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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Lateinamerika im „Hauptquartier der Weltrevolution“

Jürgen Mothes* | | Artikel drucken
Lesedauer: 19 Minuten

Kommunismusgeschichte als Gegenwartsinteresse?

Der glanzlose Zusammenfall des „Realsozialismus“ und der damit verbundene Umbruch der Weltlage führte auch zum Niedergang der aus Kominternzeiten herkommenden kommunistischen Parteien. Sie waren mit hohem Selbstbewußtsein, aber durch die Existenz des Staatssozialismus auch mit großem materiellen Potential und einem gewaltigen Apparat ausgestattet und so stets darum bemüht, sich als „führende Kraft“ der Linken auszugeben. Gerade dieses schon in Frühzeiten der Kommunistischen Internationale vorgefertigte Denk- und Verhaltensmuster, das seit der rasch einsetzenden Stalinisierung des internationalen Kommunismus geradezu ein Mythos wurde, prägte bei nachfolgenden Generationen der Kommunisten nicht nur Denken und Mentalitäten, sondern zuallererst praktisch-politisches Handeln. Insofern fordert die am Ende unseres „kurzen Jahrhunderts“ (E. Hobsbawm) vollzogene Zeitenwende mit ihrem epochalen Paradigmenwechsel eine Beschäftigung mit der kommunistischen Traditionslinie geradezu heraus. Aktuelle Standortbestimmungen und die Suche nach tragfähigen gesellschaftlichen Alternativen im Lateinamerika von heute befördern Fragen nachdem „Umgang mit Geschichte“ (M. Kossok), wobei es nicht darum gehen kann, Geschichte zu „bewältigen“, sondern sie zunächst erst einmal -so gut es geht – zu kennen und „auszuhalten“, um günstigenfalls tatsächlich aus ihr zu lernen.

Neben vielen neuen Erfahrungen, Kenntnissen und Sichtweisen aus den letzten Jahren tritt heute ein weiteres Phänomen hinzu – die mit dem Ende von UdSSR und KPdSU erfolgte (Teil)Öffnung der ehemaligen sowjetischen Geheimarchive, darunter das jahrelang festverschlossene Archiv der Komintern. Nachfolgende Thesen stützen sich auch auf erste Einblicke in das genannte Archiv in der Puschkinstraße 15 im Zentrum Moskaus.

Gab es einen „Colón rojo“?

1. Lateinamerika stand nie im Zentrum der Aufmerksamkeit der Komintern. Das hatte unterschiedliche Ursachen. Neben den gewaltigen geographischen Barrieren müssen vor allem die damaligen Schwerpunkte revolutionärer Auseinandersetzungen, politisch-sozialer Kämpfe sowie antikolonialer Emanzipationsprozesse berücksichtigt werden. In den Führungsetagen der „proletarischen Weltpartei“ wurden daraus über viele Jahre hinweg Vorstellungen über mögliche „Marschrouten der Weltrevolution“ entwickelt, in denen beide Amerika nie vordere Plätze einnahmen. Die Koordination kommunistischer Politik vollzog sich auch in Lateinamerika unter den Bedingungen der sich festigenden stalinistischen Diktatur in der UdSSR (und einer ähnlichen Entwicklung in der KI-Führung) und unter zunehmend rigider Zentralisation der internationalen politischen Organisationen.

2. Kommunistische Bewegungen und Parteien begannen sich in Lateinamerika seit 1918 zu formieren. Es waren in vielen Ländern linksorientierte Intellektuelle, nicht selten Studenten, die Wortführer revolutionärer politischer wie geistig-kultureller Veränderungen und gesamtgesellschaftlicher Modernisierung wurden (so in der vom argentinischen Cordoba ausgehenden und bald viele Universitätsstädte des Kontinents erfassenden Universitätsreformbewegung). Ebenso traten revolutionsorientierte Führungskräfte von Arbeiterorganisationen auf den Plan, die unterschiedlichste sozialistische wie anarchistisch/anarchosyndikalistische Wurzeln hatten. So bildeten sich Keime jener Organisationen, die sich – mehr oder weniger rasch – zu kommunistischen Gruppen und Parteien formierten und schließlich zumeist Mitglied der KI werden sollten. Delegierte aus Lateinamerika nahmen seit 1920 an den Kongressen der Komintern teil, später auch an Plenartagungen des Exekutivkomitee der KI (EKKI), an Weltberatungen der Roten Gewerkschaftsinternationale (RGI) und anderen zentralen Beratungen in Moskau. Sie kamen dorthin zur Kontaktaufnahme mit den Führungen und standen mit diesen in Briefkontakt. Sie arbeiteten in unterschiedlichsten Gremien der KI- und RGI-Führung mit und hatten auch dadurch Anteil an der Ausarbeitung der politischen Konzepte der KI und ihrer Umsetzung.

