit, dass die Quarantäne zu einem dritten Weltkrieg führen würde (ebenda, S. 121-124).

Ihren Siedepunkt erreichte die Krise am 27. Oktober 1962, als US-Major Rudolf Anderson, der mit seiner U2 die Region um Bahía de Banes überflogen hatte, über kubanischem Territorium von einer sowjetischen Luftabwehrrakete tödlich getroffen wird und abstürzt (ausführlich bei Reiner Pommerin, S. 7-12 und 131-134). Nikita Chruschtschow, das damalige sowjetische Partei- und Staatsoberhaupt, informierte die Präsidiumsmitgliedern des ZK der KPdSU über die erneute Zuspitzung der ohnehin gefährlichen Situation. Es bestehe die Gefahr eines Krieges mit den USA und somit einer nuklearen Katastrophe. Um die Welt zu retten, müsste die Sowjetunion ihre Raketen aus Kuba abziehen. Dies sei möglich, da das Ziel, eine US-Invasion auf Kuba zu verhindern, erreicht sei. Damit diese schicksalhafte Entscheidung Kennedy noch rechtzeitig erreichte, ließ Chruschtschow die Nachricht sogar über Radio Moskau verkünden. Am 28. Oktober 1962 konnte die Welt aufatmen: Der Balanceakt am Rande eines nuklearen Weltkriegs fand ein friedliches Ende.

Drohende US-Invasion gegen Kuba

Wie bei jedem Konflikt – und dies gilt für die Krise von 1962 in besonderem Maße – verbinden sich auch bei diesem eine oftmals komplexe Vorgeschichte mit mannigfaltigen Hintergründen, verborgenen Motiven, schwer kalkulierbaren Risiken und unerwarteten Zufällen, ohne deren Einbeziehung sowohl seine Ursachen als auch sein Ausgang unverständlich bleiben. Dabei stellen sich solche Fragen wie: Warum hielten sowohl Kuba als auch die Sowjetunion eine Stationierung von Atom-Raketen auf Kuba für erforderlich? Wie ist die Reaktion der USA zu bewerten? Welche Interessen und Absichten verfolgten die in den Konflikt involvierten Akteure? Wie ist die rasche Eskalation zu erklären und welche Rolle spielten dabei Angst, Missverständnisse und Charaktereigenschaften der handelnden Personen? Welchen Anteil hatten glückliche Zufälle an der Verhinderung eines Nuklearkrieges? Wer hat gewonnen und wer verloren? Welche Lehren lassen sich aus der Kubakrise von 1962 ziehen?

Zunächst zur Vorgeschichte: Die Kubaner hatten unter Führung Fidel Castros eine Revolution gewagt, die sowohl den ökonomischen als auch den geopolitischen Interessen der USA zuwiderlief. Spätestens nach der Enteignung US-amerikanischer Unternehmen und der Annäherung an die Sowjetunion nahm Washington 1960 Kurs auf einen Regimewechsel in Havanna. Als Kennedy im Januar 1961 sein Amt als US-Präsident antrat, übernahm er von seinem Vorgänger Eisenhower zugleich das Projekt einer Invasion gegen Kuba. Das Unternehmen, das als „Landung in der Schweinebucht“ bekannt ist, scheiterte jedoch am 19. April kläglich. Nach dem Schweinebucht-Fiasko eröffneten die Kennedy-Brüder – John und Robert – eine „Familien-Vendetta gegen Castro“ (Greiner 2010, 24). Bereits auf einer NSC-Sitzung, die am 27. April stattfand, zeigte Kennedy seine Entschlossenheit, „Castro für die erlittene Niederlage in der ‚Schweinebucht‘ zu bestrafen. Der Präsident wies McNamara an, einen militärischen Plan zum Sturz Castros ausarbeiten zu lassen.“ (Pommerin, S. 75)

Auch die Außenpolitik der USA gegenüber Kuba wurde auf den Sturz Castros ausgerichtet. Am 4. November ordnete Kennedy die Operation „Mongoose“ an, mit der die Mord- und Umsturzpläne gegen die Revolution auf der Karibikinsel koordiniert werden sollten. Die Operation „entwickelte sich tatsächlich zu einem der größten und am besten ausgestatteten Unternehmen, die je von amerikanischen Geheimdiensten in der Dritten Welt durchgeführt wurden. 600 CIA-Agenten wurden Ende 1961 auf dem Campus der Universität von Miami zusammengezogen; mehr Personal arbeitete nur am Hauptsitz der Firma in Langley.“ (Greiner 2010, S. 26)

