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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Fünf Testfälle für die Zukunft – Lateinamerika im Jahresrückblick 2015

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 19 Minuten

Blickt man auf das Jahr 2015 zurück, dann war es für Lateinamerika eine Zeit des angekündigten Wandels, dessen Ausgang noch unbestimmt ist. Einerseits scheint der Sieg rechter Wahlbündnisse in Argentinien und Venezuela den Anfang vom Ende der 1998 begonnenen Linkswende einzuläuten, andererseits signalisiert die einsetzende Normalisierung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA das Scheitern der seit 1960 forcierten Konfrontationspolitik der westlichen Supermacht gegen das sozialistische Projekt vor der eigenen Haustür. Beide Entwicklungen deuten in unterschiedliche Richtungen. Die Vorstellung, dass dem (kleinen) Fortschritt in der Karibik (viele große) Rückschritte in Südamerika gegenüberstehen, trügt jedoch. Die Situation ist weit weniger eindeutig, als es die Mehrheit der Kommentare suggeriert. Will man Klarheit gewinnen, dann kommt man an einer tiefer gehenden Betrachtung nicht vorbei, zu der Ursachen, Motive und Kräfteverhältnisse vor Ort ebenso gehören wie die globalen Rahmenbedingungen und Spielräume für alternative Szenarien. Der Blick auf fünf Testfälle, die das Jahr 2015 prägten, soll helfen, künftige Entwicklungen in Lateinamerika auszuloten, ohne dabei in ein Schwarz-Weiß-Schema zu verfallen.

Testfall 1: Kuba – ein Weg für die Zukunft?