Gerade deswegen ist es problematisch, vereinfachenden Interpretationen zu folgen und unter Komintern lediglich die – sich zunehmend verselbständigenden – Führungsgremien und Apparate der KI zu verstehen. Die Kommunisten Lateinamerikas waren Teil dieser Organisation!

3. Wiewohl (wie man damals oft sagte) „lateinamerikanische Fragen“ nie im Zentrum des Wirkens der KI gestanden haben, spielten sie doch in den theoretischen wie praktisch-politischen Überlegungen bzw. Aktionen der Komintern von Anfang an keine schlechthin „untergeordnete“ Rolle. Im Selbstverständnis ihrer „welthistorischen Mission“ und der daraus abgeleiteten „weltrevolutionären“ Optionen sahen es die Moskauer Führungsgremien der KI stets als ihre Aufgabe, alle Weltteile in den Blick zu nehmen und nach Maßgabe ihrer Kräfte zu versuchen, allerorts wirksam zu werden. Auch deswegen fanden Probleme Lateinamerikas in der Tätigkeit der Komintern bereits frühzeitig Berücksichtigung und die Führung der KI bemühte sich, Verbindungen zu revolutionsorientierten Parteien und Gruppierungen in der Region herzustellen und dort praktisch-politisch tätig zu werden. Sie befaßten sich in der Gesamtheit ihres politischen Wirkens mit Problemen Lateinamerikas und kommunistischer Politik in dieser Region. Der lateinamerikanische Kommunismus erfuhr unter dem Einfluß der natürlich zunehmend alleine von Moskau aus bestimmten und schließlich auch von der dominierenden stalinistischen Garde beherrschten Politik wichtige Veränderungen.

Die gewachsenen Gemeinsamkeiten lateinamerikanischer Entwicklungen und oft auch notgedrungener Pragmatismus führten dazu, daß die leitenden Gremien der Komintern ganz Lateinamerika zunächst als einheitliche Ländergruppe in den Blick nahmen. Obwohl vergleichsweise rasch differenzierende Sichten entdeckt werden können und Einzelfragen natürlich immer möglichst konkret zu erfassen versucht wurden, war (und blieb) die periphere Großregion als eigenständiger Weltteil stets der entscheidende Bezugspunkt. Das verband sich einerseits mit dem Bemühen, „gesamtamerikanische Fragen“ zusammenzurücken und das „lateinische Amerika“ im Spannungsfeld imperialistischer wie weltpolitischer und nicht zuletzt auch weltwirtschaftlicher Interessenlagen, Probleme und Konflikte in das weltrevolutionäre Gesamtkonzept der KI einzubeziehen. Das führte zu einseitigen Überzeichnungen, bisweilen zu einer schematischen Einordnung sozialer wie politischer Auseinandersetzungen in und zwischen lateinamerikanischen Ländern in einen antagonistischen Interessenkonflikt zwischen den USA und Großbritannien, was realpolitische Sichtweisen erschwerte und überlagerte.

4. Daneben muß ein Phänomen beachtet werden, das nicht allein kommunistische Theorie- und Politikdebatten zu Lateinamerika über Jahrzehnte begleitet hat: Die wegen offenkundiger Abhängigkeit und Fremdbestimmung erfolgte Zuordnung der „lateinamerikanischen Frage“ zum Komplex der „kolonialen, halbkolonialen und abhängigen Länder“, der „Völker des Ostens“ bzw. zur „östlichen“ oder zur „nationalen und kolonialen Frage“, wie es oft vereinfachend hieß.

