Die Beziehungen Chinas zu Lateinamerika haben erst während der letzten dreißig Jahre an Kontur und Gewicht gewonnen. In dieser historisch kurzen Zeit ist die Volksrepublik zum zweitwichtigsten Handelspartner der Region aufgestiegen und hat damit die EU auf den dritten Platz verwiesen. Seit 2009 ist China der wichtigste Handelspartner Brasiliens – eine Position, die das asiatische Land auch in Chile und Peru inne hat. Mit dem „großen Sprung“ Chinas nach Lateinamerika ist ein geopolitisches Dreieck entstanden, in dem sich die Hegemonialmacht USA neu orientieren muss. Welchen Herausforderungen sich die drei Akteure gegenüber sehen, soll im folgenden kurz skizziert werden.
Der Drache überquert den Pazifik
Die Beziehungen Chinas zu Lateinamerika waren in der Vergangenheit nur schwach entwickelt. Die erste, indirekte Verbindung erfolgte ab 1565 über die Spanier, die damals sowohl weite Teile Amerikas als auch die Philippinen in ihr Kolonialreich eingegliedert hatten. In Manila, der neuen Hauptstadt des ostasiatischen Archipels, trafen sich Spanier und Chinesen, um miteinander Handel zu treiben. Das amerikanische Silber, das die Manila-Galeone nach einer langen und gefährlichen Fahrt aus Mexiko nach Asien brachte, wurde gegen Seide, Porzellan und andere Luxusgüter getauscht. Als der einstmals lukrative Monopolhandel nach dreihundert Jahren zusammenbrach, befand sich China im Niedergang. An die Stelle von Waren traten nun Migranten, die zu hunderttausenden über den Pazifik nach Peru, Panama, Kuba und in andere Länder Amerikas gebracht wurden, um dort als Kulis ausgebeutet zu werden. Nachdem 1949 die Volksrepublik errichtet worden war, sah sich Beijing in Lateinamerika bis Anfang der 1970er diplomatisch weitgehend isoliert. Die meisten Länder der Region erkannten das sozialistische China erst an, nachdem Washington seine Beziehungen zu Beijing im Oktober 1972 normalisiert hatte. Noch heute sind unter den 15 Staaten, die weiterhin Botschaften in Taipeh (Taiwan) unterhalten, neun lateinamerikanische und karibische Länder.
Ab den 1990er Jahren nahm der Handel zwischen China und Lateinamerika sprunghaft zu. Der Anteil der Volksrepublik am Außenhandel der Region stieg von 1,72 Prozent im Jahr 2000 auf 14,08 Prozent 2017. Beim Ausbau der Beziehungen nimmt das Jahr 2008 eine Schlüsselstellung ein. Mit dem Ausbruch der weltweiten Finanzkrise, die in den USA ihren Ausgangspunkt hatte, erlangten die Schwellenländer – und unter ihnen besonders China – ein neues weltpolitisches Gewicht, was sich besonders in der Formierung der G20 und dem Zusammenschluss der BRIC (Brasilien, Russland, Indien und China) niederschlug. Im selben Jahr formulierte Peking sein erstes Strategiepapier zu Lateinamerika. Von da an weitete China sein regionales Engagement zielgerichtet aus. Nachdem bereits 2005 ein Freihandelsabkommen mit Chile unterzeichnet worden war, folgten 2009 Peru und 2011 Costa Rica. Neben diesen drei Ländern hat China mit Brasilien, Mexiko, Argentinien, Venezuela, Ecuador und Uruguay strategische Partnerschaften hergestellt.
Lateinamerika liefert vor allem Rohstoffe und Agrarprodukte nach China. 2016 lag der wertmäßige Anteil von Soja an den 20 führenden Exportprodukten bei 21,8 Prozent; Kupfererz und Kupferkathoden erreichten zusammen 26,1 Prozent; Eisenerze hatte einen Anteil von 12,8 Prozent und Erdöl belegte mit 8,8 Prozent den fünften Rang (Second Ministerial Meeting, S. 42). Ab 2013 investierte China verstärkt in Infrastruktur- und Energieprojekte. Ein Jahr später stieg China bei den auswärtigen Auslandsinvestitionen (OFDI) zum zweitwichtigsten Investor auf.