Cuba: Barack Obama trifft Raúl Castro - Foto: Public DomainDie Schlagzeilen, die Kuba im vergangenen Jahr gemacht hatte, finden ihre Fortsetzung im Besuch des deutschen Wirtschaftsministers und Vizekanzlers Sigmar Gabriel (SPD) Anfang Januar 2016, der aus diesem Anlass auch vom Präsidenten des Inselstaates, Raúl Castro, empfangen worden war. Auch wenn nach Information des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) nur ca. 50 deutsche Unternehmen in Kuba aktiv sind und sich die bilaterale Handelsbilanz 2014 auf bescheidene 224 Millionen Euro belief, reiht sich die dreitägige Visite in einen Trend ein, der seinen vorläufigen Höhepunkt im August 2015 in der Wiedereröffnung der Botschaften in Havanna und Washington nach 54 Jahren gefunden hatte. Lange vor Deutschland hatten führende Länder der EU wie Frankreich, Italien und Spanien ihre Beziehungen zur Republik Kuba normalisiert. Das neue Verhältnis zu den USA beinhaltet für die sozialistisch orientierte Karibikinsel eine zweifache Herausforderung: Zum einen steht die Erfüllung kubanischer Grundsatzforderungen wie die Aufhebung des US-Embargos und die Rückgabe der Marinebasis von Guantanamo nach wie vor aus. Zum anderen ist unklar, zu welchen Konditionen und mit welchen Ergebnissen sich die Rückkehr von US-Kapital nach 55 Jahren erzwungener bzw. selbst auferlegter Abwesenheit vollziehen wird. Je nach Standpunkt und Interesse hoffen die einen und befürchten die anderen, dass mit der Öffnung neoliberaler Kapitalismus und neokoloniale Abhängigkeit fröhliche Urstände feiern könnten. Nicht wenigen gilt die bundesdeutsche Ostpolitik des „Wandels durch Annäherung“ auch als Menetekel für den „tropischen Sozialismus“ Kubas. Die bereits eingeleiteten Verbesserungen der Reisefreiheit durch die Regierung haben im letzten Jahr unerwartete Probleme für einige zentralamerikanische Nachbarländer gezeitigt. An der Grenze zwischen Costa Rica und Nicaragua saßen zum Jahresende 2015 etwa 7.000 Kubaner fest, die über den Landweg die USA erreichen wollen. Nach zähen Verhandlungen zwischen den Außenministern der beteiligten Länder wurde eine Route vereinbart, auf der die Migranten ins Land ihrer Träume gelangen sollen: Mit dem Flugzeug nach El Salvador, dann weiter mit dem Bus durch Guatemala an die mexikanische Grenze, dort gibt ihnen die Regierung 20 Tage Zeit, die USA zu erreichen. Am 12. Januar 2016 wurde das Programm mit 180 Kubanern gestartet. Costa Ricas Außenminister Manuel Gonzales betonte aber, dass das „humanitäre Projekt“ eine „absolute Ausnahme“ sei und lediglich diejenige beträfe, die legal in das Land eingereist wären. Gerade für Zentralamerikaner zeigt sich an diesem Beispiel der „doppelte Standard“ der Einwanderungspolitik Washingtons. Aus politischen Gründen wird Kubanern, die das Territorium der USA trockenen Fußes erreichen, durch den 1966 verabschiedeten Cuban Adjustment Act (CAA) nicht nur den dauerhaften Aufenthalt, sondern auch eine schnelle Einbürgerung ermöglicht – eine Bevorzugung, von der die Millionen Lateinamerikaner, die denselben Wunsch haben, nur träumen können. So hat Mexiko in den ersten zehn Monaten des letzten Jahres allein 130.826 Zentralamerikaner, die in die USA gelangen wollten, in ihre Herkunftsländer deportiert – 41 Prozent mehr als 2014. Die Ungleichbehandlung der kubanischen Migranten gegenüber den „eigenen Leuten“ war ein entscheidender Grund dafür, dass sich die Verhandlungen mit den zentralamerikanischen Regierungen zur Lösung der Flüchtlingsfrage in Costa Rica so lange hingezogen haben. Die „freiwilligen Auswanderer aus wirtschaftlichen Gründen“ – so der offizielle Status der in Zentralamerika festsitzenden Kubaner – machen einmal mehr die Herausforderungen deutlich, vor denen Kuba steht. Angesichts der Anziehungskräfte des kapitalistischen Weltmarkts, der geographischen Nähe der USA und der Exil-Kubaner in Miami, die nach wie vor auf einen Regime Change setzten, sowie der inneren Widersprüche der Inselrepublik bleibt der kubanische Weg zum Sozialismus ein Drahtseilakt. Dies impliziert zugleich, dass erstens der hochriskante Überlebenskampf der kubanischen Revolution gegen die Übermacht der USA bereits fast sechs Jahrzehnte währt und die Kubaner in dieser Zeit mehr als einmal bewiesen haben, dass sie den 1959 eingeschlagenen Weg nicht kampflos aufgeben werden. Dies unterscheidet Kuba grundsätzlich von Osteuropa 1989/1990. Zweitens weist der kubanische Weg nach dem Wegfall der sowjetischen Schutzmacht und der osteuropäischen Handelspartner eher Ähnlichkeiten mit der chinesischen Variante der Systemanpassung als dem sowjetisch-russischen Fall des Systemzerfalls auf. Drittens haben sich die regionalen und internationalen Rahmenbedingungen für die kubanische Revolution seit 2000 deutlich verbessert. Insgesamt spricht mehr dafür als dagegen, dass die Inselrepublik weiter ihren Weg zum Sozialismus suchen und finden wird. Dabei werden alte Lasten zu schultern und neue Risiken zu meistern sein. Wie alle anderen auch werden die Kubaner auf Unverhofftes – im Guten wie im Bösen – stoßen und entscheiden müssen, wie sie damit umgehen wollen. Aufgrund der geopolitischen Lage und des bereits zurückgelegten Weges in Richtung Sozialismus, bei dem die positiven Erfahrungen genauso wichtig sind wie die negativen, bleibt Kuba ein Pionier auf der Suche nach Wegen in eine sozialistische Zukunft.

 Testfall 2: Kolumbien – ein Weg zum Frieden?