Im Unterschied zu den zunächst – in der Komintern-Perspektive – verständlichen globalen Sicht auf „das ganze Lateinamerika“ gingen die in den einzelnen lateinamerikanischen Ländern wirkenden Vordenker der kommunistischen Bewegungen in ihren Analysen natürlich zuerst von den sie umgebenden Wirklichkeiten aus. Summarisch sei hier nur auf die Arbeiten von Octavio Brandao und Astrojildo Pereira (Brasilien), Luis Emilio Recabarren (Chile), Julio Antonio Mella und Rüben Martinez Villena (Kuba), Maria Cano, Tomas Uribe Marquez und Ignacio Torres Giraldo (Kolumbien), Ricardo Paredes (Ekuador), Gustavo Machado und Salvador de la Plaza (Venezuela) zu nennen. Überragend war schließlich die weit über die Grenzen seines Heimatlandes Peru ausstrahlende Tätigkeit von Jose Carlos Mariategui. Er war in jener Zeit wohl der bedeutendste marxistische Denker Lateinamerikas und Begründer der Sozialistischen Partei.

5. Natürlich dachten, handelten und schrieben die Kommunisten damals in ihrem zur festen Überzeugung geronnenen Glauben, daß die tiefen, allseits erspürten und bald auch analysierten Krisenprozesse in ihren Ländern nur auf revolutionärem Wege zu überwinden seien. Sie gingen davon aus, daß die Widersprüche, die den Hintergrund für diese Krisenprozesse bildeten, zu der von ihnen erwarteten Revolution führen würden – zu einer Revolution, die Bestandteil der damals von vielen erhofften proletarischen Weltrevolution sei. Deswegen orientierten ihre gesellschaftspolitischen Analysen auf grundlegende revolutionäre Umgestaltungen der tradierten gesellschaftlichen Verhältnisse. Aber die anvisierten Umgestaltungen, die die Revolutionäre mit ihren sozialistisch/kommunistischen Zielstellungen verbanden, waren nicht kurzschlüssig auf den Sozialismus als Tagesaufgabe orientiert. Viele Materialien aus jener Zeit weisen über enggesetzte Rahmen eines revolutionären Romantizismus hinaus. Damals wurden – trotz mancher, heute scheinbar leicht erkennbarer Fehleinschätzungen und Schwächen – Erkenntnisse erarbeitet, die im zeitgenössischen internationalen Vergleich des gesellschaftspolitischen Denkens bemerkenswert waren: Führende kommunistische Theoretiker entschleierten wichtige Grundzüge der ökonomischen Struktur ihrer Länder. Ausgehend von den konkreten Formen der Abhängigkeit, ihrer Stärke sowie vom spezifischen sozialökonomischen Entwicklungsstand definierten sie Ländertypen und versuchten, den Platz der Region im damaligen Welt- und Weltwirtschaftssystem zu bestimmen. Sie entwarfen ein überraschend differenziertes Bild der Klassenlage, der historisch gewachsenen ethnischen und politischen Strukturen, der grundlegenden gesellschaftlichen Widersprüche und der darauf basierenden politischen und ideologischen Auseinandersetzungen. Auf dieser Grundlage versuchten sie aus ihrem Kontext, den historischen Ort und die Perspektiven, die Hauptaufgaben, Trieb- und Führungskräfte revolutionärer Bewegungen in ihren Ländern und in der ganzen Region zu bestimmen, um daraus ihre eigenen strategischen wie tagespolitischen Aufgabenstellungen abzuleiten.

6. Die Beratungen und Ergebnisse der Lateinamerika-Konferenzen von 1928/29 provozieren ambivalente Schlußfolgerungen: Einerseits bestätigte sich, daß die kommunistischen Parteien und Gruppen der Region und von den Kommunisten geführte oder beeinflußte Bewegungen Fuß gefaßt hatten und im subkontinentalen Maßstab wirksam zu werden begannen. Sie waren auf dem Boden nationaler Klassenauseinandersetzungen entstanden und repräsentierten ein neues Moment in der politischen Entwicklung Lateinamerikas jener Zeit: Ihre Entstehung und ihr Wirken gehörten zum Prozeß der Herausbildung der modernen Parteien- (wie überhaupt: der politischen) Systeme in vielen Ländern des Subkontinents, deren Wurzeln an der Schwelle zur neuesten Zeit zu finden sind. Die am marxistischen Gedankengebäude orientierten Theorie- wie Politikangebote der Kommunisten erwuchsen aus einem unter den Bedingungen des Paradigmenwandels der damaligen Epoche gewachsenen Verständnis der Erfahrungen ihrer Länder und ihrer Region.

