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Tödliche Ursula

Gabriele Eschweiler | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

In dem 2011 erschienenen, mit dem Código Negro ausgezeichneten Roman „Mujer equivocada“ (Falsche Ursula) der Uruguayerin Mercedes Rosende gerät die in Montevideo lebende Literaturübersetzerin Ursula López durch eine Verwechslung in eine Entführungsgeschichte. Der Versuchung sich einzumischen, um die Dinge bar jeden Skrupels zu ihren Gunsten zu verschieben, vermag die Heldin nicht zu widerstehen. Überhaupt ist das Nicht-Widerstehen-Können eine Art Leitmotiv ihres Daseins. Leidenschaftlich zelebriert sie die Freuden des zügellosen Essens und Schmeckens. Und als hätte sie kein eigenes Leben, nutzt sie ihre übrigen Sinne, um persönlichen Mehrwert aus dem Leben der Anderen zu ziehen, so wie in der folgenden Busszene: „Eigentlich lasse ich mich […] lieber neben jemandem nieder, der interessant aussieht, um ihn aus dem Augenwinkel betrachten zu können, seinen Duft einzusaugen, ihn atmen zu hören und […] beim Telefonieren zu belauschen. Heimlich berühre ich den Stoff seiner Jacke und versuche zu erschnuppern, welches Parfüm oder Deodorant er benutzt oder welchen Geruch – oder meinetwegen Gestank– er verbreitet.“ Zugleich wird sie von einer unbändigen Wut auf ihre vermeintlich besser gestellten Mitmenschen angetrieben. Wenn sie gelesen_Rosende_Falsche_Ursulabei einem Friseurbesuch das Personal mit Sarkasmus überzieht und von oben herab behandelt, maßlos nach materiellem Nutzen strebt, gelegentlich einem wollüstigen Voyeurismus verfällt, gierig Lebensmittel in sich hineinstopft, ein missgünstiges Auge auf den sozialen Aufstieg ihrer Schwester Luz wirft, ihrem Beruf mit Verdrossenheit nachgeht, zugleich aber für sich ein Leben im Luxus beansprucht – dann schimmern im Laufe der sieben Tage, die den Handlungsspielraum des Romans ausmachen, die sieben Kardinalsünden holzschnittartig durch – wie auf einem Bilderbogen des 16. Jahrhunderts.

Bestimmt wird Ursulas Gedankenwelt durch weit in ihrer Kindheit zurückliegende Ereignisse. Schon in ihrem Elternhaus ist ihr kein Vorgang verborgen geblieben. Sie hasste ihre Tante Irene, die nach dem Tod ihrer Mutter allzu rasch zur heimlichen Geliebten ihres Vaters avancierte. Später wird die Tante ermordet, und ein Täter ist möglicherweise vorschnell ermittelt worden. Zum Tod ihres Vaters liefert Ursula äußerst widersprüchliche Versionen. Nach seinem Ableben hat sie seine Wohnung komplett übernommen und widmet gelesen_Rosende_Krokodilstraenensich akribisch der anspruchsvollen Pflege von Vaters Sammlung japanischer Figürchen. „Alles, was ich habe, habe ich von ihm, er hat mich auf diese Reise ohne Rückkehr geschickt, die eine Verlängerung seines Lebens ist.“

Aufgrund ihrer Fettleibigkeit wird sie seit Kindertagen gemobbt und empfindet Ablehnung – sowohl in der Familie als auch andernorts. Immer wieder – bei den Weight Watchers, beim Kleiderkauf, beim Frauenarzt, bei der Psychotherapeutin – findet sie sich in Situationen, in denen sie sich bloßgestellt fühlt. Für das Reality-TV-Format „Und, zu Hause alles klar?“, in dem Familiengeheimnisse auf das Peinlichste gelüftet werden, schlüpft Ursula dagegen ohne die geringsten Bedenken in die Rolle einer das ‚gesunde Volksempfinden‘ repräsentierenden Fanatikerin.

An Indizien dafür, dass mit der Wahrnehmung dieser Protagonistin etwas nicht stimmen kann, mangelt es nicht. Die Adipöse, die kaum die Treppe in ihrem Haus hochkommt, erweist sich im Verlauf der Handlung als durchaus beweglich: „Geräuschlos laufe ich davon […]. Ich springe über Stacheldraht, dann über eine niedrige Mauer, ich laufe und laufe, […].“ In stilistisch geschliffenen Briefen beschwert sie sich bei der Nachbarin, die über ihr wohnt, über deren Lärm, bis sie später erfährt, dass die Wohnung längere Zeit bereits leer steht. Auch sie selbst macht sich dazu Gedanken: Ihre allgemeine Feststellung: „Aber wer ist heute schon noch Herr seines Bewusstseins?“ wird später präzisiert: „Ich bin einfach nicht immer Herr meines Bewusstseins, sage ich mir.“ und letztendlich konstatiert sie: „Von der Schlaflosigkeit in Schach gehalten, denke ich schließlich darüber nach, welcher Teil meiner Erinnerungen der Wirklichkeit und welcher meinen Träumen entstammt.“

Die Unzuverlässigkeit von Ursulas Narration zeichnet sich umso schärfer ab vor den Authentizität versprechenden Texten, die eingeschoben und kursiv hervorgehoben sind: ein Polizeiprotokoll, mehrere Zeitungsartikel und Briefe. Vielleicht gehören auch die komplett als Dialoge verfassten Kapitel zu den glaubwürdigeren.

2016 folgt unter dem Titel „El Miserere de los cocodrilos“ (Krokodilstränen) die ebenfalls preisgekrönte Fortsetzung von „Mujer equivocada“. Die Handlung des Romans schließt unmittelbar an die des Vorgängers an: Alte Bekannte wie der vermeintliche Mörder von Tante Irene und der Entführer Germán sind im Gefängnis. Ein durch und durch korrupter, aber gottesfürchtiger Anwalt entpuppt sich als Mastermind eines geplanten Coups. Dass er dabei die Rechnung ohne Ursula gemacht hat, wird sich schnell zeigen. Sie kämpft weiterhin vergeblich gegen ihre Essattacken, folgt ihren kriminellen Fantasien und begibt sich furchtlos in äußerst gefährliche Situationen. In Kommissarin Leonilda Lima scheint sie jedoch eine nicht zu unterschätzende Gegenspielerin gefunden zu haben.

 

Mercedes Rosende

Krokodilstränen (Übersetzung: Peter Kultzen)

Zürich: Unionsverlag 2019

Falsche Ursula (Übersetzung: Peter Kultzen)

Zürich: Unionsverlag 2020

Bildquellen: [1, 2] CoverScans

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