Kolumbien: Erschreckende Bilanz des Bürgerkriegs - Foto: Streetart, Dj LuVom internationalen Prestige Kubas zeugt auch der Umstand, dass die Verhandlungen zur Beendigung des längsten bewaffneten Konflikts Lateinamerikas in Havanna stattfinden. Dort verhandeln die kolumbianische Regierung und die linke Guerilla FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) seit November 2012 darüber, wie das lateinamerikanische Land einen Frieden findet, der soziale Gerechtigkeit mit politischer Demokratisierung verbindet. Als sich Präsident Juan Manuel Santos, seit 2010 im Amt, und FARC-Chef Timoleón Jiménez (alias Timochenko) am 23. September 2015 die Hände reichten, um damit den Abschluss des vierten Teilabkommens über die „Sondergerichtsbarkeit für den Frieden“ zu besiegeln, war das für die meisten Beobachter der entscheidende Durchbruch. Santos ging sogar so weit, die Unterzeichnung des Gesamtabkommens für den 23. März 2016 anzukündigen. Das September-Abkommen hat vier Ziele: Beendigung der Straflosigkeit, Wahrheitsfindung, Entschädigung der Opfer und Bestrafung schwerer Menschenrechtsverletzungen. Zuvor hatten sich beide Seiten über die Agrarfrage, die politische Beteiligung der FARC und das Problem des Drogenanbaus geeinigt. Offen sind nunmehr noch die Frage der Entwaffnung der Guerilla, die nach Auffassung der FARC an die Entmilitarisierung Kolumbiens gekoppelt sein sollte, sowie die konkreten Schritte zur Umsetzung des Friedensabkommens. Zu letzterem schlägt die FARC die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung vor. Die Dimension des Konfliktes ist nicht nur an seiner langen Dauer (seit 1948) zu erkennen, sondern auch an der Zahl der 7,6 Millionen offiziell registrierter Opfer (von 49 Millionen Einwohnern), zu denen auch die über zwei Millionen Binnenflüchtlinge gehören. Gerade mit Verweis auf Letztere, die zumeist durch Paramilitärs im Dienste von Drogenbossen, Großgrundbesitzern oder Bergbauunternehmen von ihrem Land vertrieben wurden, stellt sich die grundsätzliche Frage, wie sich die Bestimmungen des Friedensabkommens mit dem neoliberalen Wirtschaftsmodell Kolumbiens vereinbaren lassen. Dieses setzt auf einen ungebremsten Extraktivismus, der dem Land zwar ein hohes Wirtschaftswachstum beschert hat, dessen sozialen und ökologischen Kosten jedoch immens sind. Der springende Punkt dabei ist, dass die kleine Minderheit der Nutznießer alles daransetzen wird, den wachsenden Widerstand der vielen Verlierer zu unterdrücken. Der eigentliche Test besteht also nicht in der Unterzeichnung des Friedensabkommens, die auch schon schwierig zu erreichen sein wird, sondern in seiner Umsetzung.

Testfall 3: Der lateinamerikanische Linkszyklus – eine Sackgasse?

