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Cipriano Castro in Deutschland und ein Waffenschmuggel nach Venezuela

Michael Zeuske | | Artikel drucken
Lesedauer: 18 Minuten

Cipriano Castro (1858-1924),[1] „Caudillo de los Andes“ und Präsident Venezuelas in den unruhigen Jahren des Übergangs vom 19. und 20. Jahrhundert [2], wurde während einer Auslandsreise von seinem Intimus und Vizepräsidenten Juan Vicente Gomez gestürzt (19. 12. 1908). [3]

Castro hatte Venezuela im November 1908 verlassen. Obwohl die meisten der einschlägigen historischen Arbeiten zwar als Ziel der Auslandsreise des Noch-Präsidenten eine chirurgische Operation im kaiserlichen Deutschland angeben, nimmt die Mehrzahl der Autoren an, es habe sich nur um einen kurzen Abstecher gehandelt und erwähnen einen längeren Deutschlandaufenthalt Castros überhaupt nicht. Das „Diccionario de Historia de Venezuela“ [4] etwa, als derzeitig prominentestes Lexikonwerk, vermutet ein Umherirren auf den nahe liegenden Karibikinseln und sieht Castro dann in Madrid, Paris und auf Teneriffa. In Realität gelangte Castro recht schnell nach Deutschland. Aus einem kleinen Artikel der Zeitung „Dresdner Nachrichten“ [5] geht hervor, daß der Expräsident zu diesem Zeitpunkt bereits in Deutschland weilte. Seine Ziele waren Berlin und Dresden. Castro hatte bei der Einreise angegeben, daß er sich in der deutschen Metropole Berlin von einem gewissen Prof. J. A. Israel medizinisch behandeln lassen und die Heilung der Nierenoperation in Dresden abwarten wolle [6]. Wegen der recht delikaten Sicherheitsprobleme, aber auch wegen der Paßangelegenheiten kam es bei der Einreise des gestürzten Präsidenten zu Schwierigkeiten mit dem venezolanischen Gesandten in Berlin, Jose Gil Fortoul [7] – bekanntlich einer der großen Historiker Venezuelas. Der Lebenswandel von Castro in Berlin erregte einiges Aufsehen: Er bewohnte die Prinzessinnen-Suite (34 Räume) im Hotel Esplanade und soll sich regelmäßige Rationen von 60 – 80,- Mark teuren Weinen oder 120,- Mark-Kognacs genehmigt haben [8].

In den Texten des diplomatischen Hin und Her zeigt sich, daß die Behörden in Dresden nach der Ankunft des Ex-Präsidenten in Sachsen durch das kaiserliche Auswärtige Amt in Berlin auch sehr gut über die innenpolitischen Vorgänge in Venezuela informiert waren. Ein Bericht des deutschen Gesandten von Prollius in Caracas war in der Abschrift nach Dresden geschickt worden:

„Im Laufe der letzten Woche erfolgten noch einige weitere Verhaftungen angeblicher Castro’scher Parteigänger. Auch behauptet die Regierung, in Tachira ein großes Waffenlager, das den Zwecken des früheren Präsidenten dienen sollte, entdeckt zu haben. Das Schreckgespenst Castro ist aber nicht mehr die alleinige Sorge. Es sind in letzter Zeit eine größere Zahl Verhaftungen vorgenommen worden, die mit Castro nichts zu tun haben. Die Stimmung im Lande gegen das jetzige Regime wird allmählich immer unfreundlicher. Die zahlreichen ‚homines rerum novarum cupidi‘ sind für häufigen Wechsel, bei dem sie im Trüben zu fischen hoffen; außerdem bietet einen guten Nährboden für die Unzufriedenheit die andauernde Stagnation und der Mangel an Arbeits- und Verdienstgelegenheit und schließlich sind die Leistungen des jetzigen Regierungssystems hinter den bescheidensten [sic! – M.Z.] Erwartungen zurückgeblieben. Die Machthaber halten den Zeitpunkt für Unterdrückungsmaßnahmen für gekommen. Irgendwie verdächtige, mißliebige [sic! – M.Z.] Personen werden verhaftet und in die berüchtigte Festung San Carlos bei Maracaibo überfuhrt. Es handelt sich nicht bloß um die Unschädlichmachung böswilliger Unruhestifter, vielmehr um die Festsetzung eines unbeschränkt willkürlichen und skrupellos selbstsüchtigen Regiments. Dies illustriert ein Vorfall der vergangenen Woche, bei welchem die Regierung den Rest ihres moralische Kredits eingebüßt hat. Um die verwahrlosten Finanzverhältnisse des Bundesdistrikts in Ordnung zu bringen, wurden unlängst in den ‚Consejo municipal‘, das Organ der hauptstädtischen Verwaltung eine Reihe der angesehensten hiesigen Bürger berufen. Bei der Prüfung der bisherigen Finanzgebarung des Distrikts ergaben sich arge Mißstände, auf die eines der neuen Mitglieder namens Chaumer als Referent pflichtgemäß und sachlich hinwies; den nächsten Morgen wurde er von dem bisherigen Chef der städtischen Finanzverwaltung, einem gewissen, aus den Andinen [Anden – M.Z.] stammenden Garcia auf der Straße meuchlings erschossen. Bei der großen Erregung, welche die Tat hervorrief, ergriff auch die Regierung das Won, presste sich aber nur mit Mühe einen leisen flüchtigen Tadel der Mordtat ab, während als der Schuldige der Ermordete hingestellt wurde, der parteipolitische Leidenschaften habe entfachen wollen. So endete der Versuch guter Elemente, sich an gemeinnütziger Tätigkeit zu beteiligen, mit einem raschen und vollständigen Fiasko.