Tabelle 1: Investitionsbestand Chinas in Lateinamerika
Jahr |
2005 |
2009 |
2013 |
2017 |
2019 |
Mrd. US-Dollar |
4,2 |
12,67 |
80,04 |
143,56 |
175,52 |
Quelle: statista
Von 2000 bis 2018 beliefen sich die OFDI auf 121,7 Mrd. US-Dollar, mit denen insgesamt 402 Transaktionen finanziert wurden. 44 Prozent der Investitionen dieses Zeitraums entfielen allein auf Brasilien. Bezogen auf die Jahre 2005 bis 2017 (Oktober) waren es sogar 55 Prozent, gefolgt von Peru mit 17 Prozent und Argentinien mit 9 Prozent (ebenda, S. 56). Im Jahr 2018 verfügte Brasilien mit 48,6 Mrd. US-Dollar über die meisten Investitionen. Auf den Rängen 2 bis 5 lagen Argentinien (12,5 Mrd.)., Chile (11,3 Mrd.), Mexiko (6,6 Mrd.) und Peru (6,4 Mrd.).
Lateinamerika – von einer Abhängigkeit in die andere?
Aus lateinamerikanischer Perspektive werfen die schnell wachsenden und immer enger werdenden Wirtschaftsbeziehungen zu China die Frage auf, ob sich die strukturelle Abhängigkeit der Region auf diese Weise überwinden lässt oder ob sie sich nicht sogar vertieft. Die Antwort darauf fällt höchst widersprüchlich aus. Einerseits hat die rapid wachsende Nachfrage der chinesischen Wirtschaft nach Rohstoffen und Agrarprodukten dazu geführt, dass sich die Stellung Lateinamerikas als Lieferant derartiger Exportgüter weiter verfestigt hat. In diesem Sinne hat sich an der abhängigen Position der Region innerhalb der internationalen Arbeitsteilung wenig geändert. Verschärfend kommt hinzu, dass der Ressourcenhunger und seine Befriedigung in Gestalt des Extraktivismus zu Lasten der lokalen Bevölkerung und der natürlichen Umwelt gehen. Andererseits muss man berücksichtigen, dass Lateinamerika nach dem Scheitern der importsubstituierenden Industrialisierung angesichts fortbestehender US-Hegemonie und Jahrzehnten neoliberaler Exzesse zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum die erforderlichen Spielräume für einen Ausbruch aus der Abhängigkeit hatte. Dort, wo anti-neoliberale Kräfte an die Regierung kamen – Venezuela ab 1999, Argentinien 2003-2015, Brasilien 2003-2016, Uruguay 2004-März 2020, Bolivien 2006-2019, Ecuador 2007-2017 – eröffnete sich immerhin die Chance, den Rohstoffboom für eine politische Neuorientierung zu nutzen. Mit Hilfe der gestiegenen Exporteinnahmen konnten Sozial- und Bildungsprogramme für die Armen sowie notwendige Infrastrukturmaßnahmen finanziert werden. Allerdings hat sich das damit verfolgte Entwicklungsmodell nicht als nachhaltig erwiesen. In fast allen Ländern hat es ein rechtes Rollback gegeben und Venezuela befindet sich in einer tiefen Krise.
Ungeachtet der wechselnden innenpolitischen Konjunkturen setzt China seine Zusammenarbeit mit den lateinamerikanischen Ländern fort und vertieft sie sogar. Die verstärkte Einbindung der Region in die globale Strategie Pekings hat ihren Motor im Ausbau der Belt and Road Initiative (BRI). Im Juli 2014 organisierten die CELAC (Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños), der alle 33 souveränen Staaten der Region – ohne die USA und Kanada – angehören, mit China ein gemeinsames Forum. Auf dem zweiten Treffen des Forum im Januar 2018 verkündeten die Teilnehmer die Anbindung Lateinamerikas als natürliche Erweiterung der Maritimen Seidenstraße an die BRI. Im April 2019 fand das zweites Belt and Road Forum in Peking statt, an dem 130 Staaten, darunter 18 aus Lateinamerika und der Karibik1, teilnahmen. In der Erweiterung und Vertiefung der Beziehungen zu China sehen die meisten lateinamerikanischen Länder eine Chance.