Dass der Extraktivismus, das heißt der Raubbau der natürlichen Ressourcen zum Zwecke des Exports und zur Abschöpfung der dabei anfallenden Renten, ein umfassendes Strukturproblem Lateinamerikas darstellt, zeigen nicht zuletzt die Länder, die eine Linkswende vollzogen haben. Diese Welle begann mit dem Wahlsieg von Hugo Chávez im Dezember 1998 in Venezuela, setzte sich in Brasilien und Argentinien (2002/ 2003) sowie Uruguay (2004/ 2005) fort und gipfelte schließlich in der Wahl von Evo Morales als erster indigener Präsident Boliviens (2005) und in der „Bürgerrevolution“ in Ecuador, die Rafael Correa 2007 an die Macht brachte. Die Wahl des Präsidenten in Argentinien (25.10 bzw. 22.11.2015) sowie des Parlaments in Venezuela (6.12.2015), die in beiden Fällen mit der Niederlage des Regierungslagers endeten, werden allgemein als Anfang vom Ende der Linkswende in Lateinamerika gewertet. Diese Entwicklung hatte sich mit den knappen Wahlsiegen von Nicolas Maduro in Venezuela im April 2013 (50,75 Prozent) und Dilma Roussef in Brasilien im Oktober 2014 (51,6 Prozent) bereits angedeutet. Der neue Präsident Argentiniens, Mauricio Macri, trat am 10. Dezember 2015 sein Amt an. Im Wahlkampf und durch die Zusammensetzung der Regierung hat Macri eindeutig klargemacht, dass er seinen neoliberalen Kurswechsel zügig durchzusetzen gedenkt. In Venezuela gestaltet sich die Lage nach den Wahlen vom 6. Dezember weniger übersichtlich als in Argentinien. Zwar konnte das Oppositionsbündnis MUD (Mesa de Unidad Democrática – Tisch der Demokratischen Einheit) sogar eine Zweidrittelmehrheit (112 von 167 Sitzen) für sich reklamieren. Die jüngsten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes (TSJ), der am 30.12.2015 vier Mandate des Bundesstaates Amazonas (drei MUD- und ein PSUV-Sitz) wegen Verstoßes gegen das Wahlgesetz suspendiert und am 11.1.2016 alle Entscheidungen der Nationalversammlung für „null und nichtig“ erklärt hatte, zeigen jedoch, wie komplex die Lage ist. Inzwischen mussten sich die MUD-Abgeordneten, die die Niederlegung ihrer Mandate verweigert hatten, dem Spruch des TSJ beugen. Damit hat der rechte Parlamentsblock seine Zweidrittelmehrheit vorerst verloren. Aus mindestens fünf Gründen sind den Bestrebungen des anti-chavistischen Lagers klare Grenzen gesetzt: Erstens währt die Amtszeit von Präsident Maduro von der PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela – Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas), für die immerhin 41 Prozent der Wähler gestimmt hatten, noch bis 2019. Zweitens handelt es sich beim MUD um ein Bündnis von 14 Parteien, die nur eines eint – die Gegnerschaft gegenüber Maduro. Zählt man die Parteien im Parlament einzeln, dann ist die chavistische PSUV mit 55 Sitzen dort immer noch die stärkste Partei. Die führende Partei des MUD-Blocks ist Primero Justicia (PJ) unter Führung von Henrique Capriles Radonski, dem Gouverneur des Staates Miranda, mit 33 Sitzen, gefolgt von Acción Democrática (AD) mit 26 Abgeordneten. Zusammen mit den drei Parlamentariern von Avanzada Progresista (AP) bilden