Mitte Januar 1962 betonte Robert Kennedy noch einmal die Dringlichkeit der Kubafrage: „Alles andere ist jetzt zweitrangig.“ (ebenda) Im März 1962 wurden die Richtlinien dahingehend ergänzt, dass der nachhaltige Erfolg der verdeckten Operation einer militärischen Invasion der USA bedürfe. Im April 1962 führten die USA mit „Lantphibex 1-62“ eines ihrer bisher größten Manöver im atlantisch-karibischen Raum durch. Dabei kamen über 80 Einheiten der Navy mit zusätzlichen 300 Flugzeugen und 40.000 Mann zum Einsatz. Kennedy (Quelle: Flickr)Zwei Landungen bildeten den Höhepunkt der Übungen. Im August folgte mit 65.000 Mann „Swift Strike II“ und am 15. Oktober begann auf der Insel Vieques, die zu Puerto Rico gehört, das dritte große Manöver der US-Streitkräfte unter dem Decknamen „Phibriglex-62“ (ebenda, S. 74-81; Greiner 2010, S. 24-29).

Die von Washington nach dem Fiasko in der „Schweinebucht“ forcierte Eskalation, die Planungen zur Invasion Kubas durch US-Truppen einschließt, kann zu Recht als „gewollte Krise“ (Greiner 2010, S. 42-47) charakterisiert werden. Greiner spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „Obsession des Weißen Hauses“ (ebenda, S. 28), die er wie folgt zu erklären versucht: „Vielleicht waren über die Maßen Selbstbewusstsein und Selbstverblendung im Spiel, die Überzeugung im innersten Zirkel der Macht, die Welt nach Wille und Vorstellung und vor allem unter Rückgriff auf die beispiellose amerikanische Macht gestalten zu können. Möglicherweise hatte Kennedy schlicht Angst, mit einer Hypothek wie Kuba seine Wiederwahl zu gefährden. Und sehr wahrscheinlich sollte Castro dafür bezahlen, dass er dem jungen, vom Erfolg verwöhnten Präsidenten seine erste schmerzhafte Niederlage beigebracht hatte.“ (ebenda, S. 29)

Chruschtschows Entscheidung

Dreißig Jahre später räumte Verteidigungsminister McNamara ein: „Wenn ich damals ein kubanischer Führer gewesen wäre, hätte ich eine US-Invasion erwartet. … Und wenn ich ein sowjetischer Führer gewesen wäre, wäre ich wohl zu demselben Schluss gekommen.“ (Zitat von Greiner 2010, S. 28) Tatsächlich waren sowohl Fidel Castro als auch Nikita Chruschtschow angesichts der US-amerikanischen Drohkulisse zu dem Schluss gelangt, dass eine solche Invasion unmittelbar bevorstand. Nach Konsultationen mit der kubanischen Führung traf des ZK-Präsidiums der KPdSU auf seiner Tagung am 10. Juni 1962 die Entscheidung, sowjetische Mittelstreckenraketen auf Kuba zu stationieren.

Dabei ging es zunächst darum, die Kubaner gegen die Bedrohungen seitens der USA zu schützen. Ab 1960 nahm die kubanische Revolution aufgrund ihrer Agrarreform und der Verstaatlichung US-amerikanischer Unternehmen für die Sowjetunion den „Rang eines soziopolitischen Modells für Lateinamerika“ ein (Spenser, S. 299). Im Mai war Chruschtschow zu der Auffassung gelangt, dass die Stationierung von Atomwaffen auf kubanischem Territorium das einzige Mittel sei, um die USA von einem Einmarsch auf der Karibikinsel abzubringen. Er war „bereit, die Risiken in Kauf zu nehmen, die eine wirtschaftliche und militärische Unterstützung Kubas für seine Politik der friedlichen Koexistenz mit den USA bedeutete. Denn eine Niederlage Kubas im Konflikt mit den USA wäre eine Niederlage für die UdSSR und den Marxismus-Leninismus gewesen.“ (Spenser, S. 300)