Andererseits waren auch die lateinamerikanischen Kommunisten durch ihren Glauben an den Aufbau einer neuen Ordnung infolge der in Rußland vorgeblich begonnen „Weltrevolution“ – mit wenigen Ausnahmen und mehr oder weniger kritiklos -dazu bereit, die von Moskau aus – bald unter der Losung der „Bolschewisierung“ – aktiv betriebene Ein- und Unterordnung ihrer politischen Bewegungen in die zunehmend allein von Moskau beherrschte Internationale hinzunehmen oder aktiv zu unterstützen. Der sich zunächst zur praktischen Unterstützung der entstehenden kommunistischen Partei- u.a. Arbeiterorganisationen formierende „Apparat“ der Komintern wurde so endgültig zu einer Institution zur Unterordnung der von den Kommunisten geführten lateinamerikanischen Organisationen unter das Diktat der Moskauer Zentrale. Gerade die Auseinandersetzungen um die einzuschlagende Politik während der Konferenz von Buenos Aires offenbaren den geschilderten Zwiespalt. Boris Goldenberg charakterisierte insbesondere die Beiträge des Schweizers Humbert-Droz (der den Lateinamerika-Sektor der KI in Moskau und unter dem Pseudonym Luis die EKKI-Delegation in Montevideo und Buenos Aires leitete) als „eine intellektuelle Spitzenleistung des Kommunismus in bezug auf die Probleme des Erdteils“.

Gerade deswegen wäre es irrig, dem oft zitierten Bilde zu folgen, nach dem die KI Lateinamerika erst 1928 „entdeckt“ und dabei „die Probleme“ der Region eigentlich „nie“ „richtig“ verstanden habe und Jules Humbert-Droz als „Colón rojo“ zu interpretieren.

Ohne die Frage zurückzustellen, wer denn seit Kolumbus je „die Probleme“ Lateinamerikas „richtig“ verstanden habe oder hat, verbauen derartige kurzgegriffene Interpretationen Sachkunde gleich doppelt: Zuerst verleugnen oder unterschätzen sie gewichtige Vorgeschichte. Damit erscheint die Ende der zwanziger Jahre auch in Lateinamerika endgültig durchschlagende Stalinisierung des internationalen Kommunismus als dessen „eigentliche Geschichte“, verschwinden die eigenständigen Leistungen, die – auf dem Subkontinent wie in Moskau – seinerzeit erbracht wurden.

Stalins Schatten über Lateinamerika

In Moskau existierten seit Beginn der 20er Jahre spezielle „Büros“ bzw. „Sekretariate“ für Lateinamerika. Mit der Bildung von Ländersekretariaten (1926 zunächst auch ein „Lateinisches“, ab 1928 dann ein „Lateinamerikanisches“; sie existierten bis 1935) erweiterte sich der Kreis der in Moskau mit Lateinamerika befaßten Funktionäre durch Lateinamerikaner und weitere Europäer.

In Lateinamerika sind seit Anfang der zwanziger Jahre Bemühungen zur Schaffung kontinentaler kommunistischer Strukturen feststellbar. Dabei hatten Mexiko und Argentinien eine Schlüsselrolle. Mit Bildung des Südamerikanischen Sekretariats, das ab Mai/Juni 1928 und nach dem Parteiausschluß von Penelon als „Rechter“ unter Leitung von Codovilla stand, war eine typische Regionalleitung installiert. Sie funktionierte seit Sommer 1930 als „Südamerikanisches Büro“ in Montevideo bis Mitte der dreißiger Jahre.

Auch in Mexiko wirkten mit der Antiimperialistischen Liga und etlichen Sub-Sekretariaten diverser kommunistisch geführter Organisationen regionale Führungsstäbe. In New York wurde schließlich 1930/31 das Karibische oder Zentralamerikanische Büro der KI geschaffen, das mit ähnlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten wie das Büro im Südkegel bis Mitte der dreißiger Jahre existierte. Seine wechselnden Akteure können noch nicht dechiffriert namhaft gemacht werden; die praktischen Arbeitsergebnisse entsprachen – ob der komplizierten realpolitischen Lage in der Sub-Region und wegen des Kurswechsels in die „dritte“ oder „ultralinke Periode“- in keiner Weise dem erheblichen bürokratischen Aufwand dieses Büros. Hier wie im Südkegel verwandelten sich die Regionalbüros in illegal wirkende Gruppen, in von Moskau eingesetzte und abhängige „Berufsrevolutionäre“, die die südamerikanischen KI-Sektionen anleiten und kontrollieren sollten.

