Am 2. Dezember 1823 hielt US-Präsident James Monroe eine Rede zur Lage der Nation vor dem Kongress. Zwei Jahre zuvor hatte Mexiko seine Unabhängigkeit von Spanien verkündet und in Südamerika zeichnete sich die militärische Niederlage der iberischen Kolonialmacht ab. Monroe warnte die europäischen Staaten vor dem Versuch, die verlorenen Kolonien zurückzuerobern oder sich in die Angelegenheiten der neuen Staaten einzumischen. Die von ihm formulierten und später ergänzten Prinzipien werden seit 1853 als Monroe-Doktrin bezeichnet. Seit fast 200 Jahren bilden sie einen Eckpfeiler der Außenpolitik der Vereinigten Staaten. In Lateinamerika gelten sie hingegen als Wahrzeichen des US-Imperialismus. Diese Hypothek hat John Kerry in seiner Eigenschaft als Außenminister unter Barack Obama im November 2013 veranlasst, die Monroe-Doktrin offiziell für tot zu erklären. Donald Trump wiederum hat 2018 in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung mit ausdrücklichem Verweis auf James Monroe betont, dass die USA jedes Eindringen „expansionistischer ausländischer Mächte“ in die westliche Hemisphäre zurückweisen werden. Dies wurde ein halbes Jahr später von seinem damaligen Sicherheitsberater John Bolton mit dem Worten „Die Monroe-Doktrin lebt“ bestätigt. Weshalb sie so lange überleben konnte, wird im Folgenden beleuchtet.
Prinzipien und Merkmale
Bei der Monroe-Doktrin handelt es sich erstens um Prinzipien, die von den Vereinigten Staaten einseitig definiert und umgesetzt werden und somit kein Völkerrecht sind. Zweitens hat Monroe seine Erklärung so formuliert, dass sie einerseits an den antikolonialen Ursprung der USA anknüpft, ohne andererseits den eigenen Hegemonialanspruch zu verleugnen. Dies verweist drittens auf den flexiblen Charakter der Monroe-Doktrin. Allein bis 1993 wurde die ursprüngliche Fassung von 1823 mehr als dreißigmal ergänzt (Dent, S. 8-11). Diese Flexibilität war viertens vor allem deshalb notwendig, weil Anspruch und Umsetzung der Doktrin zunächst weit auseinanderklafften. Damit wird fünftens die enge Verknüpfung der Monroe-Doktrin mit dem missionarischen Selbstverständnis der USA deutlich, was sich sechstens in der Wechselwirkung von Innen- und Außenpolitik bei der Formulierung und Durchsetzung der Monroe-Doktrin widerspiegelt.
Hervorzuheben ist der frühzeitig formulierte Machtanspruch, den die USA in zwei Richtungen geltend machen. Zum einen grenzte sich die junge Republik klar gegenüber dem europäischen System ab und verwehrte dessen Repräsentanten den freien Zugriff auf die westliche Hemisphäre. Im Gegenzug waren die USA bereit, sich aus dem Machtgerangel in Europa herauszuhalten, was die Anerkennung des verbliebenen europäischen Kolonialbesitzes in der Karibik einschloss. Zum anderen war Monroes Botschaft an die südlichen Nachbarn in Lateinamerika gerichtet. Hinter der Forderung „Amerika den Amerikanern!“ verbergen sich jedoch zwei unterschiedliche Konzepte von Macht. Gegenüber Europa befinden sich die USA in einem Konkurrenzverhältnis, in dem sie zunächst in der Position des Schwächeren waren, was sich aber mit dem Übergang ins 20. Jahrhundert zugunsten Washingtons umkehrte. Gegenüber Lateinamerika hingegen fühlten sich die Vereinigten Staaten von vorn herein überlegen. In dem Maße, wie sie mit ihren europäischen Konkurrenten gleichzogen und sie später überholten, vertiefte sich das Machtgefälle zu Lasten Lateinamerikas. Der zweischneidige und widersprüchliche Charakter der Monroe-Doktrin wandelt sich mit dem Aufstieg der USA zur Welt- und Supermacht klar und unwiderruflich zum imperialistischen Imperativ der neuen Hegemonialmacht. Die Eindeutigkeit, mit der die USA die westliche Hemisphäre als ihren „natürlichen Lebensraum“ beanspruchen, weckte sogar den Neid von Deutschland und Japan, der beiden anderen Mitbewerber um die Weltherrschaft, die im zweiten Weltkrieg ebenfalls für eine eigene „Großraumordnung“ kämpften (Gruchmann 1962).
