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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Sieben Gründe, sich erneut mit Mariátegui zu befassen

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

José Carlos Mariátegui wurde am 14. Juni 1894 im peruanischen Moquegua geboren. Nach einem schweren Unfall 1902 war er vier Jahre lang bettlägerig. In dieser Zeit war Lesen seine Hauptbeschäftigung. Danach schlug er sich als Botenjunge, Journalist und Autor durch. Im Januar 1920 ging er als Korrespondent von El Tiempo nach Italien, wo er mehr als zwei Jahre seines Lebens verbrachte. Dort lernte er neben dem Philosophen Benedetto Croce auch führende Sozialisten, darunter Antonio Gramsci, einen der Mitbegründer der Kommunistischen Partei, kennen. Nachdem er Frankreich, Deutschland, Österreich, Ungarn, die Tschechoslowakei und Belgien besucht hatte, kehrte er im März 1923 nach Peru zurück. Dort gründete er die Zeitschrift Amauta und beteiligte sich 1928 am Aufbau der Sozialistischen Partei, zu deren führenden Köpfen er bis zu seinem frühen Tod am 16. April 1930 gehörte. Dieses Datum ist auch der Anlass, heute an José Carlos Mariátegui zu erinnern.

Darüber hinaus gibt es genügend Gründe, sich mit dem peruanischen Intellektuellen, der als erster Marxist Lateinamerikas gilt, tiefgründiger zu befassen. In Anlehnung an sein bekanntestes Werk „Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen“, seien hier sieben vorgestellt.

An erster Stelle sind seine Verdienste um die schöpferische Weiterentwicklung des Marxismus zu nennen, die sich im Spannungsverhältnis seiner europäischen Erfahrungen mit der peruanischen Wirklichkeit entwickeln. Seine „Verteidigung des Marxismus“, die er zwischen Juli 1928 und Juni 1929 verfasst hat, entfaltet sich zwischen zwei Polen: Ausgehend von seinem politischen Bekenntnis zur Dritten Internationale und zur sozialistischen Revolution formuliert Mariátegui seine neuen theoretischen Mariategui_Siete_Ensayos_Deckblatt_Bild_quetzal-redaktion_solebiasattiErkenntnisse als „konkret eingreifendes Denken“ innerhalb des von ihm so verstandenen Marxismus („Defensa del Marxismo“ in: Obras, tomo 1, S. 121-203; vgl. auch den Beitrag von W.F. Haug in: Morales Saravia, S. 69-77). Mariáteguis Werdegang belegt anschaulich, dass sich jede Generation aufs Neue den Marxismus aneignen muss. Nur so bleibt dieser auf der Höhe seiner Zeit und kann als Handlungsanleitung für die Überwindung des Kapitalismus dienen.

Untrennbar damit verbunden ist zweitens Mariáteguis Wirken als Intellektueller, für den Kultur, Klassenkampf und Emanzipation der Unterdrückten untrennbar miteinander verbunden sind. In diesem Punkt trifft er sich mit dem italienischen Intellektuellen und Kommunisten Antonio Gramsci. Beide gehen davon aus, dass die Kultur eines der Hauptinstrumente bourgeoiser Macht bildet, die erst dann gebrochen werden kann, wenn ihr diese Ressource entwunden wird, was nur im Ergebnis eines langen und zähen Kampfes um die Hegemonie zu erreichen ist.

Von großer Aktualität ist drittens Mariáteguis konsequenter Kampf gegen den Eurozentrismus, den er sowohl im Marxismus selbst als auch gegen dessen Gegner erfolgreich zu führen wusste. Um seine praktische Wirkung entfalten zu können, muss der Marxismus in der Lage sein, sowohl die jeweilige Epoche und die sich daraus ableitenden globalen Kräfteverhältnisse als auch die konkrete nationale Realität präzise zu bestimmen. Der in Europa entwickelte Marxismus konnte nicht einfach auf Lateinamerika übertragen werden. Mariáteguis „Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen“ sind der wohl klarste Beleg für einen Marxismus, der sich durch die Verbindung zweier Eigenschaften auszeichnet: Aneignung der europäischen Erfahrungen ohne eurozentristische Verengung. Die nächsten beiden Punkte – Nation und „Indi-Problem“ – machen dies auf anschauliche Weise deutlich.