Ein Beispiel für die Möglichkeiten, die sich aus der enger werdenden Zusammenarbeit mit der Volksrepublik ergeben, ist Kuba. Nach dem Sieg der Revolution hatte die Regierung unter Fidel Castro bereits im September 1960 – und damit als erstes lateinamerikanisches Land – diplomatische Beziehungen zu China aufgenommen. Inzwischen ist das asiatische Land zum wichtigsten Handelspartner des karibischen Inselstaates aufgestiegen. Die Zahl der chinesischen Touristen, die 2018 auf 50.000 angewachsen war, soll verdoppelt werden. „Dank chinesischer Spitzentechnologie ist die flächendeckende Umstellung vom G3- auf den G4-Standard bei mobilen Daten gerade in vollem Gange. Die vor Kurzem noch hohen Preise für Vielsurfer wurden nahezu halbiert und laut einem Ranking der Firma Speedtest besitzt Kuba seit Ende 2019 das zweitschnellste mobile Internet in Lateinamerika.“ (Tagesspiegel vom 7.1.2020 unter: https://www.tagesspiegel.de/kultur/von-digitaler-wueste-zur-internetoase-wie-kuba-sich-trotz-us-sanktionen-modernisiert/25393332.html).
Im Gegenzug setzen die chinesischen Behörden ein in Kuba produziertes Therapeutikum gegen das neuartige Coronavirus ein. Wie der Chef des kubanischen Pharmaunternehmens BioCubaFarma, Eduardo Martínez, mitteilte, handelt es sich dabei um das Mittel Interferon Alfa 2B, das auch in anderen Ländern eingesetzt werden soll.
Comeback der Monroe-Doktrin
Aus US-amerikanischer Sicht verfolgt China mit seiner Lateinamerika-Politik vier Ziele: Erstens Zugang zu den Naturressourcen und Märkten der Region; zweitens Unterstützung der eigenen Außenpolitik, was die Zurückdrängung des Einflusses von Taiwan einschließt; drittens wachsende Akzeptanz der globalen Rolle Chinas; viertens Stärkung des geopolitischen Einflusses Chinas in der Region (Koleski/ Blivas, S. 5). Mit dieser Strategie gerät Peking jedoch zunehmend in Konflikt mit den USA, die dadurch ihre Hegemonie in der westlichen Hemisphäre gefährdet sehen. Läuft damit Lateinamerika Gefahr, zum Austragungsort des Weltkonflikts zwischen den beiden Großmächten zu werden?
Juan Gabriel Tokatlián 2007 erstmals über das entstehende Dreieck zwischen den USA, Lateinamerika und China schrieb, sah er darin eine hoffnungsvolle Beziehung. 2013 erklärten die USA die Monroe-Doktrin für überholt, womit sich diese positive Einschätzung zu bestätigen schien. Zwar nahm der Einfluss Chinas in Lateinamerika weiter zu, lag aber immer noch deutlich hinter dem der USA (siehe Tabelle 2).
Tabelle 2: Vergleich des ökonomischen Einflusses der USA und Chinas in Lateinamerika 2016
USA |
China |
|
Rang als Handelspartner (Anteil am Gesamthandel Lateinamerikas in %) |
1 (2000: 53,57; 2017: 40,76) |
2 (2000: 1,72; 2017: 14,08) |
Führender Exportmarkt |
für 20 lateinamerikanische und karibische Länder |
für Brasilien, Chile und Peru |
Wichtigstes Importland |
für 25 lateinamerikanische und karibische Länder |
für Panama, Paraguay, Chile, Peru, Kuba und Bolivien |
Anteil der Exporte an den Gesamtexporten Lateinamerikas |
45 Prozent |
9 Prozent |
Anteil der Importe an den Gesamtimporten aus Lateinamerika |
32 Prozent |
18 Prozent |
Quellen: Koleski/ Blivas, S. 7, 8, 28; Dussel Peters 2020, S. 5
Mit der Amtsübernahme von Donald Trump änderte sich die Position Washingtons gegenüber der chinesischen Präsenz in Lateinamerika grundlegend. Die weltpolitische Frontstellung gegenüber der Volksrepublik zeitigt ihre verhängnisvolle Wirkung damit auch im vermeintlichen Hinterhof der USA. Der Fokus Washingtons liegt nun auf der Sicherheits- und Geopolitik, wofür das „Anti-China-Kapitel“ (32.20) im neuen nordamerikanischen Freihandelsabkommen (USMCA) nur ein Indikator ist.
