Die moderne westliche Zivilisation hat die natürlichen Ökosysteme unseres Planeten an die Grenzen ihrer Lebensfähigkeit gebracht. In der ganzen Welt hat sich eine breite und bedeutende Umweltbewegung herausgebildet, die in erster Linie neue Entwicklungskonzepte und -Strategien aufstellt.
Um das ökologische Gleichgewicht auf unserem Planeten wiederherzustellen und diesen Prozeß zu unterstützen, ist es erforderlich, das außerordentliche wissenschaftliche und kulturelle Erbe der Menschheit wiederaufzugreifen und zu systematisieren. An diesem Prozeß können auch die indianischen Völker Lateinamerikas mitwirken. Die folgenden Abschnitte zeigen einen Ausschnitt aus der Lebensweise und der Weltsicht der Andenvölker.
1. Kulturelle Vielfalt – kultureller Reichtum
Die Form des Doppelkontinents, der sich vom Nordpol bis zum Südpol erstreckt und die gewaltige Bergkette, die den südlichen Teil des Kontinents im Westen durchkreuzt, bestimmen die geographische Situation in der Hinsicht, daß man fast alle Landschafts- und Klimazonen der Erde vorfindet.
Diese Verschiedenheit ist auch eine Charakteristik der indianischen Kulturen und Völker des Kontinents. Das demographische Institut der Universität Berkeley (Kalifornien) stellte die Hypothese auf, daß es 1492 ungefähr 100. Mio. Indianer in der neuen Welt gab. Es herrschte eine außerordentliche sprachliche Vielfalt und Verschiedenartigkeit: Man hat ca. 2000 Sprachen und Dialekte untersucht. Wie die Linguisten wissen, bildet jede Sprache und jeder Dialekt eine Form, die Welt zu sehen und zu verstehen. Im vorkolumbianischen Amerika fanden sich alle Formen der menschlichen Zivilisation – von der einfachsten bis zu der am höchsten entwickelten.
2. Kultivierung und Nutzung der Vegetationszonen
Die Andenregion ist eine Welt, in der die Menschen nicht in großen Ansiedlungen wohnen, sondern in großen Abständen zueinander leben. Das ist auf die große Ausstreuung und Verschiedenartigkeit der ökologischen Ebenen zurückzuführen [1].
Die Historiker haben ihre Aufmerksamkeit auf ein landwirtschaftliches Konzept gerichtet, das die Kontrolle über die größtmögliche Menge der Vegetationszonen gestattete. Sie betonen besonders, daß es sich um die Ausnutzung der Möglichkeiten des Anbaus mehrerer Kulturen handelte.
Die territoriale Kultivierung und das Konzept der größtmöglichen Ausnutzung der Vegetationszonen war eine fundamentale Voraussetzung für die Nutzung der vorhandenen Ressourcen.
Historische Studien in Mittel- und Südamerika über die der spanischen Eroberung vorangegangene Periode ergaben, daß die Völker dieser Region nach Stand ihrer Entwicklung verschiedene Techniken bei der Kultivierung und/oder der Nutzung der Vegetationszonen zur Ausnutzung der natürlichen Ressourcen anwandten.
3. Gemeinsame Produktions- und Lebensweise und Warenaustausch
Die Ausdehnung des Inkareiches über einen großen Teil der Andenregion (Peru, Bolivien, Ekuador, Nordchile und Nordargentinien sowie Südkolumbien) basierte hauptsächlich auf der Ausweitung und Verbesserung der Techniken zur Nutzung der vorhandenen Ressourcen. Darüber hinaus erforderte sie die gemeinsame Produktions- und Lebensweise und den Warenaustausch.
Die gegenseitigen Leistungen waren eng mit der Organisation der Bevölkerung in den Dorfgemeinden (Ayllus) verknüpft. Die heute existierenden eingeborenen bäuerlichen Gemeinschaften haben ihren Ursprung in den Ayllus. Die gemeinsame Lebensweise bedingte den Austausch von Arbeit und Produkten. Die Beziehungen zwischen staatlicher Verwaltung und den Ayllus wurden über die Rückverteilung geregelt. Die Verwaltung erhielt Arbeitskräfte und verteilte die aus den verschiedenen Vegetationszonen stammenden Einünfte und Produkte [2].
