Als am 1. Januar 1994 das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) in Kraft trat, waren die Hoffnungen groß. Die Unterzeichner-Staaten Kanada, Mexiko und USA versprachen sich und ihren Bevölkerungen hiervon Wirtschaftswachstum, Eindämmung der Armut und weniger Arbeitsmigration aus dem Süden. 16 Jahre später ist davon in Mexiko nicht viel geblieben.
„Mehr Wachstum, mehr Gleichheit, besserer Erhalt der Umwelt“, so beschrieb US-Präsident Bill Clinton seine positiven Erwartungen an das Abkommen in seiner Rede zur Unterzeichnung. „Die NAFTA wird Handelshindernisse zwischen unseren drei Ländern abbauen. Sie wird die weltgrößte Handelszone (…) und bis 1995 200.000 Jobs allein in diesem Land schaffen.“ Ähnlich äußerte sich der damalige mexikanische Präsident Salinas. Doch es bestand auch eine große Skepsis in den USA hinsichtlich einer möglichen Abwanderung von US-Unternehmen nach Mexiko. Beim südlichen Nachbarn gab vor allem Bedenken ob einer Vermehrung der Armut, die sich am deutlichsten im Aufstieg der Guerillaorganisation EZLN im Bundesstaat Chiapas ausdrückte, die symbolisch mit Entstehung der Freihandelszone Anfang 1994 in Erscheinung trat.
Durch das Wegfallen von Zöllen und anderen Handelsbarrieren wurde mit der Zeit ein freier Markt zwischen den drei Ländern anvisiert. Besonders aus Rücksicht auf den empfindlichen landwirtschaftlichen Sektor Mexikos verlief die Abschaffung der Zölle in diesem Bereich gestaffelt: So fielen jene auf Bohnen und Mais erst im Jahr 2008. Neben Waren wurden auch die Märkte für (Finanz-)Dienstleistungen und Kapital liberalisiert. Beschäftigungsmigration ist unter dem Abkommen zwar möglich, aber weit von einem gemeinsamen Arbeitsmarkt entfernt, wie er etwa in der Europäischen Union umgesetzt wird. Darüber hinaus beinhaltet die NAFTA rechtliche und Schlichtungsmechanismen bei Konflikten zwischen Akteuren aus verschiedenen Ländern.
Tatsächlich vermitteln einige der mexikanischen Statistiken ein positives Bild. Fast alle wichtigen Faktoren, darunter Importe und Bruttosozialprodukt stiegen in den ersten zehn Jahren an. Die Zahl der Exporte ist zwischen 1994 und 2009 auf das Fünffache angestiegen, die Direktinvestitionen im Land hatten sich bis 2005 verdreifacht. Innerhalb von fünf Jahren verdoppelte sich die Zahl der Arbeitsplätze in den Maquiladoras im Norden Mexikos auf über eine Million – und hat sich seither gehalten. In diesen Montage-Fabriken werden meist aus den Vereinigten Staaten importierte Einzelteile zusammengefügt und zurück exportiert („nearshoring“). Die Vorteile für US-Unternehmen durch geografische Nähe und günstige Produktionskosten liegen auf der Hand.
Die prekären Arbeitsbedingungen in den Fabriken
Ciudad Juárez, Zwillingsstadt des texanischen El Paso, stellte 2005 etwa ein Fünftel der Maquila-Beschäftigten. Hier siedelten sich große Unternehmen wie Sony, Nike und Siemens an, um von den niedrigen Lohnkosten zu profitieren, die hier nur einen Bruchteil des US-Niveaus ausmachen. Was für die Firmen wirtschaftlich sinnvoll ist, hat für die ArbeitnehmerInnen deutliche Schattenseiten. Zwar gibt es hier die im Rest des Landes rar gesäten Arbeitsplätze, aber die Beschäftigungsbedingungen sind oft schlecht. Wochenarbeitszeiten von 60 Stunden sind keine Seltenheit. Sicherheits- und Gesundheitsstandards sind niedrig, und die Bildung von Gewerkschaften wird unterbunden oder findet gar nicht erst statt. Denn die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ist groß, Zehntausende kommen jährlich in die Städte des Nordens, weil sie anderenorts keine Stelle finden. Nicht umsonst gelten die Maquiladoras als lateinamerikanisches Gegenstück zu den Sweatshops in Südostasien. Ihren krassesten Ausdruck findet die Abwesenheit von Grundrechten in den Frauenmorden und anderen Gewalttaten, welche seit Mitte der 90er Jahre in der Gegend stattfinden. Zwar sind diese wohl kaum dem Freihandelsabkommen oder den dort agierenden Firmen direkt anzulasten. Doch KritikerInnen verweisen auf die Schaffung einer gesellschaftlichen Umgebung, die durch den faktischen Rückzug des Staates aus Wirtschaft und Recht die Rahmenbedingungen für die vorherrschende Gesetzlosigkeit erst möglich gemacht habe. Zudem nutzen sowohl Firmen als auch organisiertes Verbrechen die prekäre Situation der zum Großteil weiblichen Arbeitskräfte, die aus anderen Teilen Mexikos nach Juárez kommen, um dort Arbeit zu finden. Die Beschäftigten in den Fabriken sind zu mehr als 50% weiblich.