Der Vorfall hat den Hass gegen die Andinen [„andinos“ – Bezeichnung für die regionale Elite, die Castro, aber auch Gomez stützte, M.Z.], die als die hauptsächlichen Bedrücker des Landes gelten, neue Nahrung gegeben. Diejenigen, die an der Befreiung vom Andinenjoch verzweifeln, beginnen ihre Blicke nach den Vereinigten Staaten zu wenden. gez. Rhomberg; Sr. Excellenz dem Reichskanzler, Herrn von Bethmann Hollweg [sic! -M.Z.J“ [9]

Berichte dieser Art und die Befürchtungen einer neuerlichen Machtergreifung der Castristas mittels in Deutschland (oder einem anderen europäischen Staat) beschaffter Waffen und Schiffe sicherten dem Privatmann Castro immer ein ziemlich starkes Interesse der jeweiligen Behörden. [10]

Einen Höhepunkt in unserem Zusammenhang erlebte dieses Interesse vier Jahre später, nachdem Castro erst von Dresden nach Bordeaux und wie ein „Fliegender Holländer“ (Aufmacher der „Neuen(n) Hamburger Zeitung“) nach Martinique, zurück nach Spanien, nach Frankreich und auf die Kanarischen Inseln gereist war und schließlich auf Teneriffa einige Zeit lang das „Lotterleben“ eines gestürzten, aber immer noch einflußreichen Politikers geführt hatte. Bald darauf war er in den USA zunächst auf Ellis Island festgehalten worden und kam dann kurzfristig wieder in das Deutsche Reich zurück. In dem bereits zitierten Aktenkonvolut Nr. 2039 des Außenministeriums Dresden erscheint auf Blatt 21 [r.] eine kleine, kaum sichtbare Notiz des Inhalts: „Über den Aufenthalt und das Tun und Treiben des früheren Präsidenten Castro in und um Dresden siehe die Akten ‚Waffen- und Munitionsverkauf ins Ausland betr. de ao [anno – M.Z.J 1895 (Abt. K, no: 40)‘, insbesondere Registrantennummern 107 und 146F/1913.“ [11]

Ein solches „siehe“ ist bekanntlich eine Aufforderung, die jeder Historiker gerne liest. Mehr noch, wenn er trotz erheblicher Verluste in deutschen Archiven nach dem II. Weltkrieg, die entsprechende Akte nach diesen Angaben auch findet.

Die Angelegenheit beginnt in einem Aktenkonvolut über den sächsischen Waffenhandel mit einem unscheinbaren Zettel, auf dem folgende Anfrage von Berlin nach Dresden gesandt wurde: „Dem kolumbianischen Gesandten in Berlin ist die Nachricht zugegangen, daß auf Veranlassung des früheren venezuelanischen Präsidenten Castro, der sich zeitweilig in Dresden bei einem gewissen Wolfram und in Kossebaude [Zusatz von anderer Hand in der Akte: ‚wohl Cossebaude‘ – M.Z.J bei einem Vogt aufgehalten hat, als Nähmaschinen deklarierte Waffen nach Kolumbien ausgeführt worden wären. Castro plane anscheinend einen bewaffneten Einfall von Kolumbien nach Venezuela.“ [12]