Die indianischen Völker verstanden es, Technologien zu entwickeln, die im Einklang mit den natürlichen Bedingungen standen: Sie domestizierten Tiere und kultivierten Pflanzen; sie arbeiteten mit den Verschiedenartigkeiten der Vegetationszonen; sie kontrollierten die Bodenerosion; sie konservierten Lebensmittel und lagerten sie für Notzeiten ein; sie organisierten kollektive Arbeit, um Gemeinschaftsprobleme zu lösen; sie nutzten Systeme der Wassergewinnung, -Verteilung und Vorratswirtschaft; etc.
4. Das Konzept von Reichtum und Armut
Die Menschen müssen ihre Wertvostellungen überprüfen und ihr Verhalten ändern, um eine beständige Entwicklung hervorzubringen oder eine Gesellschaft zu errichten, die fähig ist, die ökologische Krise zu überwinden. Das gilt vor allem für die hochentwickelten Länder, in denen die Auffassung herrscht: „Du bist, was Du hast“; und in denen Haben mehr bedeutet als Sein.
Die Wertvorstellungen der indianischen Völker unterscheiden sich von den oben genannten. Man weiß, daß sich in der Weltvorstellung der Andenvölker das Konzept von Armut und Reichtum aus dem Prinzip der Ausnutzung der Ressourcen und der gemeinsamen Produktions- und Lebensweise ergibt: Arm ist derjenige, der der gemeinsamen Produktions- und Lebensweise entbehrt, reich ist, wer die meisten Beziehungen hat – davon hängt der Zugang zu den Ressourcen ab.
Ein wichtiger Aspekt beim Wandel der Wertvorstellungen ist die Überwindung des Dogmas der Arbeit, die der Natur übergeordnet ist. Die von den Hochkulturen Amerikas verfolgte Entwicklung war in wirtschaftlicher Hinsicht ausreichend, und sie schaffte in ihrer technischen Einfachheit eine Balance zwischen den menschlichen Aktivitäten und der Umwelt. Ein Aspekt der Harmonie der Welt bildete in der Weltvorstellung der Andenvölker die Harmonie zwischen Mensch und Natur. Im Reich der Inkas war die Kommunikation wesentlich, aber sehr verschieden zur Kommunikation der Spanier und der Europäer: Der Dialog mit dem Heiligen, in dem die rituelle Kommunikation wesentlich ist, war einer der wichtigsten Dialoge. Die Erde war und ist eine Gottheit, die in der Vielfalt der Orte, der ökologischen Zonen und Regionen verschiedene Formen annimmt.
Es ist offenbar, daß diese Aspekte, Werte und kulturellen Eigenheiten, die aus den Gesellschaften der Andenvölker kommen, nicht direkt in unserer heutigen Welt anwendbar sind. Aber sie enthalten Ideen, die uns helfen können, andere Wertvorstellungen zu erarbeiten als die, die in der westliche Zivilisation bestimmend sind. In dieser Hinsicht ist es gerechtfertigt, die Forschungen über die Weltvorstellung und die Kenntnisse sowie Erfahrungen der indianischen Völker zu vertiefen, um die Vorstellungen über einen ökologischen Wechsel für eine dauerhafte Entwicklung zu bereichern.
* Aus Anlaß der von der UNO 1994 eingeleiteten Dekade der indianischen Völker
Übersetzung: Anke Piehozki
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[1] Die Vegetationszonen können sich in einer Höhe von 1800 m über dem Meeresspiegel alle 200 m ändern und mit jedem Längengrad, der sich vom Äquator in südliche Richtung entfernt. Diese Vielfalt wird durch das gebrochene Antlitz der Anden noch gesteigert. Die Abschnitte, in denen eine Kultivierung möglich ist, sind klein und liegen weit auseinander.
Aus: Carl Troll, 1935, „Fundamentos geográficos de las civilizaciones Andinas“, Revista de la Universidad de Arequipa; und 1958, „Las culturas superiores andinas y el medio geográfico“, Revista del Instituto de Geografía, 5, Universidad de San Marcos, Lima.
[2] Aus: Franklin Pease, 1991, „Los Ultimos Incas del Cuzco“, Allianza Editorial, Madrid.