Grundlagen
Wie die US-amerikanische Außenpolitik im Allgemeinen ruht auch die Monroe-Doktrin im Speziellen auf zwei Fundamenten, die eng miteinander verschränkt sind – einem ideologischen und einem geopolitischen. Das ideologische Fundament wird durch den American Exceptionalism gebildet, der den Kern der US-amerikanischen Identität ausmacht. Demnach fühlen sich „die Amerikaner“ als auserwähltes Volk, dessen Werte und Institutionen einerseits allen anderen überlegen sind, andererseits gerade deswegen zum Wohle der gesamten Menschheit weltweit verbreitet werden sollten (Mission), was aber von den jeweiligen Machtressourcen (Power) abhängt. Aus dem Zusammenspiel von Mission and Power lassen sich sowohl eine exklusive als auch eine universelle Lesart des American Exceptionalism ableiten. Im 19. Jahrhundert hat sich Washington außenpolitisch zunächst auf die westliche Hemisphäre konzentriert (Isolationismus), während es sich im 20. Jahrhundert dem Aufbau einer liberalen Weltordnung verschrieben hat (Internationalismus). Die verschiedenen Varianten der Außen- und Sicherheitspolitik Washingtons haben jedoch dasselbe Ziel: die Weltherrschaft (Primacy) der USA.
Das Sendungsbewusstsein des American Exceptionalism findet seine geopolitische Entsprechung in der einzigartig günstigen Lage der USA. Geleitet von ihrer Zivilreligion haben sich die Siedler unter dem Banner der Manifest Destiny im 19. Jahrhundert ein Imperium geschaffen, das sich vom Atlantik im Osten bis zum Pazifik im Westen erstreckt, während es im Norden an das dünn besiedelte Kanada und im Süden an Mexiko grenzt, das bis 1848 die Hälfte seines Territoriums (Texas, Neu-Mexiko, Kalifornien) an den übermächtigen Nachbarn im Norden verloren hatte. Immer wieder konnte Washington die Krisen und Kriege, in die seine europäischen Konkurrenten verwickelt waren, zum eigenen Vorteil nutzen. 1803 musste Napoleon, der gerade in Haiti gescheitert war und seine Prioritäten in Europa sah, die französische Kolonie Louisiana (mehr als zwei Millionen km²) an die USA verkaufen, die dadurch ihr Territorium verdoppeln konnten. Spanien, das in Mexiko und Südamerika gegen die dortigen Unabhängigkeitsbewegungen einen schweren Stand hatte, musste 1819 Florida aufgeben und den USA nördlich des 42. Breitengrades Zugang zum Pazifik gewähren. Großbritannien machte den Vereinigten Staaten im Friedensvertrag von 1814 ähnliche Zugeständnisse, so dass die Grenze zu Kanada entlang des 49. Breitengrades verlief. In den Jahren nach 1850 wurde die Indianergrenze (Frontier) – mit Unterbrechung durch den Bürgerkrieg 1861-1865 – gewaltsam immer weiter nach Westen verschoben, bis sie 1890 geschlossen wurde. Die USA hatten damit nicht nur ihre kontinentale Westexpansion beendet, sondern sich zugleich zu einer modernen Wirtschaftsmacht mit einem riesigen Markt entwickelt. Die drei schweren Depressionen, die das Land 1873-1879, 1882-1885 und 1893-1897 erschütterten, machten jedoch deutlich, dass der weitere Aufstieg einer „eigenen Hemisphäre“ bedurfte, wie es Thomas Jefferson bereits 1808 und 1813 gefordert hatte (vgl. Whitaker 1954, S. 28 und Sicker 2002, S.15). Um dies zu erreichen, bot sich zuvörderst die Monroe-Doktrin an, die dazu aber neu geschärft und ausgerichtet werden musste.