In seinen Erinnerungen beschreibt Chruschtschow die Situation mit folgenden Worten: „Was passiert, wenn wir Kuba verlieren? Ich wußte, es wäre ein schrecklicher Schlag für den Marxismus-Leninismus gewesen. In der ganzen Welt, vor allem aber in Lateinamerika, hätte unser Ansehen eine schwere Einbuße erlitten. Wenn Kuba fiel, würden andere lateinamerikanische Länder uns zurückweisen und behaupten, daß die Sowjetunion trotzt aller ihrer Macht nicht imstande gewesen sei, etwas anderes für Kuba zu tun, als nichtssagende Proteste vor den Vereinten Nationen abzugeben. Wir mußten uns irgendeine Möglichkeit einfallen lassen, Amerika mit mehr als Worten zu konfrontieren. Wir mußten ein greifbares und wirksames Abschreckungsmittel schaffen gegen eine amerikanische Einmischung in der Karibischen See. Die logische Antwort waren Raketen.“ (Talbott, S. 460)

Für Chruschtschow gaben drei Gründe den Ausschlag (Greiner 2010, S. 35-39). Erstens ging es ihm die Projektion sowjetischer Macht, mit der er Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit demonstrieren wollte. Zweitens folgte er mit seiner Entscheidung der Logik atomarer Abschreckung. „Drittens wurde auf und um Kuba die wichtigste politische Währung des Kalten Krieges gehandelt – Glaubwürdigkeit. … Aus der Perspektive des Kreml-Chefs hatte die UdSSR im Wettstreit mit den USA auf allen Feldern einen stattlichen Nachholbedarf. Untätig zu bleiben, als Kuba unverhofft ein Fenster der Gelegenheit aufgestoßen hatte, kam deshalb nicht in Frage.“ (ebenda, S. 38-39)

Ambivalentes Kräfteverhältnis

Aus der Sicht Chruschtschows bestand das Grundproblem in der Ambivalenz des bestehenden Kräfteverhältnisses: Einerseits hatte die Sowjetunion als Nuklearmacht im Status zwar mit USA gleichgezogen (Spenser 2009, S. 299), war Washington aber andererseits auf diesem strategischen entscheidenden Feld hoffnungslos unterlegen (Greiner 2010, S. 29f). So verfügten die USA damals über das Fünffache an Interkontinentalraketen (230 gegenüber 42). Bei den Atomsprengköpfen war die UdSSR den westlichen Nuklearmächten (USA, Großbritannien, Frankreich) im Verhältnis 1:17 (300 zu 5000) unterlegen. Mehr als 1.400 amerikanischen Langstreckenbombern standen 155 sowjetische Maschinen gegenüber, die im Kriegsfall zwar bis zum nordamerikanischen Kontinent gelangt wären, deren Treibstoff aber nicht für den Rückflug gereicht hätte (ebenda, S. 30). Hinzu kamen die Mittelstreckenraketen, die die US in Italien und der Türkei stationiert hatten.

Das nukleare Ungleichgewicht trat während der Kubakrise noch einmal dramatisch zutage. „Um 19:06 Uhr am 23. Oktober unterschrieb Kennedy die offizielle Proklamation zur Verhängung der Quarantäne, die am 24. Oktober um 10:00 Uhr in Kraft treten würde. Gleichzeitig gab er den Befehl, für das US-Strategische Luftwaffenkommando SAC (Strategic Air Command) die Alarmstufe auf DEF- CON-2 anzuheben – dies zum ersten und bis heute einzigen Mal in der amerikanischen Geschichte. Das hieß: 204 Interkontinentalraketen im Westen der USA wurden für den Start vorbereitet, 12 U-Boote mit 140 Polaris-Raketen an Bord an die Küsten der Sowjetunion beordert, weitere 220 Raketen auf fünf Flugzeugträgern einsatzbereit gemacht. 62 B-52-Bomber mit 196 Wasserstoffbomben an Bord waren nun ständig in der Luft; die Piloten hatten versiegelte Umschläge mit den Einsatzbefehlen erhalten. 628 weitere Bomber mit mehr als 2000 Atombomben an Bord waren rund um die Welt in Alarmbereitschaft. Hinzu kamen 60 Thor-Raketen in Großbritannien und 30 Jupiter-Raketen in Italien – jeweils mit Atombomben bestückt (und fünf Jupiter-Basen in der Türkei).“ (Steininger 2019, S. 26) Damit verfügten „die USA … über die vielzitierte Erstschlagkapazität, die Sowjetunion dagegen nicht Chruschtschow (Quelle: Wikipedia)einmal über eine ausreichende Zweitschlagkapazität. Wäre es zum ‚finalen Scheitern‘ gekommen, wäre die Sowjetunion pulverisiert worden – mit vielen Millionen Toten allerdings auf beiden Seiten.“ (ebenda, S. 27)