7. Die „Bolschewisierung“ der KI-Sektionen und die sich anbahnende Wende in die „dritte Periode“ brachten eine massive Unterordnung der lateinamerikanischen KPs unter die Zentralen der Weltorganisation. Das bewirkte zu einer Zeit, da sich in Lateinamerika bis dahin ungekannte Volksbewegungen ankündigten, rasch das Ende des kreativen Arbeitens der Kommunisten, in deren Parteien – wie überall – rabiate Säuberungen durchgeführt wurden. Das war mit der Übernahme völlig wirklichkeitsfremder stalinistischer Konzepte verbunden und brachte die lateinamerikanischen Kommunisten auf lange Sicht in ein einflußloses Schattendasein am Rande anwachsender linker Flügel von Volksbewegungen.

Andererseits brachte innerhalb der kommunistischen Bewegung insbesondere die Eigendynamik des von Moskau aus in derselben Zeit forcierten Prozesses der Stalinisierung der Komintern Konsequenzen mit sich, die – auch – in Lateinamerika verheerend waren. Nicht nur in der Moskauer Führung hatten nunmehr die Anhänger oder Kostgänger der Stalin-Fraktion endgültig das Sagen. Auch im lateinamerikanischen Kommunismus wurde diese Wende in die „dritte“ oder „ultralinke Periode“ mit Entschiedenheit vollzogen. Seit Herbst 1929 begann auch für die lateinamerikanischen Kommunisten die Zeit des „gnadenlosen Kampfes“ gegen die „Rechtsgefahr“ und gegen die dabei besonders geächteten „Versöhnler“. Das führte zur Auswechselung der Mehrheit der KP-Führungen, zu Parteiausschlüssen und -spaltungen und zur Dezimierung des sehr schwachen Mitgliederbestandes der kommunistischen Parteien. Insbesondere jedoch führte das zu entscheidenden Veränderungen der entstandenen Partei-Strukturen der Kommunisten und zum entschiedenen Bruch der gewachsenen politischen Kultur sowie zu einer auf diesem Wege erzwungenen Preisgabe originärer und bisweilen sehr origineller Theorie-und Politikangebote: Bedenkenswerte eigenständige Leistungen wurden in „-ismen“-Kataloge eingeteilt (Mariateguismus, Penelonismus, Prestismus, Recabarrenismus usf.) oder fielen erzwungenermaßen dem Vergessen anheim (u.a. politische Konzepte von J. A. Mella, R. Carrillo, A. Pereira, P. Romo). Die nunmehr aus machtpolitischen Interessen (in Moskau) auf die Tagesordnung gehobene Aufgabe, in den vielerorts noch entschiedener erhofften Revolutionen für eine rasche Umwandlung in eine „proletarische Revolution“ zu kämpfen und eine „Arbeiter- und Bauern-Revolution in Sowjetform“ anzustreben, entfernte die lateinamerikanischen Kommunisten von den ökonomischen, sozialpolitischen und kulturellen Wirklichkeiten ihrer Länder und brachte sie in stetige Konfrontationen mit den entstehenden Volksbewegungen. Deren Führer wurden allesamt als Gegner eingeschätzt, bald nicht selten als „faschistisch“ oder „sozialfaschistisch“ diffamiert. So trat – hinter dem Nebelschleier „theoretischer“ Debatten – der von Moskau geschürte innerparteiliche Kampf ins Zentrum, um auf dem Hintergrund dieses Szenario auch in Lateinamerika die Stalinisierung des (realpolitisch völlig einflußlosen) Kommunismus zu vollenden
.
Höhepunkt dieser Entwicklungen, die mit vielen und dramatischen politischen Grundsatzorientierungen und mit ebenso folgenreichen wie katastrophalen Personalentscheidungen verbunden gewesen sind, war die von Moskau aus initiierte Veröffentlichung der Broschüre „La lucha por el Leninismo en America Latina“, die das Südamerikanische Büro im März 1932 in Montevideo herausbrachte. Sie enthielt den berüchtigten Brief Stalins über die Geschichte des Bolschewismus an die Redaktion der Zeitschrift Proletarskaja Revoljucija und einen umfangreichen, davon abgeleiteten „Offenen Brief“ dieses Büros über „Die Aufgaben der Kommunisten an der ideologischen Front/Las Tareas de los Partidos Comunistas en el Frente Ideologico“. Dieses programmatische Dokument präsentiert ein geradezu klassisches Kompendium der damaligen stalinistischen Sichten auf Lateinamerika und erhellt – regional- wie länderspezifisch detailliert und präzise – den radikalen Bruch mit der Frühgeschichte des lateinamerikanischen Kommunismus ebenso wie die Sackgasse, in die die Kommunisten durch die Stalinisierung der KI geraten waren.