Der Roosevelt Corollary
Den entscheidenden Schritt von der Binnen- zur Außenexpansion vollzogen die Vereinigten Staaten 1898. Im Ergebnis ihres Sieges im Spanisch-Amerikanischen Krieg erwarben sie nicht nur strategisch wichtige Kolonien in der Karibik (Puerto Rico) und im Pazifik (Guam, Philippinen), sondern stiegen auch zur imperialistischen Weltmacht auf. Kuba wurde zwar 1902 formell unabhängig, verblieb jedoch im Status einer Halbkolonie unter der Kontrolle Washingtons. Hawaii wurde 1898 annektiert und 60 Jahre später als 50. Staat in die Union aufgenommen. Die Vorstöße nach Süden und Westen brachten die USA in Konflikt mit Großbritannien und Deutschland. Bei diesen Auseinandersetzungen, die in den Krisen von 1895/1896 und 1902/1903 gipfelten, stand jeweils Venezuela im Zentrum. Im ersten Fall war ein Grenzstreit mit der britischen Kolonie Guayana der Auslöser, während es sich im zweiten Fall um einen klassischen Akt imperialistischer Kanonenbootpolitik handelte: Großbritannien und Deutschland, unterstützt von Italien, wollten mit der militärischen Blockade Venezuelas die Zahlung ausstehender Schulden erzwingen. In beiden Fällen sah sich Washington herausgefordert, auf die Einhaltung der Monroe-Doktrin zu bestehen.
In der Kraftprobe mit den imperialistischen Rivalen konnte sich Washington zwar durchsetzen, musste der neuen Situation aber dennoch Rechnung tragen. Um dem Vordringen Deutschlands Paroli bieten zu können, bedurfte es der Neufassung der Monroe-Doktrin. Am 6. Dezember 1904 verkündete Präsident Theodore Roosevelt vor dem US-Kongress einen Zusatz (Corollary), in dem sich Washington selbst zum Polizisten der westlichen Hemisphäre ernannte und seinen südlichen Nachbarn mit Intervention drohte, falls dort Ordnung und Stabilität gefährdet sein sollten. Dem Vordringen Deutschlands und anderer europäischer Mächte sollte so der Boden entzogen werden.
Im Unterschied zum deutschen Kaiserreich akzeptierte Großbritannien die Monroe-Doktrin einschließlich ihres Zusatzes und zog sich schrittweise aus der westlichen Hemisphäre zurück. Bereits im Grenzstreit mit Venezuela hatte London 1896 Washington als Schiedsrichter akzeptiert und im Hay-Pauncefote-Vertrag von 1901 gab es seinen Widerstand gegen das US-amerikanische Projekt eines interozeanischen Kanals in Zentralamerika auf. Die friedliche Einigung im Alaska-Grenzstreit 1903 signalisierte einerseits das Ende der Machtteilung, die sich nach dem Friedensvertrag von 1814 in der westlichen Hemisphäre herausgebildet hatte; andererseits entstand zwischen dem abtretenden und dem aufstrebenden Empire eine enge Special Relationship, die später in zwei Weltkriegen ihre Feuertaufe bestand. Es waren die Staaten des karibischen Beckens, die die neue Macht Washingtons zuerst und am nachhaltigsten zu spüren bekamen. Im Zeichen des „Großen Knüppels“ (Big Stick) wurde Panama 1903 von Kolumbien abgetrennt und entlang des 1914 fertig gestellten Kanals eine US-Kolonie errichtet. Ihre Höhepunkte erlebte die US-Interventionspolitik mit der Besetzung Nicaraguas (1912-1933), Haitis (1915-1934) und der Dominikanischen Republik (1916-1924).
Weitere Metamorphosen
Nach 1898 bildet das Jahr 1941 das zweite Schaltjahr im Aufstieg der USA mit weitreichenden Konsequenzen für die Monroe-Doktrin. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 gewann die „deutsche Gefahr“ eine neue Dimension. Neben den Konflikten in Europa bildeten die wachsenden politischen Kosten der Interventionspolitik in der Karibik die wichtigsten Gründe für eine Neuorientierung im Zeichen der „Guten Nachbarschaft“ (Good Neighbor). Angesichts der veränderten Lage wurde die Monroe-Doktrin unter Franklin D. Roosevelt „multilateralisiert“, indem Washington die Länder der westlichen Hemisphäre vertraglich stärker in seine Sicherheitspolitik einband. Die Panamerikanischen Konferenzen in Montevideo (1933), Lima (1936) und Havanna (1940) waren Meilensteine auf dem Weg zur Schaffung einer gemeinsamen Sicherheitszone. Unter Verweis auf die Monroe-Doktrin erklärten die Konferenzteilnehmer in Havanna, dass die Verteidigung der westlichen Hemisphäre gegen die Achsenmächte für die USA von lebenswichtigem Interesse sei. Auf der Konferenz in Rio 1942 wurde daraus eine panamerikanische Kriegsgemeinschaft unter Führung Washingtons. Je näher der Krieg in Europa rückte, desto dringlicher stellte sich die Frage, wie die USA auf eine mögliche Invasion Deutschlands in der westlichen Hemisphäre reagieren sollten. Der Angriff der Japaner auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 sowie die Kriegserklärung Deutschlands an die USA noch im selben Monat veränderten den Status der westlichen Hemisphäre in der Sicherheitspolitik Washingtons grundlegend. Aus dem Verlauf des Zwei-Fronten-Krieges im Atlantik und Pazifik zog Washington den Schluss, dass der weitere Aufstieg der USA nur gesichert werden konnte, wenn Eurasien von seinen Rändern her in die Zange genommen wurde. Damit erlangte die westliche Hemisphäre für Washington eine neue Funktion: Sie wurde zum Sprungbrett und dann zum Hinterland bei der Durchsetzung der globalen Hegemonie der USA.