Mit der Stationierung eigener Mittelstreckenraketen auf Kuba verband die Sowjetunion die Hoffnung, „ein gewisses Gleichgewicht der nuklearen Kräfte herzustellen“ (Pommerin, S. 88). Im Rahmen der „Operation Anadyr“ sollten folgende Waffen und Truppen nach Kuba verlegt werden: 24 Mittelstreckenraketen vom Typ R-12 mit einer Reichweite von ca. 2.000 km sowie weitere 15 vom Typ R-14 mit einer Reichweite von 4.500 km. Die Sprengkraft dieser Raketen betrug jeweils eine Megatonne, was 66 Hiroshimabomben entsprach. Außerdem war die Stationierung von zwei Regimenter mit jeweils 80 nuklearen Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von ca. 180 km zur Küstenverteidigung auf der Karibikinsel vorgesehen. Neben der Aufstellung von Luftabwehrsystemen vom Typ S-75 (Dwina) kamen 42 zweistrahlige IL-28-Bomber hinzu. Insgesamt sollten über 40.000 Angehörige der sowjetischen Streitkräfte nach Kuba verlegt werden (Pommerin, S. 83-91). Die „Operation Anadyr“ war damit „das logistisch anspruchsvollste und zugleich umfangreichste Unternehmen der sowjetischen Streitkräfte seit dem Zweiten Weltkrieg.“ (Greiner 2010, S. 7; vgl. außerdem: Andy 2009; Pommerin 2022, S. 91-99; Steiniger 2019, S. 21-25). Allerdings erwies sich der Versuch, die Raketen heimlich zu stationieren, als eine entscheidende Schwäche des Plans (Spenser 2009, S. 302).

Noch einmal gut gegangen?

Die Kubakrise erweist sich im Rückblick als ein Weltkonflikt, in dem sich höchstes Risiko mit erschreckender Unberechenbarkeit, mit gefährlichen Irrtümern und mit gegenseitigen Ängsten verband. Desaster in der Kommunikation, Chaos während der Blockade, gegenseitige Lügen, eigenmächtige Entscheidungen bei der Jagd auf sowjetische U-Boote, amerikanische Irrflüge im gegnerischen Luftraum, Fehlinterpretationen der Aktionen des Gegners auf beiden Seiten und die bis zum Siedepunkt forcierte Eskalation führten dazu, dass vielfach nur pures Glück das Abrutschen in den atomaren Schlagabtausch verhinderte (vgl. dazu Greiner 2010, S. 23, 60, 74-81; Pommerin, S. 119, 126f, 130; Steininger 2019, S. 33, 36).

Die amerikanischen Militärs, die von Anfang an gewaltsam gegen Kuba vorgehen wollten und dafür vom Präsidenten am 27. Oktober für den 29. Oktober grünes Licht bekommen hatten, kannten damals zahlreiche Fakten, die für die Lageeinschätzung von gravierender Bedeutung waren, gar nicht. Die nachfolgende Liste zeigt, wie schmal der Grat war, der die Welt vom nuklearen Inferno trennte. Erst seit 1992 bzw. 2008 wissen wir, dass

„1. acht Raketen mit Sprengköpfen einsatzbereit waren, Sprengkraft: jeweils 1 Million TNT (das entsprach 66 Hiroshima-Bomben). Das war so viel Sprengkraft wie alle Bomben, die während des Zweiten Weltkrieges abgeworfen worden waren. Acht weitere Mittelstreckenraketen mit Atombomben standen in Reserve;

2. 80 Marschflugkörper mit je einem Atomsprengkopf in Hiroshima-Stärke auf Kuba einsatzbereit waren;

3. drei dieser Marschflugkörper für die Vernichtung der amerikanischen Marinebasis Guantanamo auf Kuba bereits in Stellung gebracht worden waren;

4. die vier sowjetischen U-Boote, die sich Richtung Kuba bewegten und von US-Zerstörern verfolgt wurden, je einen Nukleartorpedo in Hiroshima-Stärke an Bord hatten. Als ein Zerstörer Wasserbomben auf B-59 warf, wusste man nicht, dass im U-Boot die Verbindung mit Moskau abbrach und der Kommandant den Torpedo zum Abschuss vorbereiten ließ, der dann nicht erfolgte (von Offizieren an Bord verhindert, wie sowjetische Teilnehmer auf einer Konferenz in Havanna 1992 betonten);

5. bereits 42.000 sowjetische Soldaten – Kampftruppen – auf der Insel waren (die US-Militärs vermuteten 6.000 bis 8.000).