Mariáteguis Verständnis der Nation liefert zugleich den vierten Grund, sich erneut mit ihm zu befassen. Während die kreolischen Eliten Lateinamerikas eine Kopie des europäischen Modells des Nationalstaates anstrebten und das „Indio-Problem“ als größtes Hindernis ihres Modernisierungsprojektes ansahen, vertrat Mariátegui in doppelter Hinsicht die Gegenposition: Er erkannte in der indigenen Bevölkerung und dem vorkolonialen Erbe der „andinen Kultur“ ein unverzichtbares Element der Herausbildung einer peruanischen Nation. Damit verwarf er nicht nur das europäische Modell, stellte ihm eine Nation von unten entgegen, in der Rassismus keinen Platz hat (vgl. ebenda, S. 70).

Die Neugründung der peruanischen Nation erfordert fünftens die marxistische Neubestimmung des „Indio-Problems“. Indem Mariátegui als erster diese epochale Aufgabe in Angriff nahm, betrat er in zweifacher Hinsicht Neuland: Er bereicherte und erweiterte zum einen den Marxismus als Theorie, die zum anderen nur dadurch für „Indo-Amerika“ praktikabel wurde. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Mariáteguis Verdienst besteht darin, dass er bei seiner Neuformulierung des Indio-Problems weder der Charibdis des ethnischen Essentialismus noch der Skylla des ökonomistischen Determinismus verfiel. Für ihn stellt der „Indio“ sowohl eine soziale Kategorie im postkolonialen Peru als auch den Träger einer eigenständigen, vorkolonialen Lebensweise („andine Kultur“) dar. Dies gelang ihm, indem er das „Indio-Problem“ einerseits mit der Landfrage verband (soziale Dimension), ohne es andererseits darauf zu reduzieren. Im Festhalten der indigenen Bevölkerung an der andinen Kultur sieht er keine Hindernis der Modernisierung Perus, sondern vielmehr eine „goldene Brücke von der comunidad zur Kooperative“ bzw. eine „Voraussetzung für die sozialistische Modernisierung des Landes. Die Indianer präsentierten bei Marátegui Tradition und Moderne zugleich. Ihre Arbeitsformen waren für ihn sowohl präfeudal als auch postkapitalistisch“ (Beitrag von Ulrich Mücke in: Morales Saravia, S. 40).

Die Neubestimmung des „Indio-Problems“ ermöglichte es Mariátegui sechstens, die einheimische Oligarchie als rückwärtsgewandte, rassistische und antinationale Herrenklasse zu entlarven. Dies gilt auch für ihre modernisierte Variante, die durch den „Zuckerbaron“ Augusto Leguía, der Peru zweimal – 1908 bis 1912 und 1919 bis 1930 – als Präsident regiert hat, exemplarisch verkörpert wird. Der Cusco_Bild_quetzal-redaktion_gcAufstieg der neuen Zuckeroligarchie machte der alten „República Aristocrática“ (1895-1919) zwar ein Ende, ließ jedoch die sozioökonomischen Verhältnisse unangetastet. Auf diesem Nährboden entwickelte sich das Militär zwischen 1930 und 1968 zum machtpolitischen Sachwalter im Dienste zweier Herren – der einheimischen Oligarchie und des Auslandskapitals.

Dies verweist siebentens auf die Rolle des Imperialismus. Dank seiner europäischen Erfahrungen ist Mariátegui in der Lage, dieses Thema sowohl auf globaler als auch auf kontinentaler Ebene zu analysieren. Ausgangspunkt ist für ihn die Weltkrise („crisis mundial“) des Kapitalismus, die er in den Jahren 1923 und 1924 an der Volksuniversität (Universidad Popular) auf 17 Konferenzen thematisiert. Der Bogen spannt sich vom Ersten Weltkrieg und vom Versailler Friedensvertrag über die europäischen Revolutionen (Russland, Deutschland, Ungarn) und den Faschismus bis zu den antikolonialen Bewegungen in Asien und zur Revolution in Mexiko. In „Teoría y práctica de la reacción“, einem Beitrag, der am 29. Oktober 1927 veröffentlicht wurde, beschäftigt sich Mariátegui größtenteils mit den USA. Ein Artikel von 1923, der mit „Herr Hugo Stinnes“ überschrieben ist, zeugt von der intimen Kenntnis der Nachkriegsentwicklung in Deutschland.