Daraufhin wurde beim sächsischen Kriegsministerium, bei der Polizeidirektion Dresden und im Ministerium des Innern Sachsen nachgefragt. Das Ergebnis war zunächst überall negativ. Eine darauffolgende in den Akten festgehaltene Promemoria verrät aber interessante Einzelheiten über den Aufenthalt Castros in Dresden. Der Ex-Präsident habe sich Ende März/Anfang April 1913 „einige Male vorübergehend bei dem Kaufmann Hermann Wolfram in Cossebaude, Dresdnerstrasse 42 aufgehalten.“ [13] Wolfram sei der Inhaber einer Fabrik für chemisch-technische Produkte, einer Handlung und eines Agentur- und Kommissionsgeschäftes. Wolfram sage nicht viel über Castro, da sich dieser wegen der „vielen Petenten“ verborgen halten wolle. Darüber hinaus wurden in der Promemoria Auskünfte von Fachleuten (wie dem „Königlichen Hofbüchsenmacher Gründig“) aufgelistet, die besagten, daß in Sachsen zu diesem Zeitpunkt kein Waffenhändler größere Mengen von Waffen verkaufe. Ähnlichen Inhalts ist ein Bericht des Sächsich-Königlichen Polizeidirektors vom 21. Mai 1913. Der Bericht fügt den Fakten der Promemoria nur die Information hinzu, daß Wolfram als Castros „Vertrauter und sein Privatsekretär“ [14] bezeichnet werde.

Außerdem sei Castro seit Pfingsten 1913 nicht mehr in Dresden gesehen worden. Bereits vom 27. Mai 1913 allerdings datiert ein weiteres amtliches Schreiben der Polizeidirektion Dresden, das den Bericht eines „Obergendarms Hösemann“ enthält. Castro sei seit dem 25. Mai wieder bei „Wolfram in Cossebaude, Dresdnerstr. 261 – Wilhelm Langelott – aufhältlich“.[15] Das Schreiben enthält eine Aufklärung darüber, wie es zu dem Kontakt Wolframs mit Castro gekommen sein könnte: Wolfram, am 5. 8. 1860 in Hamburg geboren, „soll früher venezuelanischer Konsul gewesen sein.“ [16] Seme Firma sei in Wahrheit wohl eine Deckfirma, „während er mit Castro reist oder mit demselben bzw. in dessen Auftrag auswärts Geschäfte besorgt.“ [17]

Kurze Zeit darauf nahm die Angelegenheit eine überraschende Wendung. Wilhelm Langelott -bisher in den Texten eher Statist am Rande des Geschehens – erschien im Juli 1913 in Dresden bei einem Dr. von Brescius und erklärte folgendes:

[…] „In meinem Hause in Cossebaude wohnt Herr Hermann Wolfram, Kaufmann und Fabrikbesitzer. Dieser ist ein genauer Kenner der venezuelanischen Verhältnisse, da er dort 10 Jahre lang als Teilhaber der Firma van Dynel [sic] [18] tätig gewesen sei. Er ist gleichzeitig persönlicher Freund des Expräsidenten Castro, der sich zur Zeit in Dresden unter dem Namen seiner Mutter aufhält. Castro hat früher in der vorgenannten Firma [Van Dynel oder Van Dissel – M. Z.] während seiner kaufmännischen Ausbildungszeit 2 Monate unter Herrn Wolfram als Volontär gearbeitet. Während seines Dresdner Aufenthaltes verkehrte Castro mit Wolfram in dessen Hause. Von Wolfram habe ich das Nachstehende erfahren und die Ermächtigung erhalten, es zur Kenntnis der Sächsischen Regierung und der Reichsregierung zu bringen. Ich nehme an, daß Castro ebenfalls davon informiert ist, daß das Nachstehende zur Kenntnis der Regierungen gebracht wird und auch damit einverstanden ist: Castro wünscht nach Venezuela zurückzukehren und wieder die Präsidentschaft zu erlangen. Nach seiner Meinung hat Gomez abgewirtschaftet und die allgemeine Landesstimmung geht dahin, daß man Castro zurückwünscht. Castro glaubt, daß sein Anhang, zu dem insbesondere die führenden Leute des Militärs gehören, so stark ist, daß beim Betreten des venezuelanischen Bodens [sie! – M.Z.] seine Wiederwahl sofort durchgedrückt werden könne. Dieselbe Ansicht besteht auch in Kreisen der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, wofür folgendes als Beweis dient. Nachdem Castro in New York zunächst an der Landung gehindert und 4 Wochen gewaltsam zurückgehalten worden war, hat der Gouverneur des Staates New York Castro zu sich geladen und eine offizielle Entschuldigung abgegeben. Bei der gleichen Veranlassung (einem offiziellen Diner) hat die Tochter des Gouverneurs bei einer Tischrede auch Castro erklärt, er sitze jetzt augenblicklich auf dem Stuhl des Präsidenten Wilson, sie hoffe ihn bald auf dem Stuhle als Präsident von Venezuela begrüßen zu können.

