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Caparrós, Martín: Der Hunger

Gonzalo Compañy | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Caparros_Der Hunger_DeckblattScanStellt die Tatsache, dass täglich auf dieser Welt 25.000 Menschen an Ursachen, die mit dem Hunger zusammenhängen, sterben, einen Fehler oder vielmehr den Erfolg des Weltsystems dar? Der argentinische Schriftsteller und Journalist Martín Caparrós stellt den Lesern eine provokative Frage, deren Beantwortung ihn in sieben Länder (Niger, Indien, Bangladesch, USA, Argentinien, Südsudan und Madagaskar) auf drei Kontinenten (Afrika, Asien, Nord- und Südamerika) führt. Der Autor geht von einer scheinbar abstrakten Realität aus: Der Hunger ist etwas, dass sowohl er selbst als auch die Leserinnen wahrscheinlich nie erleiden mussten, daher ist diese Vorstellung nur schwer zu definieren bzw. zu verstehen. Der Autor hätte sich wohl darauf beschränken können, den Lesern eine Reihe mehr oder weniger „klassische“ Beiträge über die Leiden der Hungernden zu bieten und sie damit einer mehr oder weniger fremden Realität näher zu bringen. Doch nimmt sich Caparrós vor, die Gründe für die Existenz des Hungers zu verstehen. Wir befinden uns in einer Welt, in der mehr Lebensmittel denn je produziert werden, und diese wären ausreichend für die ganze Weltbevölkerung.

»Der Hunger« besteht aus sechs Teilen, welche uns sehr aussagekräftige Bilder liefern. Bereits das Deckblatt erweckt den Eindruck, dass es sich hier um einen Krimi handeln würde. Nach den ersten Seiten ist man sicher: Es handelt sich tatsächlich um einen Krimi, dessen Kulisse von unserer zivilisierten Gesellschaft ermöglicht wird. Die unmittelbare Beschäftigung mit der Realität der Hungernden – was ist überhaupt der Hunger? – wird als ein Weg dargestellt, der zu verstehen hilft, warum der Hunger auf der Welt überhaupt möglich ist. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage führt den Autor zu zwei Analyseschwerpunkten. Zum einen, wie der Hunger von der Hegemonie auf einer diskursiven Ebene erklärt bzw. erwähnt wird; zum anderen, wie die konkrete Realität des Hungers von den „Hungernden“ wahrgenommen wird. Aus Caparrós‘ Perspektive begegnen beide Aspekte einander in einem wesentlichen Punkt: Die Existenz des Hungers und dessen passive „Akzeptanz“ durch die Gesellschaft ist nur möglich dank einer komplex ideologischen Verflechtung.

In diesem Buch wird die Bedeutung mehrerer Schlüsselbegriffe, wie sie in den Berichten über den Hunger bzw. die „Nahrungsunsicherheit“ verwendet werden, zerlegt. Laut dem Autor spielen die Euphemismen, mit denen dieses Problem beschrieben wird, bei der Wahrnehmung der Realität eine entscheidende Rolle. Beispielsweise stelle die Vorstellung des Hungers gewissermaßen als „eigenständiges Subjekt“ (S. 31) einen subtilen, aber effektiven Weg dar, um den Hunger als ein unvermeidbares Phänomen der „bösen Natur“ zu schildern. Daher taucht der Hunger in den Medien fast ausschließlich im Rahmen großer Katastrophen wie Hurrikans, Kriege, Epidemien auf. Aus diesem Grund macht sich Caparrós auf die Suche nach dem Hunger dort, wo paradoxerweise nichts Außergewöhnliches geschieht – wo der Hunger Teil der Normalität ist: Der „stille, stete, diskrete Hunger“ (S. 696). Außerdem kann Caparrós mit präzisen Sentenzen wie kaum ein anderer seine Absicht zum Ausdruck bringen: „In diesem Buch passiert eigentlich nichts. Oder besser gesagt: nichts, was nicht ständig passiert“. (S. 186)

Laut dem Autor sind in der Religion Schlüssel zum Verständnis der eher passiven Haltung der Betroffenen gegenüber einer ungünstigen Realität zu finden. Vor allem am Beispiel Indiens und Nigers, aber wohl auch in Argentinien und in den USA analysiert Caparrós die Rolle der Religion als „Beruhigungsmittel“ (S. 821). Diese diene einerseits dem Status quo; andererseits sei dieser aber „eine große Stütze des Glaubens“ (S. 218). Durch die Schilderung individueller Lebenswege gelingt es Caparrós, andere Schlüsselelemente zu ermitteln. Die Diskursanalyse stellt, wie bereits erwähnt, in gewissen Maße den Zugang zur ideologischen Gestaltung der Realität dar. Zum einen handelt es sich um die möglichen Darstellungen bzw. Erklärungen der Realität; zum anderen kann dadurch die passive Akzeptanz der Realität identifiziert werden.

