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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Interview mit Carlos Fuentes
Mexikanischer Schriftsteller

Martín Solares | | Artikel drucken
Lesedauer: 16 Minuten

Die Identität und das Wasser

In diesem Interview äußert sich Carlos Fuentes zu seiner Konzeption einer indo-afro-ibero-amerikanischen kulturellen Kontinuität, um das Kapitel der mexikanischen kulturellen Kontinuität zu analysieren. Der Autor von AGUA QUEMADA erklärt, wie es möglich ist, sich olmekische Kultur „anzueignen“, ohne die tiefe Kluft zu vergessen, die uns von ihr trennt. Er beharrt auf seiner Kritik an festgeschriebenen Grenzen (gleich welchen Typs) und trennt sich von Konzepten, die durch enge Abgrenzungen die Vision einer Identität in fließendem Zustand behindern: einer Identität, erschaffen aus dem Zusammenfließen von Strömungen, die, gleich Flüssen, in ewiger Bewegung sind.

Die kulturelle Kontinuität Mexikos

Der Gedanke einer mexikanischen kulturellen Kontinuität aus dreißig Jahrhunderten, den einige nur für imaginär halten, die Vorstellung, dass wir Nachfahren der Olmeken sind, fuhrt nicht dazu, das zu wiederholen, was die Azteken mit der toltekischen Erinnerung taten: die Aneignung einer fremden Erinnerung mit dem Zweck, die gegenwärtige Macht zu legitimieren?

Nein, sie eigneten sich die toltekische Erinnerung an, aber sie tilgten ihre eigene Erinnerung. Was Tlacáelel tat, war die Vernichtung aller Spuren der aztekischen Vergangenheit, denn die Azteken wurden als „Barbaren“ angesehen, Menschen ohne Bedeutung, die zuletzt Gekommenen. Man tilgte ihre Spuren und schuf sich stattdessen eine Legitimation.

Ich glaube, dass man dreißig mexikanische Jahrhunderte nur in Anerkennung ihrer Kontinuität kritisch begreifen kann, denn mit dieser Kontinuität besitzen wir eine außergewöhnliche Kraft. Diese Kontinuität wurde aber nicht ohne Reibungen erreicht, nicht ohne soziale Konflikte, ohne Ungleichheiten, ohne Ungerechtigkeit, ohne Blutvergießen, ohne Gewalt, mitnichten! Es ist eine Kontinuität die, da sie existiert, uns viel gekostet hat, die außergewöhnliche Anstrengungen an Erinnerung und an Verständnis erfordern und an Akzeptanz dessen, was wir nicht sind, in dem, was wir sind.

Ich fühle mich nicht als Azteke, aber ich kann den Teil in mir verstehen, der die aztekische Kultur schätzt, der sie in sein eigenes Denken aufnimmt und sie umwandelt, folglich und auf diese Art und Weise verwandle ich mich in einen Erben der Azteken. Und es findet sich in meiner Literatur wieder. Es gibt Formen der Nahuatl-Poesie, der Nahuatl-Lyrik, der Nahuatl-Epik die unbewusst… Heute sagte mir jemand, der zu mir kam, um ein Buch signieren zu lassen: „EL NARANJO ist so geschrieben, als wäre es ein aztekisches Gedicht“, und ich hatte nicht darauf geachtet. Er hat es mir erst offenbart.

In LA REGION MAS TRANSPARENTE machten Sie eine Reise durch die Geschichte zu den wichtigsten Persönlichkeiten der mexikanischen Kontinuität, von Ixcoatl bis zu Zapata. Welche würden Sie als die Charakteristika dieser Kontinuität beschreiben? In ihrem erzählerischen und essayistischen Werk heben sie die Gabe zum Überleben hervor als charakteristisch für die Bevölkerung, ebenso wie die Unterstützung unter Familienangehörigen, die Kontinuität der Volkskulturen, die Kontinuität der Symbole, die pyramidale Struktur der Gesellschaft und die brutale Art, in der einige wenige die Bürger einer Nation unterdrückt halten. Wären dies die Elemente, die uns von anderen Kontinuitäten unterscheiden?