beide Parteien den gemäßigten MUD-Flügel. An der Spitze der „harten“ Anti-Chavistas steht Leopoldo López von Voluntad Popular (VP) mit 14 Sitzen. Außerdem gehören ehemalige Unterstützer von Chávez und Führer indigener Bewegungen zum MUD. Dass die Wahlsieger trotz ihrer überwältigenden Parlamentsmehrheit einen schweren Stand haben, ergibt sich drittens, aus der Stärke der chavistischen Basisbewegungen. Diesen werden die sozialen und politischen Errungenschaften der Chávez-Ära mit aller Kraft verteidigen. Hinzu kommt viertens, dass der anti-chavistische Block mit dem Faktor „Armee“ rechnen muss. Die Bolivarischen Streitkräfte haben bereits klargemacht, dass sie loyal zur Regierung stehen. Aus dem bisherigen ergibt sich, dass sich die Chavistas mit ihren Gegnern einen harten „Stellungskrieg“ liefern werden. Dieser vollzieht sich fünftens vor dem Hintergrund einer tiefen Krise des auf Ölrente gegründeten extraktivistischen Wirtschafts- und Entwicklungsmodells Venezuelas, das unter Chávez trotz aller revolutionären Rhetorik noch ausgebaut wurde. Je mehr Einfluss das rechte Lager für sich einfordert, desto mehr steht er auch in der Verantwortung, einen glaubwürdigen Ausweg aus der Krise aufzeigen zu müssen. Im Kern wird es darum gehen, wie die Einnahmen aus dem Erdöl künftig verteilt werden. Dies genügt jedoch nicht. Die entscheidende Frage wird sein, ob die Klassenkämpfe in Venezuela eine Dynamik erlangen, die mit der Logik des Extraktivismus bricht. Nur wenn der chavistischen Bewegung dies gelingt, hat das Land eine Chance, sich aus dem Gefängnis der strukturellen Abhängigkeit vom Erdöl zu befreien. Venezuela liefert zugleich die wesentliche Erklärung für den Niedergang der Linkswende in Lateinamerika. Der Boom der Rohstoffpreise ab 2000 hatte es den linken Regierungen ermöglicht, durch die Rückgewinnung der Kontrolle über die strategischen Wirtschaftssektoren und die Steigerung der Exporte von fossilen Energieträgern (Venezuela, Bolivien, Ecuador), Agrarprodukten (Argentinien, Uruguay, Brasilien, Bolivien) sowie Erzen und Mineralien (Brasilien, Argentinien) umfassende Sozial- und Bildungsprogramme zu initiieren, um auf diesem Wege die Armut zurückzudrängen und den Lebensstandard für die breite Masse der Bevölkerung zu verbessern. Zusammen mit der Erweiterung der politischen Partizipation führte dies dazu, dass die linken Regierungen sich auf eine stabile Wählerbasis stützen konnten. Charismatische Persönlichkeiten gaben den jeweiligen nationalen Projekten ihr spezifisches Gepräge. Die neo-extraktivistischen Projekte gerieten jedoch mit dem Preisverfall auf den internationalen Rohstoffmärkten und der globalen Wirtschaftskrise in eine Sackgasse. Die mit dem Linkszyklus begonnenen Prozesse der Mobilisierung, Demokratisierung und Umverteilung haben nur dann eine dauerhafte Chance, wenn sie sich schrittweise aus der Extraktivismus-Falle befreien. Insofern bietet die gegenwärtige Krise auch eine Möglichkeit, das gegenwärtige Dilemma als Ansatzpunkt für eine Reaktivierung der sozialen Bewegungen auf neuer Grundlage zu nutzen.