Die Umwälzung des landwirtschaftlichen Bereichs
Weiter im Süden des Landes sind die Probleme anderer Natur, aber nicht weniger groß. Vor allem die südlichen Bundesstaaten sind landwirtschaftlich geprägt. Bauern bauen oftmals traditionelle Nahrungsmittel wie Mais und Bohnen für den Eigenbedarf oder den Verkauf auf lokalen Märkten an. 2008 fielen im Rahmen der Aufhebung von Handelsbarrieren auch die Zölle auf diese Erzeugnisse. Der Konkurrenz durch Importe aus den USA, deren Anbau dort stark subventioniert wird, ist die mexikanische Landwirtschaft nicht gewachsen. In den ersten fünf Jahren seit Inkrafttreten der NAFTA fielen die Löhne im Agrarsektor um 60 %. Dies stellte für Kleinbauern oft eine existentielle Bedrohung dar. Zugleich mangelt es an Abfederungen wie bezahlbaren Krediten, von staatlichen Zuschüssen wie in den Vereinigten Staaten ganz zu schweigen. 2008 führte die neu geschaffene Abhängigkeit von Nahrungsmitteleinfuhr und damit auch von internationalen Preisschwankungen paradoxerweise dazu, dass sich der mexikanische Staat aufgrund des rasanten Anstieges des Maispreises erstmals seit langem wieder mit weit verbreitetem Hunger konfrontiert sah – und damit auch mit vehementen Protesten gegen die Wirtschaftsspolitik der Regierung. Weiter verkomplizierte sich die Lage durch die Produktion von Mais für Bioethanol als Treibstoff für Autos.
Die landwirtschaftliche Krise führt wiederum zur Abwanderung in den Industriesektor im Norden. Oder noch weiter: Entgegen aller Erwartungen haben sich die (illegalen) Migrationsströme in die USA durch die NAFTA nicht verringert. Erst die Wirtschaftskrise seit 2008 schränkt diese deutlich ein, da in den Vereinigten Staaten auch keine billigen Arbeitskräfte mehr eingestellt werden.
Zwiespältige Bilanzen
Durch das Freihandelsabkommen wurden im Norden viele Stellen geschaffen. Diese konnten aber kaum den Verlust von Arbeitsplätzen im Agrarbereich ausgleichen. Die Entwicklung der Löhne blieb weit unter den Erwartungen bei Einführung der NAFTA. Die positiven Statistiken über Wachstum sowie Export- und Importsteigerungen lesen sich ganz anders, wenn man berücksichtigt, dass nur 10 % der Haushalte in Mexiko seit 1994 Gewinne verbuchen konnten. 90 % blieben auf dem selben Niveau oder verschlechterten sich. Zu diesen Ergebnissen kommt unter anderem die Stiftung Carnegie Endowment in einer Studie von 2005. Was bleibt, ist die Verschärfung der Ungleichheit zwischen Arm und Reich sowie zwischen Norden und Süden Mexikos.
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Der Artikel erschien bereits in der Zeitschrift fairquer vom April 2010 (Ausgabe 29). Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Der Artikel ist erstklassig. Seit April hat sich der Krieg gegen die Drogemafias noch dramatisch erweitert und besonders weil diese Mafias jetzt auch Erpressungen gegen die oertliche Geschaeftswelt betreiben. Ein Problem welches besonders in Mexiko zur der Armut der Indigenen und Kleinbauern beitraegt: Jeder Siebzehnjaehriger kann mit einer Vierzehnjaehrigen anfangen Babys zu produzieren – ohne das eine wirtschaftliche Moeglichkeit besteht ein genuegendes Einkommen zu erwarten. Das ist ein noch groesseres Problem in Zentral-Amerika – die verwantwortungslose Reproduktion, welche durch keinen Wirtschaftswachstum von Armut geschuetzt werden kann.
Guter Artikel,
aber wie kann man solche Probleme lösen!
Wir versuchen über und mit unseren Kooperationen die Wertschöpfung nach Lateinamrica/Mexico zu verlagen.
Tal vez, viellecht ist das ein Ausweg!