Die Geschichte des Christus von Elqui zwischen Wundern, Wahn und Wiederbelebung
Als Domingo Zárate Vega einen Toten auferstehen ließ, war für die gläubigen Zeugen des Vorfalls klar: Der wahrhaftige HERR höchstpersönlich ist erneut auf die Erde hernieder gestiegen und hat die Gestalt des Christus von Elqui angenommen. Weniger fromme Menschen und Atheisten hatten für dieses Wunder in der chilenischen Atacama-Wüste jedoch eine andere Erklärung. Glaubt man deren Wahrnehmungen, handelte es sich bei dem Wunder lediglich um die Auferstehung eines Sturzbetrunkenen, den der Christus von Elqui aus seinem Rausch erweckte.
Dieses Ereignis aus dem Jahre 1942 bildet den Rahmen einer surrealistischen Geschichte von Wundern, Wahn und Wiederbelebung, die der chilenische Schriftsteller Hernán Rivera Letelier ganz im Stile des magischen Realismus verfasst hat.
Im Zentrum des Romans steht Domingo Zárate Vega. Vom Tod seiner Mutter geschockt, entschied er sich für ein Eremitenleben. Nach vier Jahren Einsamkeit in den Bergen von Elqui kehrte er in die Zivilisation zurück – mit Rauschebart und langem Haar, gekleidet in eine Tunika und Ledersandalen. Apokalyptische Wolkenformen hatten ihm das Ende der Welt angekündigt. Und in einer Vision (zurückzuführen wohl auf die mangelhafte Ernährung und die unbarmherzige Sonne, die tagtäglich auf seinen Kopf brannte), entdeckte er, dass er die wahrhaftige Reinkarnation von Jesus Christus sei. Unter dem Namen Christus von Elqui predigte er von nun an landauf landab das Evangelium und verbreitete den guten Glauben. Dabei flocht er auch immer nützliche Hinweise zum Wohle der MENSCHHEIT ein, wie den, dass der Mittagsschlaf nicht länger als zehn Minuten dauern dürfe. Seine Ankunft in den Dörfern wurde gefeiert wie ein Volksfest. Hunderte, ja Tausende strömten zusammen, um seinen Lehren zu lauschen, während die Kinder Steinchen nach ihm warfen. Allerdings sahen nicht alle in ihm den göttlichen Messias. Vor allem die politische Elite und die Verwaltung setzten ihn mehrfach fest und ließen überprüfen, ob alle Synapsen bei ihm richtig geschaltet waren. Doch die Wissenschaftler kamen stets zu dem einheitlichen Schluss: Der Mann ist nicht verrückt, sondern zutiefst beseelt.
Der Christus von Elqui hatte für Zweifler eine weitere Prüfung parat, die seine GÖTTLICHE Verbindung untermauern sollte: Denn er konnte nach eigenem Ermessen fliegen. Jedem und jederzeit zeigte er seine Künste. Er erkletterte einen Baum oder ein Haus, breitete seine Arme aus – und sprang im vollsten Vertrauen auf GOTT. Manche der Gläubigen erzählten später, er hätte wirklich drei Schwingungen getan. Andere, meist die, die ihn ins Krankenhaus brachten, berichteten, er sei an Ellbogen und Knien zerschrammt aufgeschlagen, ohne überirdische Kräfte bewiesen zu haben.
Von den einen vergöttert, von den anderen verspottet, geschunden und geschlagen, strebte der Christus von Elqui unaufhaltsam gen Norden. Denn er erfuhr einen weiteren Wandel in seinem Leben, als er hörte, in der Atacama-Wüste gebe es eine Prostituierte, die die HEILIGE Frau auf dem Berge Karmel (Virgen del Carmen) verehrt. Und in der Tat, nachdem er halbtot in der Salpetersiedlung La Piojo ankam, lebte dort die FROMME Prostituierte, die auch noch den Namen Magalena (der Beamte schrieb bei ihrer Geburt den Namen nieder, wie er ihn hörte) trug. Sie war nicht nur bildschön, sondern auch zutiefst philanthropisch. Beispielsweise gewährte sie Don Anónimo Bautista, dem Verrückten mit dem Besen, der tagein tagaus die Wüste fegte, als Einzige Asyl in ihrer Hütte, nachdem ihn die Verwaltung der Salpetermine seiner Behausung beraubt hatte. Auch ließ sie die Arbeiter, denen sie ihre Dienste erbot, anschreiben, solange der Streik währte. Doch über allem zeichnete sie ihre Religiösität aus. Sie vergaß kein einziges Mal, der Figur von der HEILIGEN Frau auf dem Berge Karmel die Augen zu verbinden, wenn sie beim Empfang eines ihrer GLÄUBIGEN beschäftigt war.
Der Christus von Elqui wollte daher die FROMME Sünderin als seine Geliebte gewinnen, als Jüngerin mit sich nehmen. Doch auch Magalena Mercado hatte ihre Vorsehung: Sie müsse sein Anliegen ablehnen, da sie eine ewige Verbindung mit der HEILIGEN Frau auf dem Berge Karmel eingegangen wäre.
Dann kam alles ganz anders. Der Christus von Elqui wurde wegen des Verdachts der gewerkschaftlichen Aufwiegelei verhaftet. Und dass, obwohl er doch stets gegenüber den Sicherheitskräften die größte Dankbarkeit empfand. Denn immer, wenn der Christus von Elqui müde war und in einer neuen Stadt keine Unterkunft fand, nahmen ihn zwei Polizisten beim Arm und gaben ihm ein Bett in einer Zelle. Für ihn Beweis genug, wie nobel diese Institution wäre. Auch dieses Mal wurde er am nächsten Tag wieder auf freien Fuß gesetzt. Allerdings suchte er vergeblich nach der FROMMEN Sünderin. Auf Veranlassung des Verwalters liebte und lebte die Prostituierte nunmehr mitten in der Wüste.
Das ist schließlich der Zeitpunkt, an dem Hernán Rivera Letelier die schockierend traurige Geschichte der Magalena Mercado einflicht – und deren Vermächtnis. Dabei bleibt er seiner surrealistischen Erzählweise treu, was beinahe skurrile Züge hat. Und dennoch geben diese Ereignisse in der Rückblende dem Roman gegen Ende eine gewisse Melancholie.
Hernán Rivera Letelier ist mit dem Werk Die Kunst der Auferstehung ein großer Wurf gelungen. Er hat dafür zu Recht den Premio Alfaguara 2010 gewonnen, den zweitwichtigsten Literaturpreis Spaniens. Denn es geht in dem Roman nicht nur um Wahn und Wunder, sondern zwischen den Zeilen immer auch um das harte Leben der Salpeterarbeiter in der Atacama-Wüste. Es geht um deren Kampf gegen die Unbilden der Natur, gegen die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft durch die multinationalen Unternehmer. So verweist er mehrfach auf das Massaker an Salpeterarbeitern im Dezember 1907 in der Schule Santa María von Iquique, das er in einem anderen sehr empfehlenswerten Buch (Santa María de las flores negras/ Santa Maria mit Trauerflor) künstlerisch verarbeitet hat. Dabei schafft es der Autor, in einem magischen Stil zu schreiben, der vielleicht nur im Spanischen möglich ist. Leider, so muss man sagen, liegen beide Werke bisher nicht auf Deutsch vor.
Letelier, Hernán Rivera
El Arte de la Resurrección
Alfaguara, Madrid 2010
Bildquellen: [1] Buch-Cover; [2] Francesco Mocellin; [3] Leon Petrosyan_