 Testfall 4: Mexiko im Drogenkrieg – ein scheiternder Staat?

Eine andere Variante der Krise verkörpert Mexiko. Anders als die rohstoffexportierenden Länder Südamerikas hat das nördlichste Land Lateinamerikas den Weg der Integration in die Nordamerikanische Freihandelszone NAFTA eingeschlagen. Bei den Exporten, die zu fast 80 Prozent (2013) in die USA gehen, hat das Erdöl nur noch einen Anteil von 12,8 Prozent. Den Löwenanteil nehmen Industriegüter und Dienstleistungen ein. Der Preis dafür ist hoch: Anhaltende Abhängigkeit von den USA, die Zerstörung der einheimischen Landwirtschaft durch subventionierte Billigimporte, anwachsende Migration, gesellschaftliche Anomie. All dies kulminiert in zwei miteinander verschlungenen Prozessen, die die Staatlichkeit Mexikos aushöhlen: der Drogenkrieg und der Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Obwohl seit Beginn des Drogenkrieges 2006 mehr als 70.000 Menschen den Tod gefunden haben, stellt Ayotzinapa, wo sich eine Hochschule zur Ausbildung von Grundschullehrern befindet, ein besonders tragisches Symbol der mexikanischen Mehrfachkrise dar. Am 26. September 2014 waren 43 Studenten dieser Einrichtung entführt worden und sind seitdem verschwunden. Aus diesem „Vorfall“ entwickelte sich der bisher größte Skandal der Präsidentschaft von Enrique Peña Nieto. Einerseits zeigen sich an diesem Aufsehen erregenden Gewaltakt die engen verbrecherischen Verbindungen zwischen Politikern, Polizisten und Verbrechern in Mexiko besonders anschaulich. Andererseits wurde das grausame Schicksal der Jugendlichen zum Kristallisationspunkt einer breiten Protest- und Widerstandsbewegung, die bis heute anhält und auch international hohe Wogen geschlagen hat. José Luis Abarca Velázquez, Bürgermeister von Iguala im Bundesstaat Guerrero, und seine Frau María de los Ángeles Pineda Villa gelten als Drahtzieher des Verbrechens. In ihrem Auftrag wurden die Studenten von der lokalen Polizei verhaftet und von dieser an das Drogensyndikat Guerreros Unidos übergeben, dass dann alle 43 Opfer ermordet und verbrannt haben soll. Als Jesús Murillo Karam von der Generalstaatsanwaltschaft diese Darstellung im Januar 2015 auf einer offiziellen Pressekonferenz als „historische Wahrheit“ bekannt gab und den Fall damit abschließen wollte, warf dies mehr Fragen auf, als Antworten gegeben werden konnten. Bereits im November war auf Druck der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) eine unabhängige interdisziplinäre Expertengruppe (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes – GIEI) beauftragt worden, den Fall zu untersuchen. Am 6. September 2015 veröffentlichte sie ihren 400-seitigen Bericht, in dem die Geschehnisse der Nacht des 26. September rekonstruiert wurden. So waren die 43 Studenten zusammen mit vielen anderen (der Bericht spricht von mehr als 700 Personen) Opfer der Gewalt. Im Laufe der Nacht agierten verschiedene Organe der staatlichen Sicherheitskräfte (lokale Polizei, Landes- und Bundespolizei sowie das Militär) aktiv als Täter. Eine detaillierte Inspektion der Müllhalde in Cocula, auf der die Studenten angeblich verbrannt worden waren, ergab, dass eine Verbrennung aus verschiedenen Gründen an diesem Ort unmöglich stattgefunden haben konnte. Außerdem kristallisierte sich die Existenz eines fünften Busses heraus, der in der offiziellen Untersuchung der Staatsanwaltschaft an keiner Stelle erwähnt worden war. Dieser spielt jedoch eine wichtige Rolle, da er bereits in anderen Fällen in Zusammenhang mit Drogen- oder Geldtransport von Iguala nach Chicago aufgetaucht war. Die Untersuchung dieser Tatbestände durch die staatlichen Behörden wird von den Experten dringend gefordert. Der zentrale Part, den staatliche Institutionen im mexikanischen Drama spielen und der einmal mehr mit Ayotzinapa seine traurige Bestätigung gefunden hat, zeigt, dass nur in einem Sinne von einem „scheiternden Staat“ gesprochen werden kann: Hier handelt es sich um eine Institution, die bar jeder Rechtsstaatlichkeit agiert und unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung Krieg gegen das eigene Volk führt. Die Funktion dieses Staates besteht darin, den Widerstand, der aus den Perversionen des praktizierten Wirtschaftsmodells resultiert, auszuschalten und zu kanalisieren. Er agiert dabei einerseits als vorgeschobene Instanz der Sicherheitsbedürfnisse der USA (Migrantenabwehr, Unterdrückung sozialer Bewegungen, ungehinderter Zugriff auf strategische Ressourcen), ist andererseits aber auch Austragungsort des Kampfes rivalisierender Cliquen von korrupten Politiker, des organisierten Verbrechens und des Sicherheitsapparates. Wie der Drogenkrieg zeigt, ist von einem solchen Staat keine Lösung des Problems zu erwarten, aus dem einfachen Grund, weil er selbst Teil des Problems ist. Damit stellt er zugleich die „dunkle Seite“ der „Erfolgsstory“ vom aufstrebenden Schwellenland Mexiko dar, das es bis in die Gruppe der OECD geschafft hat und wegen seines Wachstumsmarktes zu den Nachfolgekandidaten der BRICS gezählt wird.