6. Die Amerikaner vermuteten – richtig – dass die Sowjets bereits Atombomben nach Kuba gebracht hatten, aber sie wussten bis zum Schluss nicht einmal, wo sie gelagert wurden.

7. Hinzukam, dass sich die CIA beider Reichweitenberechnung der sowjetischen Mittel- und Langstreckenraketen (Grundlage der Beratungen in Washington) um mehrere hundert Kilometer verschätzt hatte. Seattle etwa wäre als einzige US- Großstadt bei der CIA-Berechnung nicht getroffen worden, tatsächlich wäre auch diese Stadt vernichtet worden.“ (Steininger 2019, S. 37-39; siehe auch Steininger 2022, S. 12-13)

Der richtige Schritt im letzten Moment

Das Ende der Krise ist rasch erzählt. Chruschtschow akzeptierte am 28. Oktober die Forderung Kennedys, die im Zuge der „Operation Anadyr“ auf Kuba stationierten Waffen und Truppen wieder abzuziehen. Im Gegenzug nahm dieser Abstand von der militärischen Invasion gegen Kuba. Der später erfolgte Abbau der in Italien und der Türkei installierten US-Mittelstreckenraketen sollte in keinem Zusammenhang mit den getroffenen Vereinbarungen stehen und streng geheim bleiben, damit Kennedy sich der Welt als Sieger präsentieren konnte. „Die Kubakrise war der letzte unmittelbare Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion“. (Steininger 2022, S. 13)

Es war Nikita Chruschtschow, der Kennedy jede weitere Entscheidung abgenommen hatte und ihm damit die Gelegenheit bot, den Ton für die gewünschte Lesart der Kubakrise vorzugeben: „Ich habe ihm (Chruschtschow) die Eier abgeschnitten.“ (zitiert in: Greiner 2010, S. 108). „Mit klugem Krisenmanagement oder geheimdiplomatischer Finesse Washingtons hatte das glimpfliche Ende der Konfrontation nicht das Geringste zu tun. Chruschtschow lenkte spontan und einzig aus Angst vor einem Kontrollverlust auf Kuba ein. Es war instinktiv der richtige Schritt im letzten Moment. Denn im Weißen Haus standen alle Zeichen auf Sturm, eine Invasion oder Bombardierung der Insel war nur noch eine Frage des Zeitpunktes. Warum? Weil man den Nimbus der Stärke wahren wollte, weil der politische Nutzen nuklearer Überlegenheit auf dem Spiel stand, weil der alte Mythos im neuen Glanze erstrahlen musste, dass die Welt im Chaos versinkt, wenn Amerika nicht für Ordnung sorgt.“ (Greiner 2021, S. 44)

 

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Literatur:

Andy, Joshua: Operation „Anadyr“. Die sowjetische militärische Führung und die Kubakrise 1962, in: Greiner, Bernd/ Müller, Chr. Th./ Walter, D. (Hrsg.): Krisen im Kalten Krieg. Bonn 2009, S. 321-342

Ehrhart, Hans-Georg: Was die Kuba-Krise lehrt, freitag vom 14. Oktober 2022, S. 1

Greiner, Bernd: Die Logik der Erpressung. Von der Kuba-Krise zum Ukraine-Krieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2022, S. 77-82

Greiner, Bernd: Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München 2021

Greiner, Bernd: Die Kuba-Krise. Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg. München 2010

Greiner, Bernd/ Müller, Chr. Th./ Walter, D. (Hrsg.): Krisen im Kalten Krieg. Bonn 2009

Krämer, Raimund: Am nuklearen Abgrund. Die Karibik-Krise im Oktober 1962, in: Welttrends Nr. 192, Oktober 2022, S. 60-64

Pommerin, Reiner: Die Kubakrise 1962. Ditzingen 2022

Spenser, Daniela: Die Kubakrise 1962 und ihre Folgen für das kubanisch-sowjetische Verhältnis, in: Greiner, Bernd/ Müller, Chr. Th./ Walter, D. (Hrsg.): Krisen im Kalten Krieg. Bonn 2009, S. 297-320

Steiniger, Rolf: Die Kubakrise 1962, in: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung, Heft 3 & 4/ 2022, S. 6-13

Steiniger, Rolf: Die Kubakrise, 16.-28. Oktober 1962. Erfurt 2019

Talbott, Strobe: Chruschtschow erinnert sich. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 460

Zajec, Olivier: Von der Kubakrise lernen, in: Le monde diplomatique vom 4. April 2022

 

Bildquellen:[1] Quetzal-Redaktion_gc; [2] flickr_cc; [3] wiki_cc

 

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