Ein Teil der Weltbevölkerung muss unter Hunger leiden, weil die Preise der Lebensmittel an den Weltmarkt gebunden sind. Caparrós macht sich dann weiter auf dem Weg nach Chicago, wo er im Gespräch mit Börsenmaklern zu ergründen sucht, inwieweit diese sich der gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer spekulativen Geschäfte bewusst sind: „Zum Glück findet man immer einen, der noch schuldiger ist als man selbst“ (S. 411), „Wir sind ganz normale Menschen“ (S. 405). Diese könnten jedoch nicht verteufelt werden, denn „das ist das Schöne am System: Man muss sich selbst die Hände nicht schmutzig machen, um sich am Unglück der Anderen zu bereichern […] Wir sind alle beteiligt“ (S. 784f). In derselben Stadt besucht Caparrós einige der knapp 40.000 in den USA tätigen Essensausgaben, wo nicht nur marginalisierte Einwanderer, sondern vor allem US-Amerikaner, deren Fettleibigkeit ein Stigma des persönlichen Scheiterns darstellt, ihr tägliches Essen bekommen. Dem Autor zufolge stellen die individuelle Zuteilung dieses Scheiterns und das Gefühl von Schuldlosigkeit bzw. Unverantwortlichkeit der Börsenmakler die zwei Seiten derselben Medaillen dar – den Erfolg der Ideologie.

In Argentinien, wo Nahrung für 300 Millionen Menschen produziert und exportiert wird, berichtet Caparrós über den alltäglichen Kampf der Slumbewohner am Stadtrand von Buenos Aires um den Abfall, welcher jeden Tag entsorgt wird, „nur damit die Preise nicht sinken“ (S. 511). Die vom Weltmarkt zugewiesene Rolle Argentiniens als landwirtschaftlicher Rohstoffproduzent und -exporteur verwandelt etwa 20% der Bevölkerung in „Überflüssige“. Auch wenn dieses Ergebnis eher als „Nebenwirkung“ der Weltmarktlogik bezeichnet werden kann, profitieren die entsprechenden Regierungen jedoch von dieser Situation. In diesem Zusammenhang analysiert Caparrós die doppelte Funktion der sogenannten humanitären Hilfe, „so etwas wie eine globale Version des Klientelsystems“ (S. 590). Da Hilfs- und Investitionsprogramme in der Regel nicht auf die Lösung des Problems orientiert sind, verewigen sie den Abhängigkeitszustand sogenannter Randstaaten. Caparrós identifiziert weitere Hinweisen der subtilen Ideologie im hegemonialen Diskurs. So wird in diesem Kontext der Begriff „Ernährungssouveränität“ vermieden und stattdessen sorgfältig über „Ernährungssicherheit“ gesprochen.

Die zentrale Botschaft des Buches lässt sich in einer einzigen Zeile zusammenfassen: „Als Großkapitalisten machen sie ihren Job. Machen wir unseren“ (S. 231). In diesem Sinne wird deutlich, was Martín Caparrós mit seinem Buch erreichen kann: Einerseits, die vorgekauten Erklärungen für die menschlichen Probleme bzw. ihre Bezeichnungen in Frage zu stellen. Andererseits, Verbindungen zwischen Realitäten, die augenscheinlich fremd sind, herzustellen. Abschließend lässt sich sagen: Auch wenn es sich um einen sehr anspruchsvollen Band handelt, dessen 844 Seiten zunächst beeindrucken oder abschrecken können, ist die gut nachvollziehbare Struktur des Buches als außerordentlich positiv zu bewerten. Die detaillierte Darstellung bzw. Dekonstruktion einzelner Begriffe und deren analytische Betrachtung wird anhand konkreter Beispiele von historischen Ereignissen der Weltgeschichte anschaulich und nachvollziehbar für den Leser gestaltet. Ohne künstliche Formalismen wird hier in einer einfachen, jedoch keinesfalls vereinfachten Weise Schlüsselelemente einer aktuell komplexen Problematik dargestellt.

 

Martín Caparrós

Der Hunger

Suhrkamp Verlag Berlin: 2015

(Erste Auflage 2017)

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