Mit Beginn des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion bekam das interamerikanische System eine antikommunistische Stoßrichtung, wovon die Gründung der OAS 1948 und besonders deren Caracas-Resolution vom März 1954 zeugen. Der „demokratische Frühling“ in Guatemala (1944-1954) fiel dieser Neuausrichtung der Monroe-Doktrin als erstes zum Opfer: Mit einer verdeckten Operation putschte die CIA Präsident Jacobo Arbenz im Juni 1954 aus dem Amt. Nach 1959 beriefen sich John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson auf die Monroe-Doktrin, um die kubanische Revolution zu bekämpfen und ein zweites Kuba um jeden Preis zu verhindern. Die Landung in der Schweinebucht 1961 und die US-Intervention in der Dominikanischen Republik 1965 bildeten die militärischen Höhepunkte der konterrevolutionären Attacke Washingtons. Auch Ronald Reagan verstand sich bei seinem Kreuzzug gegen die zentralamerikanischen Revolutionäre während der 1980er Jahre als Vollstrecker der Monroe-Doktrin.
Tot oder lebendig?
Mit der Implosion der Sowjetunion 1991 schien die Globalisierung der Monroe-Doktrin endlich erreicht. Die Illusion des „unipolaren Moments“ fand ihren Niederschlag im allgemeinen Bedeutungsverlust Lateinamerikas. Als Hugo Chávez 1999 in Venezuela an die Macht kam und die Hegemonie der USA herauszufordern begann, wurde klar, dass die Geschichte keineswegs an ihrem Ende angelangt war. Heute steht die neu belebte Monroe-Doktrin wieder im Dienst der US-Hegemonie gegenüber „raumfremden“ Mächten. Diesmal handelt es sich um China und Russland, die von den USA in der National Security Strategy 2017 als globale Rivalen benannt werden. Der rasante wirtschaftliche Aufstieg Chinas hat dazu geführt, dass die Volksrepublik auch in Lateinamerika immer mehr an Einfluss gewinnt. Der neuerliche Konflikt um Venezuela zeugt davon, dass das geopolitische Kräftemessen mit den USA in der westlichen Hemisphäre an Brisanz gewinnt. Immerhin handelt es sich um jene Weltregion, die Washington zuerst und am längsten als alleinige Einflusszone für sich beansprucht hat. Unter Trump feiert die Monroe-Doktrin zwar fröhliche Urständ. Der entscheidende Unterschied gegenüber früher besteht jedoch darin, dass sich die USA nunmehr auf dem absteigenden Ast befinden.
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Literatur:
Dent, David: The Legacy of the Monroe Doctrine. A Reference Guide to U.S. Involvement in Latin America and the Caribbean. Westport/ London 1999
Gruchmann, Lothar: Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Konstruktion einer „deutschen Monroe-Doktrin“. Stuttgart 1962
Perkins, Dexter: A History of the Monroe Doctrine. London 1960
Sicker, Martin: The Geopolitics of Security in the Americas. Hemispheric Denial from Monroe to Clinton. Westport et al. 2002.
* Dieser Artikel findet sich in der Zeitschrift „Lateinamerika anders“ Nr. 1/ 2020 auch als Druckfassung.
Bildquellen: [1] Quetzal-Redaktion_gc [2]_solebiasatti