All dies illustriert das Epochenverständnis des Marxisten Mariátegui, das sich an drei Eckpunkten festmachen lässt. Den Ausgangspunkt bildet der zivilisatorische Bruch, der durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst wurde und nach dessen Ende in der bereits erwähnten Weltkrise seine Forstsetzung findet. Daraus ergeben sich die beiden anderen Eckpunkte: die sozialistische Revolution als emanzipatorischer Weg aus der Weltkrise, der durch die Sowjetrussland verkörpert wird, und – auf dem Gegenpol – die faschistische Konterrevolution als brutaler Versuch, den Kapitalismus zu retten. In seinem letzten Lebensjahr erlebte Mariátegui nach der kurzzeitigen Stabilisierung des Kapitalismus noch dessen neuerliche Krise – diesmal in Gestalt einer Weltwirtschaftskrise. Innerhalb dieses Zeithorizonts verkörpern die Sowjetunion und die Komintern die Hoffnung auf eine bessere Welt – eine Hoffnung, die sich erst nach dem Tod von Mariátegui als Trugschluss erweist.

Damit stellt sich die Frage, welches Potential sein Beitrag zum Marxismus heute – 90 Jahre nach seinem frühen Ableben – enthält. Die Sowjetunion ist 1991 implodiert und der Kapitalismus beherrscht den gesamten Planeten. Aber genau dies bildet den Nährboden für dessen gegenwärtige Krise, die auch ohne Weltkrieg, der diesmal ein nuklearer wäre, in frappierender Weise jener Weltkrise ähnelt, die das Wirken Mariáteguis geprägt hat. Legt man diese Einsicht zugrunde, dann verstehen sich die sieben Gründe, die das Erbe des peruanischen Intellektuellen umreißen, zugleich als Arbeitsprogramm im Kampf für eine menschenwürdige Zukunft. Das zentrale Vermächtnis von Mariátegui besteht darin, den Marxismus erneut als Instrument dieses Kampfes nutzbar zu machen. Angesichts dessen, dass die linken Bewegungen in Lateinamerika – und nicht nur dort – in einer Sackgasse stecken, stellt sich diese Aufgabe umso dringender.

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Beiträge zu José Carlos Mariátegui, die im Quetzal bereits erschienen sind:

González, Osmar: Mariátegui, Intellektueller, in: Quetzal Nr. 12/13, Literatur in Lateinamerika, Leipzig, Herbst 1995, S. 33-36 (Übersetzung aus: La Jornada Semanal, Nr. 295 vom 5. Feb. 1995), abrufbar unter: https://quetzal-leipzig.de/lateinamerika/peru/mariategui-intellektueller

Mariátegui, José Carlos, in: Quetzal Nr. 15/16, Linke in Lateinamerika, Leipzig, Frühling 1996, S. 59 (Lexikon), abrufbar unter: https://quetzal-leipzig.de/lexikon-lateinamerika/mariategui-jose-carlos

Mothes, Jürgen: Lateinamerika im „Generalstab der Weltrevolution“, in: ebenda, S. 18-22, abrufbar unter: https://quetzal-leipzig.de/printausgaben/ausgabe-15-16-linke-in-lateinamerika/lateinamerika-im-hauptquartier-der-weltrevolution

 

Weitere Literatur:

Becker, Marc: Mariátegui, the Comintern, and the Indigenous Question in Latin America, in: Science & Society, vol. 70 (Oct. 2006) 4, S. 450-479.

Dessau, Adalbert/ Kossok, Manfred/ Melis, Antonio: Mariátegui, tres estudios. Lima 1971.

Maihold, Günther: José Carlos Mariátegui: Nationales Projekt und Indio-Problem. Zur Entwicklung der indigenistischen Bewegung in Peru. Frankfurt a. M. 1988.

Mariátegui, José Carlos: Obras (dos tomos). La Habana 1982.

Mariátegui, José Carlos: 7 ensayos de interpretación de la realidad peruana. Venezuela 2007.

Mariátegui, José Carlos/ Füssel, Kuno/ Haug, Wolfgang Fritz: Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen. Hamburg 1986.

Morales Saravia, José: José Carlos Mariátegui. Gedenktagung zum 100. Geburtstag am 10. November 1994 in Berlin. Frankfurt a. M. 1997.

Mothes, Jürgen: Lateinamerika und der „Generalstab der Weltrevolution“. Zur Lateinamerika-Politik der Komintern. Berlin 2010 (bes. S. 197-243).

Oertzen, Leonore von (Hrsg.): José Carlos Mariátegui: Revolution und peruanische Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1986.

 

Bildquellen: quetzal-redaktion [1]_solebiasatti [2]_gc

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