Die gleiche Auffassung scheint auch in den Kreisen maßgebender französischer Waffenlieferanten zu herrschen. Der Inhaber der großen Pariser Waffenfabrik Le Bong (die Firma ist Herrn Langelott nicht bekannt) hat Castro früher das Anerbieten gemacht, ihm große Waffenlieferungen zu leisten gegen Barzahlung der Hälfte und Wechseln für den Rest. Castro hat dies abgelehnt. Le Bong ist inzwischen selbst in Caracas gewesen und hat die Stimmung erkundet. Diese ist ihm für Castro derart günstig erschienen, daß er neuerdings Castro angeboten hat, ihm einen ganzen Dampfer mit Waffen, der ihm gleichzeitig Gelegenheit zur Überfahrt bieten könnte, auszustatten ohne jede Barzahlung, nur gegen die persönliche Verpflichtung Castros, ihm im Falle seiner Wiederwahl den [sie] doppelten Wen zu leisten. Castro hat dies abgelehnt, weil er Waffen nicht braucht. Zum 8. Juli wollte Castro mit dem Dampfer der Hamburg-Amerika Linie auf Rückreise-Karte die Reise nach Venezuela antreten, in der Hoffnung, bei je zweimaligen Anlaufen von 4 venezolanischen Häfen die Möglichkeit zu finden, an Land zu gehen. Dies ist unmöglich geworden, weil in Hamburg der Angestellte eines Vertrauensmannes von ihm in dessen Abwesenheit seines Herrn Pult erbrochen, von diesem Plane und dem Briefwechsel Kenntnis erhalten und dies der venezuelanischen Regierung mitgeteilt hat.

Castro ist bekannt, daß in Dresden und in verschiedenen Hafenplätzen venezuelanische Spione sitzen, die ihn überwachen. Auch fühlt er sich polizeilich in Dresden überwacht. Castro beabsichtigt in Deutschland keine Unternehmung irgendwelcher An, insbesondere Waffenkäufe zu machen; er hat lediglich den Wunsch, ungehindert Deutschland zu verlassen. Herr Wolfram versichert, daß Castro nach wie vor gegen Deutschland eine freundliche Gesinnung hege, dies habe er auch in früheren Zeiten während seiner Herrschaft bewiesen. Sobald er an das Ruder gekommen ist, habe er sofort dafür gesorgt, daß alle von seinen Vorgängern bei deutschen Firmen gemachten Zwangsanleihen zurückbezahlt ‚worden sind, die größten Interessen habe in Venezuela die Firma H. H. und L. F. Blohm (Verwandte des Inhabers der Firma Blohm & Voß,) diese könne jetzt jedoch nichts unternehmen, weil sie sonst ihren Besitz durch Gomez gefährdet sieht. Sie stehe aber ganz auf Seiten von Castro [19] und wünsche dessen Rückkehr.

Castro habe auch zu Deutschland Vertrauen; dies geht daraus hervor, daß er im Falle seiner Wiederwahl sein Vermögen nach Deutschland schaffen und Wolfram zur Verwaltung übergeben wolle (6-7Millionen).

Castro hat weiter erklärt, er sei bereit im Falle seiner Wiederwahl Deutschland für seine Flotte eine Kohlenstation [Hervorheb, im Orig. -M.Z.] [20] abzutreten. Er ist auch davon informiert, daß diese Erklärung zur Kenntnis der [sic] deutschen Regierung gebracht wird. Herr Langelott erklärte schließlich, er wisse genau, daß Castro in nächster Zeit Deutschland verlassen werde er sei jedoch behindert, hierüber Einzelheiten mitzuteilen. Würde der einzige Wunsch Castros, ihn in seiner Abreise nicht zu behindern, erfüllt, so glaubt Herr Langelott, daß Castro seine Dankbarkeit hierfür tatsächlich erweisen werde.