8. Es nimmt nicht Wunder, daß die in Wissenschaft und Politik bis heute kontrovers diskutierte „Wende“ zur Volksfrontpolitik der KI unter den Bedingungen der Verfestigung stalinistischer Strukturen und Machtverhältnisse keine grundsätzlichen Veränderungen bewirkten. Freilich: Die Lateinamerikaner brachten neue Erfahrungen mit und trafen auf veränderte Bedingungen. Einerseits war die von Moskau aus seit 1929/30 dekredierte Politik auch auf dem Subkontinent in einem Fiasko geendet. Andererseits hatte die durch die Aufrichtung der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland entstandene besorgniserregende Situation in Europa in der KI-Führung zu neuen Optionen geführt: Neue, von Moskau nunmehr zuerst aus machtpolitischen Gesichtspunkten favorisierte Konzeptionen wurden privilegiert. Das Konzept der Volksfront entstand. Dadurch wurden viele der in Moskau anreisenden Lateinamerikaner, deren politische Erfahrungen für ein Aufgehen der Kommunisten in den entstehenden demokratischen Massenbewegungen sprachen, schon im Vorfeld des vertagten VII. Kongresses zu Fürsprechern einer neuen Politik.

Die Vorbereitungen des zunächst für den Herbst 1934 geplanten VII. Kongresses wurden im Apparat der KI sowie im Ländersekretariat für Süd- und Zentralamerika frühzeitig begonnen. Als schließlich in engster Abstimmung mit Moskau weitere Delegierte zu dem mittlerweile auf Sommer 1935 vertagten Kongreß in der sowjetischen Hauptstadt anreisten, wurde im Rahmen der umfangreichen Strategiedebatten in der KI-Führung (die zur Verschiebung des Kongresses geführt hatten) beschlossen, eine spezielle Konferenz zu Lateinamerika durchzuführen – die „Dritte Regionalkonferenz“ (eine zweite hatte im Oktober 1930 in Moskau stattgefunden), die im Oktober 1934 in Moskau zusammentrat und auch als „Konferenz von Montevideo“ in die Geschichte eingegangen ist.