 Testfall 5: BRICS in Lateinamerika – Aufsteigerbündnis als Alternative?

Brasilien: Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva mit Präsidentin Dilma Rousseff - Foto: Agencia Brasil, Ricardo StuckertDas Kürzel „BRICS“ steht für die fünf großen Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Zunächst nur eine Kategorie, die das ökonomische Wachstumspotential der genannten Länder veranschaulichen sollte, ist daraus inzwischen ein politisch institutionalisierter Zusammenschluss geworden. So kommen die fünf Staatsoberhäupter seit 2009 zu jährlichen Gipfeltreffen zusammen, um ihr Auftreten auf internationalem Parkett zu koordinieren. Bahnbrechend war die Gründung einer eigenen Entwicklungsbank und eines Währungsfonds, die beide 2016 die Arbeit aufnehmen werden. Für Lateinamerika sind die BRICS unter zwei Aspekten von Relevanz: Zum einen ist mit Brasilien das größte Land der Region Mitglied der genannten Staatengruppe, zum anderen erlangt China ein wachsendes Gewicht als Investor und Exportmarkt für viele lateinamerikanische Länder. An erster Stelle steht dabei Brasilien. So bezog China 2013 allein 43 Prozent seiner lateinamerikanischen Importe aus Brasilien. Umgekehrt ist China mit einem Anteil von 17,14 Prozent (2014) der wichtigste Außenhandelspartner Brasiliens. Aus chinesischer Sicht folgen Chile (16 Prozent), Venezuela (10 Prozent), Mexiko (8 Prozent), Peru (7 Prozent), Argentinien (5 Prozent) und Costa Rica (4 Prozent) als die wichtigsten Importländer der Region (die Zahlen in der Klammer geben den Anteil am chinesischen Gesamtimport aus Lateinamerika von 2013 wieder). 2013 belief sich der chinesische Import aus Lateinamerika auf insgesamt 126 Milliarden US-Dollar, während der Export dorthin 134 Milliarden betrug. In den meisten lateinamerikanischen Ländern nimmt der Außenhandel mit China inzwischen den ersten (Chile, Uruguay) bzw. zweiten Platz (Argentinien, Bolivien, Kolumbien, Mexiko, Peru) ein. Im Zeitraum von 1990 bis 2013 hat China 50 Mrd. US-Dollar in Lateinamerika investiert. Davon entfallen 56 Prozent auf Brasilien, 16 Prozent auf Chile und 15 Prozent auf Argentinien. Seit 2001 ist die Region 31 Male von Präsidenten bzw. Ministerpräsidenten Chinas besucht worden, davon sechs Mal Brasilien. Die wachsende Präsenz Chinas in Lateinamerika hat für die Länder der Region höchst ambivalente Konsequenzen. Einerseits können sie diese nutzen, um ihre Außenbeziehungen zu diversifizieren und den Einfluss der USA zurückzudrängen. Andererseits ist China vor allem an Rohstoffimporten interessiert, wodurch der Trend der Reprimarisierung und des Extraktivismus verstärkt wird. Diese neuerliche Festlegung Lateinamerikas auf die Rolle eines Rohstofflieferanten (mit Ausnahme Mexikos) schränkt die Spielräume für alternative Wirtschafts- und Entwicklungsmodelle deutlich ein. Diese Ambivalenz von wachsendem politischen Einfluss und ökonomisch bedingter Abhängigkeit verkörpert Brasilien in geradezu paradigmatischer Weise. Auf der einen Seite hat sich das größte Land Lateinamerikas nicht nur als regionale Führungsmacht etabliert, sondern wächst auch schnell in seine neue Rolle als südlicher global player hinein. Die Mitgliedschaft im BRICS-Klub und in der G20 verschafft ihm dabei das nötige internationale Gewicht. Im Integrationsblock des MERCOSUR, zu dem als Vollmitglieder noch Argentinien, Paraguay, Uruguay und Venezuela gehören, bildet Brasilien klar das ökonomische Gravitationszentrum. Zusammen mit