Washington sind besonders die engen Beziehungen zwischen China und Venezuela ein Dorn im Auge. US-Präsident Donald Trump versucht mit allen Mittel, das OPEC-Gründungsmitglied unter seine Kontrolle zu bekommen, da sich sonst seine Strategie der „Energy Dominance“ schwerlich umsetzen lässt. Trotz der tiefen Krise, in der sich das südamerikanische Land befindet, hat OPEC-Generalsekretär Mohammad Barkindo dem venezolanischen Öl eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Welt zugesprochen und die die Bemühungen der Regierung unter Präsident Nicolas Maduro mit folgenden Worten gewürdigt. „Die besten Jahre für diese Nation stehen noch bevor, Venezuela hat eine glänzende Zukunft, es ist ein sehr reiches Land mit sehr unternehmerischen und gebildeten Menschen.“ (Vgl. amerika21 vom 15.12.2019).
Bei Venezuela handelt es sich jedoch nicht nur um das Land mit den weltweit größten Erdölreserven und den drittgrößten Goldvorkommen, sondern auch um ein Land von großer geopolitischer Bedeutung. Die tiefe politische und ökonomische Krise wird durch die Sanktions- und Drohpolitik der USA weiter verschärft. Washingtons Versuch, Venezuela wirtschaftlich zu erdrosseln, zielt vor allem auf den Erdölsektor. Da das Land inzwischen keinen Zugang zu den internationalen Finanzmärkten mehr hat, ist es dazu übergegangen, die notwendigen Kredite mit Öl zu bezahlen. China, mit mehr als 60 Mrd. US-Dollar Krediten der größte Gläubiger, ist 2019 zugleich zum wichtigsten Abnehmer venezolanischen Rohöls aufgerückt. Die USA, bislang der größte Importeur, haben die Einfuhr drastisch gedrosselt: Während 2018 noch 586.000 Barrel pro Tag importiert wurden, waren es von Januar bis November 2019 nur 43.000 Barrel pro Tag. Im gleichen Zeitraum lieferte Venezuela 320.000 Barrel pro Tag nach China. Auf Asien entfallen inzwischen zwei Drittel der venezolanischen Rohölexporte (Abruf vom 18.3.2020 unter: https://www.bnamericas.com/en/news/china-india-lead-buyers-of-venezuelas-oil).
Während die Trump-Administration alles unternimmt, um endlich den lang ersehnten Regimewechsel in Caracas zu erzwingen, nutzen China und Russland die Gelegenheit, um ihre Position in der Region zu stärken. Innerhalb der westlichen Hemisphäre hat sich Venezuela zum Brennpunkt der geopolitischen Auseinandersetzungen entwickelt. Auf der einen Seite halten die USA an der Monroe-Doktrin fest und wollen die Kontrolle über ihren „Hinterhof“ zurückgewinnen, auf der anderen Seite suchen China und Russland gerade hier Verbündete, mit denen sie ihren Vorstellungen von einer multipolaren Weltordnung durchsetzen können. Unter diesen Bedingungen hat eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen China, Lateinamerika und den USA keine Chance. Wie allzu oft in der Vergangenheit sind auch diesmal wieder die Völker Lateinamerikas die Leidtragenden einer Politik, die die Region als natürliche Einflusszone Washingtons ansieht.
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Literatur
Dussel Peters, Enrique: China’s Recent Engagement in Latin America and the Caribbean: Current Conditions and Challenges, vol 19 (2020) No. 1 (5. Feb.).
Haibin Niu: Building Development Partnership. Engagement between China and Latin America. The Carter Center, August 29, 2019.
Koleski, Katherine/ Blivas, Alec: China’s Engagement with Latin America and the Caribbean. U.S.-China Economic and Security Review Commission, Staff Research Report, October 17, 2018.
Second Ministerial Meeting of the Forum of China and the Community of Latin American and Caribbean States (CELAC): Exploring new forms of cooperation between China and Latin America and the Catribbean. Santiago de Chile 2018.
* Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags erscheint in der Märzausgabe von „Lateinamerika anders“ (Wien).
1 Dazu gehören sieben südamerikanische (Bolivien, Chile, Ecuador, Guyana, Surinam, Uruguay, Venezuela), acht karibische (Antigua und Barbuda, Barbados, Dominica, Dominikanische Republik, Grenada, Jamaika, Kuba, Trinidad und Tobago) und drei zentralamerikanische Staaten (Costa Rica, El Salvador, Panama).
Bildquelle: [1] Quetzal-Redaktion_gc