9. Im Unterschied zu Überbewertungen muß der Stellenwert des VII. Kongresses noch konkret untersucht werden. Dabei darf keinesfalls übergangen werden, daß das Volksfrontkonzept den lateinamerikanischen Kommunisten tatsächlich Wege zu öffnen half, nahezu vollständige gesellschaftspolitische Isolationen aufzubrechen und in ihren Ländern wieder wirksamer agieren zu können. Daneben muß das an weltweiten Dimensionen orientierte machtpolitische Kalkül der von Stalin beherrschten Moskauer Führung beachtet werden. Nach bisheriger Kenntnis des Materials war aus den Moskauer Sichten für die nun einsetzende Periode der Lateinamerikapolitik der KI nicht zuvörderst die „neue politische Konzeption“ dominant, sondern pragmatisches Abwägen sich ergebender machtpolitischer Optionen. Für Brasilien wurde unter der wirklichkeitsfremden Losung „Alle Macht der Nationalen Befreiungsallianz“ die Orientierung zu einem von Moskau aus detailliert geplanten bewaffneten Aufstand der als Volksfrontorganisation deklarierten Allianz gegeben. Für Chile wurde auf eine breite Zuammenarbeit mit der 1933 entstandenen Sozialistischen Partei und mit dem Reformflügel des Partido Radical gesetzt, was 1936 zur Herausbildung der Frente Populär und 1938 zu derem Wahlsieg führte – in einem Bündnis, das die Kommunisten an die Seite von politisch unterschiedlichst orientierten Sozialisten (mit vermeintlichen wie tatsächlichen „Trotzkisten“) brachte, ebenso in Verbindung mit bürgerlichen Politikern. Der Zusammenhalt des Bündnisses konnte von seilen der von Moskau geführten Kommunisten nur durch machiavellistische Winkelzüge gesichert werden. Noch von Moskau aus war – „von der mexikanischen Delegation“ – in einem sofort nach Abschluß des Weltkongresses abgesandten Schreiben die mexikanische Partei zu einem neuerlichen und per Beschluß sofortigen Kurswechsel veranlaßt worden, der auch hier zur Bildung der Gewerkschaftseinheit und sowie zur Unterstützung der Reformpolitik des Präsidenten Lazaro Cardenas führte. Später wurde das als „prinzipienlose Zusammenarbeit mit der nationalen Bourgeoisie“ kritisiert und als ein Baustein für die politische Kanonade Stalins gegen die Parteiführung unter Hernan Laborde und Valentin Campa ausgenutzt, die die abenteuerlichen Pläne Moskaus zur Ermordung Trotzkis ablehnte und deshalb wegen angeblichem Trotzkismus aus der Partei ausgeschlossen wurde. Auf Kuba, wo die Kommunisten – nach härtesten Auseinandersetzungen und schon im Zeichen der Volksfrontlinie – endlich „engste und brüderliche Zusammenarbeit“ mit Antonio Guiteras und seinen Anhängern im Joven Cuba erklärt hatten (ausgerechnet einen Tag vor der Ermordung des Revolutionsführers im Mai 1935), verbündeten sie sich später mit Batista, der den nationalrevolutionären Flügel der Revolution unter Guiteras mit Waffengewalt niedergehalten hatte.

10. Den KI-Apparat für Lateinamerika trafen sofort nach der Montevideo-Konferenz radikale Veränderungen: Über das Ende des Südamerikanischen wie Karibischen Büros ist wenig bekannt. Vieles legt den Gedanken nahe, daß diese zu existieren aufhörten, bevor der Beschluß gefaßt wurde, Länder- wie Regionalsekretariate aufzulösen. Sofort nach der Oktober-Konferenz kam es zu grundsätzlichen personellen Veränderungen in Moskau:

Informationen über Fortexistenz und Wirken des Ländersekretariats verlieren sich im Aktenstaub des Moskauer Archives ebenso wie die Nachrichten über das Ende der Regionalbüros. Grundsatzdebatten fanden nunmehr in den Büros von EKKI-Sekretären statt, wobei Van Min, Manuilskij und Dimitroff die entscheidenden Anlaufpunkte gewesen sind. Später waren auch D. Ibarruri und – immer wieder – Victorio Codovilla von Gewicht. Auf dem Subkontinent spielten die kommunistischen Parteien der USA und Kubas eine führende Rolle. Earl Browder und Blas Roca avancierten mit ihren Arbeitsstäben zu Schlüsselfiguren der von Moskau aus gesteuerten Politik.

11. Aus der geschilderten Lage wird offenbar, daß die oft zitierte Wende kein Neuanfang werden konnte. Der stalinistische „Kampf für den Leninismus in Lateinamerika“ behielt seine Wirkungen auf lange Sicht. Nach Ende des zweiten Weltkrieges folgten in den schweren und opferreichen Jahren des beginnenden Kalten Krieges viele Kurswechsel der Kommunisten der Region, die zuallererst in Moskau vorberaten und vorgeprägt wurden. Auch die – drei Jahre nach dem Tode Stalins – mit dem XX. Parteitag der KPdSU für kurze Zeit beginnende Periode eines „Tauwetters“ (Ilja Ehrenburg) brachte keine grundsätzlichen Änderungen, jedoch ein zeitweiliges Aufbrechen verkrusteter ideologischer Korsette.