Herr Langelott erklärte schließlich, er habe Mitteilung nicht etwa als Agent Castros oder in eigenem Interesse gemacht, sondern lediglich deshalb, weil er glaube, daß das Deutsche Reich durch einen angemessenen Gebrauch dieser Mitteilung politische Vorteile haben könnte. Herr Langelott hält es insbesondere für sehr wünschenswert, daß die Überwachung Castros, soweit sie aufrecht erhalten wird, durchaus unauffällig geschieht, um ihm nicht Anlaß zu Argwohn zu geben und zu verärgern. Castro sei bei seiner Abstammung als Indianer von Charakter ein sehr mißtrauischer, nachträglicher und leicht zu verärgernder Mensch.“ [21]

Eine vertrauliche Notiz läßt allerdings erkennen, daß die Dresdner Polizei Castro weiterhin gut überwachte. Castro habe sich, so heißt es Anfang August 1913 bis zum 9. oder 10. Juni des Jahres in Cossebaude aufgehalten. Dann sei er für einige Tage unter falschem Namen in einem Dresdner Hotel untergekommen. Am 17. Juni sei er nach Berlin abgereist. [22]

Allerdings ließen die deutschen Behörden Castro ohne größere Schwierigkeiten ausreisen. Mittlerweile erschienen in sächsischen Zeitungen, wie den „Dresdner Neuesten Nachrichten“ und dem „Dresdner Anzeiger“, Meldungen folgenden Inhalts: „Gerüchten zufolge seien die Regierungstruppen in Coro von Castroanhängern überrumpelt worden; Gomez selbst habe sich an die Spitze der Regierungstruppen gestellt. Castro aber sei selbst nicht im Lande.“ [23]

Daraufhin hatte man aus Berlin besorgt in Dresden anfragen lassen: Unter Castro sei ein Aufstand in Coro ausgebrochen; ob er sich noch in Dresden befände? [24] Castro war längst aus Deutschland verschwunden, wie er in dem durch Langelott übermittelten „Kommunique“ informiert hatte.

Dagegen hatte die Waffenschmuggelangelegenheit noch ein längeres Nachspiel. Zunächst, und besonders aufgrund der Informationen des „Kommuniques“ Langelott/Castro, hatten die Behörden in bezug auf Waffenschmuggel an eine Fehlinformation geglaubt. Unter dem Datum Dresden, 14. November 1913 findet sich allerdings ein „Bericht des Hauptzollamtes Dresden I: Waffenlieferungen nach Kolumbien unter falscher Deklaration“ [25] Aus einem Schreiben des Handelstatistischen Amtes in Hamburg [26] gehe hervor, daß in einem Strafverfahren gegen die Firma Holst & Co. in Hamburg wegen Überschreitung des Anmeldegesetzes ermittelt worden ist. Im Auftrage der genannten Firma seien am 15./16. März des Jahres 120 Kisten Patronen mit der Bezeichnung G 1/120 zur Verschiffung mit dem Dampfer Flora nach Barbados über die Zollabfertigungsstelle auf dem Sande in Hamburg ausgeführt worden. Die Patronen seien als Kupfernägel deklariert gewesen. Der „Kaufmann Hermann Wolfram hierselbst, Glacisstr. 7/1 wohnhaft“ sei in der Angelegenheit gehört worden. Aus dem Schriftenheft der Firma Holst & Co. gehe außerdem hervor, daß ein gewisser Franco [Francisco – M.Z.] Becerra sich Mitte Mai einige Tage in Dresden aufgehalten habe und daß Wolfram von ihm „lediglich aus Gefälligkeit“ einige Auslieferungsscheine übernommen und an die Firma W. Holst & Co. weitergegeben habe, da er Spanisch spräche und Becerra auch nur des Spanischen mächtig sei. Wolfram sagte aus, er habe sich um die Angelegenheit nicht weiter gekümmert, es sei aber möglich, daß es sich um Waffen handele. Becerra sei seinerzeit wohl nach Paris weitergereist. Becerra habe Wolfram auch 388 Mark und 90 Pfennige zur Verfügung gestellt mit dem Auftrage, davon Ende Dezember des Jahres an die Firma Brasch & Rothenstein (für Dampfer St. Croix) 164 Mark und den restlichen Betrag an 224 Mark und 90 Pf. an die Firma F. W. Dahleström in Hamburg (für Dampfer Jan van Nassau) für Frachtdifferenz abzusenden. Sonst habe er mit der Sache nichts zutun [27].