Venezuela war es dem Land 2006 gelungen, das US-Projekt einer kontinentalen Freihandelszone zu verhindern. Zugleich bemüht sich Brasilien um gute Beziehungen zu den USA, die ihrerseits im Rahmen des von Barack Obama verkündeten „Pazifik-Schwenks“ einen neuen Freihandelsblock (Trans Pacific Partnership – TPP) aufbauen, zu dem auch die lateinamerikanischen Länder Mexiko, Peru und Chile gehören. Auf der anderen Seite machen die Wirtschaftskrise und wachsende soziale Spannungen der Regierung von Dilma Rousseff schwer zu schaffen. Zwar hat sich seit 2003 dank der entsprechenden Sozialpolitik eine „neue Mittelklasse“ entwickeln können, die seit 2013 aber ihre Unzufriedenheit mit den schlimmen Zuständen im Bildungs-, Gesundheits- und Verkehrswesen sowie mit den Megaprojekten rund um die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 artikuliert. Gleichzeitig macht die Landlosenbewegung nach wie vor Druck für eine Agrarreform, und in Amazonien formiert sich eine Widerstandsbewegung aus indigenen Völkern und Umweltaktivisten gegen die Megastaudämme, riesige Erztagebaue und interozeanische Transporttrassen. Auch die anderen BRICS-Staaten sehen sich mit den Folgen der globalen Wirtschaftskrise konfrontiert: Russland leidet unter den niedrigen Ölpreisen, die auf ein neues Tief von 30 Dollar pro Barrel (159 Liter) gefallen sind; Chinas Börsen erleben einen Einbruch nach dem anderen; Indiens Wirtschaft hat sich zuletzt zwar erholt, steht aber vor gewaltigen Herausforderungen bei der Bekämpfung der Armut sowie in der Bildungs- und Infrastrukturentwicklung; in Südafrika stieg das Bruttoinlandsprodukt 2015 nur um magere 1,4 Prozent, außerdem hat das Land mit strukturellen Problemen wie extremer sozialer Ungleichheit, Korruption und Rassismus zu kämpfen. Hinzu kommt, dass die USA mit den beiden Freihandelsblöcken TTIP (USA-EU) und TPP (neben den oben erwähnten Ländern noch Kanada, Australien, Neuseeland, Japan, Singapur, Malaysia, Brunei und Vietnam) die eurasische BRICS-Achse Russland-China in die Zange nehmen wollen. Bei Russland kommen die Auswirkungen der westlichen Sanktionen hinzu. Wie die BRICS unter diesen Bedingungen ihren Aufstieg fortsetzen und die von ihnen angestrebte multipolare Weltordnung durchsetzen können, wird die Zukunft zeigen müssen. Auf dem Dreifach-Gipfel im Juli 2015 in Ufa, der von Russland ausgerichtet worden war und auf dem sich zuerst die BRICS und anschließend die Mitgliedsstaaten der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) bzw. der Eurasischen Union trafen, zeigten sich deren Staatschefs jedenfalls zuversichtlich.

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Wie alle fünf Testfälle verdeutlichen, steht Lateinamerika in mehrfacher Hinsicht an einem Scheideweg. In Kuba, Kolumbien, Mexiko, Venezuela und Brasilien geht es nicht nur um die nationale Entwicklung, sondern um Entscheidungen von kontinentaler Reichweite. Dass sich die handelnden Akteure in verschiedenster Weise mit den USA konfrontiert sehen, ist kein Zufall. In jedem der fünf Länder geht es darum, strukturell bedingte Fehlentwicklungen zu überwinden und Neuland zu beschreiten. Gerade die linken Akteure sind gefordert, dafür innovative, überzeugende und massenwirksame Konzepte zu entwickeln und umzusetzen.

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Bildquellen: [1] Public Domain; [2] Streetart, Dj Lu; [3] Agencia Brasil, Ricardo Stuckert 

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