Es war vor allem die in derselben Zeit mit der kubanischen Revolution einsetzende Intervention der „revolutionären Praxis“, die neues Denken der Linken in Lateinamerika hervorbrachte. Viele widersetzten sich bald dem moskoviter Hegemonialanspruch, manche verließen die kommunistischen Parteien, andere schlössen sich ihnen gar nicht erst an. Erneute Hoffnungen auf eine „kontinentalen Revolution“ (die Rodney Arismendi 1962 mit einem ganzen Buche begründete) waren mit dem Aufbruch einer revolutionären Guerilla ebenso verbunden wie mit dem in Chile anvisierten und vieldiskutierten „friedlichen Weg“ zur Macht. Rückgriffe auf die Geschichte und Fragen nach dem Umgang mit Geschichte wurden – auch mit Blick auf die traditionsreichen Leistungen aus der Frühphase des Kommunismus – neu gestellt: Mariategui, dessen bald zum Bestseller werdende erste Werksausgabe 1959 in Angriff genommen wurde, rückte endlich ins Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit, Julio Antonio Mella würde ebenso wiederentdeckt wie Recabarren und Augustin Farabundo Marti, die Machados und Salvador de la Plaza in Venezuela. Die sie alle aus kommunistischer Frühzeit einigende Klammer konnte oder wollte keiner entdecken!
Neue Linke werden – heutzutage – wohl ganz andere Wege gehen müssen! „Aufgearbeitet“, „bewältigt“ oder gar „ausgestanden“ ist die ganze Geschichte noch gar nicht! Vielleicht fängt sie gerade erst an.
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* J. Mothes ist promovierter Historiker, war Mitarbeiter an der Sektion Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Veröffentlicht hat er u.a.: Die Anfänge der Antiimperialistischen Liga in Lateinamerika. In: AALA (1985)5 Comintern Politics concerning Latin Amerca. In: The History ofthe Communist International and its National Sections. Peter Lang Verlag Amsterdam.

Randbemerkungen

I. Kommunistische Internationale (Abk. Komintern oder KI): Im März 1919 von Lenin und seinen Anhängern im Zeichen der damaligen revolutionären Weltkrise gegründete „ revolutionäre Weltpartei“, der sich die Mehrheit der internationalen revolutionären Linken anschloß. Sitz war Moskau, ihr (von internationalen Kongressen gewähltes) Führungsorgan das Exekutivkomitee der Komintern (EKKI). Entscheidenden Einfluß besaßen zunächst bekannte Parteiführer wie Lenin, L. Trotzki, G. Sinowjew, N. Bucharin, C. Zetkin, Bela Kun, E. Varga, u.v.a. – Mit Ausbleiben der erhoffen Weltrevolution geriet die als „ Partei der Weltrevolution“ gegründete Organisation in tiefe, existenzielle Krisen, was schließlich zu ihrer vollständigen Unterwerfung unter das stalinistische System in er UdSSR führte. Mit der endgültigen Stalinisierung hatten Funktionäre wie W. Knorin, 0. W. Kuusinen, D. S. Manuilskij und W. M. Molotow das Sagen, international anerkannte Führer wie E. Browder, D. Ibarruri, M. Thorez und P. Togliatti traten wie G. Dimitroff, der nach dem Reichstagsbrandprozeß Generalsekretär des EKKI wurde, kamen hinzu. Die KI existierte bis zu der von Stalin dekretierten Auflösung bis Mai/Juni 1943.

II. Der Vf. hat u.a. folgende Studien veröffentlicht: Comintern Politics concerning Latin America. In: The History ofthe Communist International and its National Sections. (Ed. by Jürgen Rojahn, IISG Amsterdam, published by Peter-Lang-Verlag Ffm.), im Druck.; „Luis“ gegen Mariategui? Zur Rolle von Jules Humbert-Droz bei der Entwicklung der Lateinamerikapolitik der Kommunistischen Internationale. In: Centenaire Jules Humbert-Droz, Colloque sur l ‚Internationale communiste. Actes, La Chaux-de-Fonds 1992.; „Im Zeichen der Selbstkritik!“. Lateinamerika 1929-1933: Die Kommunisten in der Krise. In: Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und „ Säuberungen “ in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger Jahren. Berlin 1993.; Briefe aus Montevideo – Arthur Ewert und die Wandlung von Luis Carlos Prestes zum Kommunisten. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 1994, Berlin 1994.

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