Leider geben die sächsischen Akten im Falle Castros und semer Agenten in Deutschland keine weiteren Auskünfte außer einigen allgemeinen Informationen, meist in der Form von Zeitungsausschnitten. So sind aus der Perspektive dieser Akten keine Aussagen über das weitere Schicksal der Vertrauten des gestürzten venezolanischen Präsidenten möglich.

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Michael Zeuske
geb. 1952, 1976-1981 Studium der Geschichte an der Universität Leipzig, danach Forschungsstudium bei Manfred Kossok, Seit 1993 Professor an der iberischen und lateinamerikanischen Abteilung des Historischen Seminars in Köln.

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[1] P. E. Femandez, Rasgos biograficos del general Cipriano Castro, Madrid 1952; M. Picon Salas, Los dias de Cipriano Castro, Caracas 1986; W. M. Sullivan, The Rise of Despotism in Venezuela: Cipriano Castro, 1899-1908, Phil. Diss., Albuquerque 1974; C. E. Hewitt, Cipriano Castro; „Man without a Country“, in: American Historical Review, 55 (October 1949), S. 36-55.

[2] R. Fiebig/ von Hase, Lateinamerika als Konfliktherd der deutschamerikanischen Beziehungen 1980-1903: vom Beginn der Panamapolitik bis zur Venezuelakrise von 1902/03, 2 Teile, Göttingen 1986, vgl. zum Waffenhandel nach Venezuela (T. l, S. 75); N. G. Sporn, Die Venezuela- Krise von 1902-03. Überlegungen zur staatlichen und nationalen Entwicklung Venezuelas im 19. Jahrhundert, Phil. Diss., Erlangen, Nürnberg 1991; sowie: H. H. Herwig, Germany’s Vision of Empire in Venezuela 1871-1914, Princeton, New Jersey 1986.

[3] Gomez bat auch darum, den gestürzten „Andino“ in Deutschland unter Polizeiaufsicht zu halten, siehe: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStAD), Außenministerium (AM) Nr. 2039, „Politische Verhältnisse in Venezuela (1902-1934)“, folio (f) 5 recto (r). Ch. Graf Vitzhum von Eckstädt an K. A.Graf von Hohenthal u. Bergen (Dresden), 22. 2. 1909.

[4] Diccionario de Historia de Venezuela, 3 Bde., Caracas 1988, Bd. 1; Herwig, a.a.O., S. 135-137 erwähnt den Aufenthalt kurz.

[5] N° 51 vom 20. Februar 1909: „General Castro hat heute nachmittag Berlin verlassen und sich zunächst zum weiteren Aufenthalte nach Dresden begeben, wo er bleiben wird, bis er wieder ganz gesund ist. Er erklärte, er habe Dresden gewählt, um während der Genesungszeit Prof. Israel nahe zu sein. General Castro machte heute einen gesunden und munteren Eindruck“.

[6] Siehe: SHStAD, AM, Nr. 2039, „Politische Verhältnisse …“,f. 2 r.

[7] Ebenda, f. 8 r.

[8] Berliner Tagebl., Nr. 10 v. 8. Februar 1909.

[9] Ausw. Amt [Berlin – M.Z.J Abschrift fiir Dresden. Nr. 920 v. 28. Oktober 1909 A. 17339; Inhalt: Innenpolitische Vorgänge Caracas, den 3. Oktober 1909, Minister-Resendentur; Ebenda, f. 17r/v; siehe auch die bei: Walter, Los Alemanes …, S. 65f reproduzierten Einschätzungen über die Lage in Venezuela 1909, die nicht den hier wiedergegebenen entsprechen, d.h., nicht davon ausgehen, daß Castro seine Macht in Venezuela restaurieren könne.

[10] Siehe: Ebenda, S. 64ff, bes. S. 67-69 die Dokumentenauszüge über den Castro- Agenten Th. Heuer. Angesichts der in vorliegendem Artikel dargestellten Aktivitäten Castros in Deutschland ist das „Psychose-Konzept“ Rolf Walters (S. 67) zumindest vorsichtig in Zweifel zu ziehen; siehe auch das Schreiben von Prollius an Reichskanzler Bethmann Hollweg vom 16. März 1911: Geheimes Staatsarchiv Merseburg (Preußischer Kulturbesitz) (GStAM), Kgl. Pr. Gesandtschaft Hamburg, Nr. 344, Mittel- und Südamerika 1911-1918, f. 10r/v-11r.

