Mexiko lernt nicht aus seinen Fehlern; diese Behauptung zu beweisen ist schwierig. Ebenso verhält es sich mit dem Umkehrschluss, dass der Rest der Welt nicht aus den Fehlern Mexikos lernt. Ein Jahr nach dem letzten mexikanischen Debakel beginnt sich das Ansehen des Landes – das eine Brückenfunktion zwischen Norden und Süden einnehmen soll – im politischen Spektrum links von der Mitte zu verschlechtern und man beginnt wieder einmal das Eine mit dem Anderen zu verwechseln. Der letzte Besuch des mexikanischen Präsidenten Ernesto Zedillo in Washington enthüllte diese neue und rückläufige Transformation der mexikanischen Realität in ein ökonomisches, politisches und soziales trompe l ‚oeil. Wie immer, aber noch mehr als sonst, kommt die Sicht, die ein großer Teil der Welt von Mexiko hat, aus den Vereinigten Staaten. Mexiko ist jeden Tag mehr die Angelegenheit der letzten Supermacht. Europa und Japan interessieren sich nur wenig für das Land und antworten mit immer weniger Enthusiasmus auf die Forderungen der USA nach gemeinsamer Verantwortung. Sie teilen die Ansicht, dass die Probleme Mexikos und so auch die Lösungen vor allem, wenn nicht sogar ausschließlich, dem Nachbarn zukommen.
Lateinamerika beobachtet mit einer gewissen Frustration, wie die fortlaufenden mexikanischen Missgeschicke sich in Wellen über den gesamten Kontinent ausbreiten, ohne dass sie den geringsten Einfluss auf die Mexikaner ausüben können. Die Distanz bringt Indifferenz und Ignoranz hervor; verstärkt durch die analytische Ausrichtung auf Washington: der Blick auf die USA ist der Blick aufs Universum.
Sicherlich war das niemals, soweit das Mexiko betrifft, ein besonders eifriger Blick. Der Berg von Fehlern, begangen von amerikanischen Spezialisten, Akademikern und Journalisten bei ihren wiederholten Versuchen, die mexikanischen Begebenheiten zu erklären, ist erstaunlich. Die Gründe sind bekannt: wenn die USA äußert, dass die Dinge in Mexiko nicht gut laufen, beginnen sie in sehr kurzer Zeit schlecht zu laufen, auch wenn dies vorher gar nicht der Fall gewesen ist. Von diesem Standpunkt aus wäre es wünschenswert zu sagen, die Dinge laufen gut, auch wenn sie es nicht wirklich tun. Aber bei dieser Gelegenheit hat sich dieselbe Tendenz in der Konjunktur der nordamerikanischen Innenpolitik verschärft, vielleicht sogar bis zum Absurden. Der Präsident Bill Clinton, der einer Wahl in ungünstigem Klima für seine Wiederwahl entgegengeht, trägt eine Last: die viele Billionen umfassende Rettungsaktion Mexikos am Anfang des Jahres, die von der öffentlichen Meinung negativ aufgenommen wurde. Angenommen, dass sich aktive Politiker niemals irren können, bleibt Clinton nur ein einziger gangbarer Weg offen. Seine einzige Verteidigung der kommerziellen Übereinkunft und des 20 000 Millionen Dollar-Paketes, das vom amerikanischen Steuerzahler aufgebracht wurde, um die fällig werdenden Schulden Mexikos zu begleichen, besteht darin, wiederholt festzustellen, dass der Aufwand sich bezahlt gemacht hat und die angestrebten Ziele erreicht worden sind. Diese wären: eine globale finanzielle Krise zu verhindern, die Gesundung der mexikanischen Wirtschaft zu unterstützen, zur Demokratisierung des Landes beizutragen und eine Destabilisierung der sozialen Verhältnisse zu verhindern, da die unausweichliche Konsequenz eine neue Wanderungsbewegung in den Norden gewesen wäre. Das erste ist bereits vollbracht; das zweite, dritte und vierte ebenfalls, zumindest nach den Wahlkampfstrategen Clintons. Der Fakt, dass besagte Strategen keine Ahnung von der wirklichen Situation Mexikos haben, tut nichts zur Sache; es handelt sich lediglich um eine Wahlkampfstrategie, nicht um eine geopolitische Analyse. Ihnen ist zu verdanken, dass während des Besuches von Zedillo in der nordamerikanischen Hauptstadt die Presse und auch alle anderen momentan geführten Debatten die vermeintliche und spektakuläre Erholung Mexikos feststellten. Einige konservative und auch einige linke Kongressmitglieder versuchten, das Spiel mit sarkastischen Kommentaren und pessimistischen Ausblicken zu verderben. […] Für Washington ist die mexikanische Krise beendet, zumindest bis zum ersten Dienstag im November 1996, dem Tag der Wiederwahl von Bill Clinton, wenn nicht irgendein Fehltritt geschieht. Dieser Fehltritt könnte Mexiko sein. […] Wo das Ausland eine Rückkehr zu finanzpolitischer Stabilität sieht, ahnen die Mexikaner eine neue Überschuldung. […] Wo die Nordamerikaner einen spektakulären Anstieg der Exporte entdecken, sehen die Mexikaner einen Erdrutsch der internen Nachfrage, der auf längere Zeit nicht auszuhalten ist […] Die jedesmal stärkeren Kämpfe im Herzen der mexikanischen Elite, die Attentate von 1994, die Transformation von lokalen politischen Prozessen von geringster Bedeutung zu nationalen Problemen mit internationaler Resonanz, der jährliche Anstieg der Arbeitslosigkeit um mehr als eine halbe Million seit 15 Jahren; all dies zeichnet ein Bild der Krise, wie es sie in Mexiko seit den 30er Jahren nicht gegeben hat. […]
von Jorge Castañeda, Professor der Soziologie an der Autonomen Universität von Mexiko
aus: El País, 01.11.95, S. 12.