Die Kunst des Schreibens – mit Zeichen und Bildern – blühte im indigenen Mexiko mehr als zweitausend Jahre lang, von der Zeit der Olmeken bis in die ersten Jahrzehnte der Kolonialzeit. Es gibt viele Maya-Stelen mit Inschriften, deren Bildzeichen teilweise schon entziffert worden sind. Zahlreiche Monumente wie die in den Gebieten von Veracruz und Oaxaca sowie auf dem Altiplano bezeugen noch immer die verschiedenen Formen der Schrift, die sich damals entwickelten. Kodizes auf Amate-Papier oder auf Hirschhaut überliefern wichtige Ereignisse, Chroniken, Stammbäume; Wissen über den Kalender, die Astronomie und die Welt der Götter, der Menschen und der Natur.
Wir können uns heute dieser Welt unserer Vorfahren nähern, den Schreibern und Malern, den Poeten, Chronisten, Erzählern und vielen anderen Weisen und Künstlern. Vieles ist zerstört oder verloren gegangen , doch verschiedene vorspanische Kodizes und, neben anderen Dingen, auch eine gute Anzahl von Keramikgefäßen, sind erhalten geblieben, auf denen die Figur des Schreibers – des ab dzib der Mayas, des tlahcuilo der Nahuas oder des tay taatu der Mizteken – zu sehen ist. Ein untrüglicher Beweis für die Bedeutung der Schreiber und Maler ist die Tatsache, daß sie durch die vorspanischen Herrscher von den Tributzahlungen und jeglichen anderen persönlichen Diensten befreit worden waren. Angeführt sei nur ein Zeugnis von Sebastian Ramirez de Fuenleal, eines Mannes, der 1531, zehn Jahre nach der Besetzung von Tenochtitlan, Präsident der audiencia von Mexiko war -ein Mann von großer Umsicht, der das Tribut- und Dienstsystem im vorspanischen Mexiko gründlich erforschte. Ramirez vermerkt, nicht ohne seiner Bewunderung für die, wie ihm schien, sinnreichen Einrichtungen jener Zeit Ausdruck zu verleihen, diese „Freiheiten“ und gibt gleichzeitig die Gründe für deren Existenz an. Hier sein Zeugnis:
Es sind frei von Tributen und persönlichen Diensten die Maler, die sich tlahcuilos nennen; weil sie Schreiber des Vergangenen und des Gegenwärtigen sind, und weil sie malen, machen sie alles verständlich und deswegen sind sie befreit. Ebenso sind die Sänger und Musikanten frei von Tributen: weil sie anerkannt sind, weil sie komponieren und singen, was in der Vergangenheit geschah, was in der Gegenwart ist und ihren Glauben einbringen; und wegen dieser Art und Weise zu singen und zu komponieren, wissen sie um ihre Geschichte, um all ihren Glauben; sie sind weise in diesen Dingen und sehr geschätzt und deshalb frei von allen Tributen und Diensten. (Colección de Documentos de Ultramar, XII, 255) Wenn unsere indigenen Vorfahren die Notwendigkeit der Entwicklung der Kultur in dieser Weise anerkannten, wird man dann heute dazu neigen, dem Schriftsteller noch von seinen ohnehin spärlichen Einkünften zu nehmen, den Früchten seiner Forschungen, Erfindungen und manchmal auch seiner schlaflosen Nächte?
Warum brach man mit dem, was bis vor kurzem noch Gültigkeit besaß? Will man sich so die Kreativität des modernen Mexikos geneigt machen? Und, letztendlich, wird etwa die Ruhe des armen Schriftstellers, oder besser gesagt, die Verstörung derer, die, um zu denken, zu schreiben und so dem mexikanischen Volk zu dienen, vor allem Ruhe und Frieden benötigen, dadurch begünstigt, daß man dem tlahcuilo unserer Zeit Tribute oder Steuern auferlegt, ihn zwingt, in Erfüllung von Gesetzen, die oft nicht einmal die Buchhalter vollständig verstehen, komplizierte Steuererklärungen abzugeben, mit Lasten, Prozenten und Überlasten …? Wird so Kultur gefördert?
Übersetzung: Daniela Trujillo.
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Warum die prehispanischen Schreiber und Maler von den Tributzahlungen befreit waren
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