[11] SHStAD, AM, Nr. 2039,f.21r; sowie: Ebenda, AM, Nr. 4702 „Waffen- und Munitionsverkäufe ins Ausland 1895-1928“.

[12] Ebenda, f.142r.

[13]. Ebenda, f.147r.

[14] Ebenda, f.149v.

[15] Ebenda, f.152r. Herwig, Germany’s Vision …, S. 135-137 erwähnt Wolfram gar nicht, obwohl dessen Beziehungen zu Castro wichtiger als die Langelotts – auf den Herwig auf S. 137 kurz bezug nimmt – waren.

[16] SHStAD, AA, Nr. 4702, ebenda.

[17] Ebenda.

[18] Es muß sich wohl um die Firma van Dissel handeln, siehe: H. von Marchtaler, Cronica de la firma Van Dissel, Rode & da. Sucres, Hamburgo, fiindada en 1883 y su antecesora en Venezuela, Hamburg 1952; siehe auch: Fiebig von Hase, Lateinamerika …, I, S. 70.

[19] Dieses Verhältnis beruh durchaus auf Gegenseitigkeit, s, he: Sporn, Die Venezuela-Krise v 1902-03…, S. 525.

[20] Siehe auch: A. Vagts, Deutsch land und die Vereinigten Staaten in der Weltpolitik, 2 Bde., New York 1935, II, S. 1490ff sowie: F. Katzl Deutschland, Diaz und Mexikanische Revolution, Berlin 1964, 93f, die darauf hinweisen, daß das kaiserliche Deutschland vor alle die Übernahme einer Marinebasis an der venezolanischen Käste a strebte. Castro wußte zweifelsohne von diesen Bestrebungen.

[21] Ebenda, Nr. 2039, fs22r-23v. Der Text enthält folgende Kopfzeile: „Brief aus Dresden, den 12. Juli 1913. Am heutigen Tag hat Herr Wilhelm Langelott, Mitinhaber der Firma Windschild und Langelott in Dresden, dem Unterzeichneten folgendes erklärt“. Das Schriftstück hat keine Originalunterschrift, so dem ist schreibmaschinenschritftl. mit „Nachr. Dr. von Brescius“ unterfertigt. Von Brescius schick eine Notiz über das Gespräch und eine Abschrift sofort dem Sächsischen Staatsminister Vitzthum von Eckstädt mit. Aus einer handschriftl. Notiz geht auch hervor, dass der Text als „streng vertraulich Nr. 146F an den Kgl.-Preuß. Geschäftsträger [in Dresden – M.Z.] Herrn Freiherrn von Welczeck (gez.) Leipzig“ geht. In den Akten finden sich noch weitere Abschrift des Berichtes.

[22] SHStAD, AM, Nr. 4702, Acta Waffen- und Munitionsverkauf ins Ausland betr. de anno 1895-192 f. 165v.

[23]. „Dresdner Neueste Nachrichten“, N° 210, vom 6. 8. 1913 und „Dresdner Anzeiger“, Nr. 213, von 4. 8. 1913. Zeitungsausschnitte über Castro füllen im Sächsischen Hauptstadtarchiv Dresden ein ganzes Konvolut; siehe: SHStAD, Nr. 2040.

[24] Abschrift einer Anfrage des A.A. in Berlin vom 7. 8.1913, gez. Zimmermann, an den Kgl.-Preuß. Geschäftsträger Herrn Freiherrn Welczeck in Dresden; siehe: A.A Nr. 4702, f. 163r.

[25] SHStAD, AM, Nr. 4702f., 168r., Passim: Abschrift Nr. 1907. Ba zu Nr. 24/13 Geheim. An Königliche Zolldirektion.

[26] Der Text des Schreibens lautete Herren W. Holst & Co, Hamburg IIHermann Wolfram bittet 119 Kisten Kupfernägel und 17 Kisten Werkzeugstahl nach Barbados so rechtzeitig in Hamb. zu verladen daß sie den Anschluß an den Dampfer „Jan van Nassau“ am 23. ds. Ms. ab Amsterdam erreichen, gez. Fco Becerra“; Ebenda, f. 170r.

[27] SHStAD, AM, Nr. 4702f., 171 r.

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