Nun, das sind einige von ihnen, und es gibt noch andere. Eine solche Liste wäre unerschöpflich. Man müsste viele Dinge hinzufügen, sehr viele, und darunter etwas sehr wichtiges, nämlich, dass es kulturelle Einzigartigkeiten in einer Kultur nicht gibt, in keiner Kultur: alle Kulturen sind aus dem Zusammentreffen unterschiedlicher Strömungen entstanden. Ich würde dies zu der Vorstellung der dreißig Jahrhunderte hinzufügen. Wenn wir nicht begreifen, dass eine Kultur aus dem Zusammentreffen und unter der Mitwirkung vieler Kulturen entsteht…Schlimm wäre es, eine unvermischte, „reine“ mexikanische Kultur etablieren zu wollen, eine Identität, die immer dieselbe ist, von den Mayas bis in unsere Tage. Das nicht.

Es gibt einen Beitrag, der Mexiko verwandelt und eine Mischung, die uns bereichert. Ich habe das immer so ausgedrückt: wir sind Indios, wir sind Spanier und wir sind Mestizen. Aber durch Spanien sind wir Mittelmeeranrainer, und Mittelmeeranrainer zu sein bedeutet Grieche sein, bedeutet Araber, bedeutet Jude zu sein. Und außerdem darf das negride Element nicht vergessen werden. Es gibt eine negride Ethnie auch in Mexiko. Wir sind ein Resultat all dessen.

Man muss immer die Gemeinsamkeiten schätzen, und man muss die Unterschiede respektieren. Dann gibt es eine wirkliche Kontinuität.

Ich erinnere mich an einen Ihrer Gedanken, in dem sie die Grenze als eine politische Fiktion kritisieren, in dem Sinne, dass wir nicht von einem unüberwindlichen, mit Stacheln bewehrten Vorhang umgeben sind.

Könnte es etwas Schlimmeres geben als dies: eine Berliner Mauer, errichtet durch die Gringos.

Das Mexikanische in den neunziger Jahren

Seit GRINGO VIEJO bestehen Sie darauf, dass wir die Identität nicht als eine unveränderliche Angelegenheit verstehen können, sondern als etwas, das jeden Tag neu geschaffen wird, so dass der Versuch sie festzulegen bedeutet, dass man anfängt, sie zu verlieren. Wir beurteilen Sie innerhalb dieser Vorstellung die Vielzahl der Künstler und Denker, die sich um die fünfziger Jahre herum mit „dem Mexikanischen“ beschäftigten?

Mir scheint, dass dies ein äußerst wichtiger Beitrag war. Es handelte sich um Leute von außerordentlicher Intelligenz. Ich war ein enger Freund von Jorge Portilla. Leopoldo Zea, Luis Villoro gehören heute noch zu meinen Freunden. Es waren viele, die an dieser Bewegung teilnahmen. Es war ein Zeitpunkt großer Ernsthaftigkeit, umfassender Reflexion, großer Vorstellungskraft auch, der viele Generationen vereinigte, eingeschlossen Spanier wie De Novilla, Leute aus früheren Generationen wie Alfonso Reyes, der LA X EN EL FRENTE publiziert hatte, in der Sammlung MEXICO Y LO MEXICANO; schließlich glaube ich, dass es ein Moment des Nachdenkens war, ein Schritt nach vorn, ein Zurücklassen mancher Dinge. Mir scheint sehr wichtig zu sein, dass Reyes LA X EN EL FRENTE veröffentlichte und durch A VUELTA DE CORREO alle daran erinnerte, dass der engstirnige Nationalismus etwas ist, das uns einengt, das uns ärmer macht, uns kleiner macht und dass wir keinen Grund haben, uns mit Komplexen zu beladen, weil wir eine Literatur machen, deren Qualität, wie Reyes sagte, darauf beruht, dass sie Literatur ist, nicht dass sie mexikanisch ist.

Und die Essayisten, welche Bedeutung kommt ihrem Werk zu?

Ich glaube, dass sie sehr wichtig sind im Sinne historischer Beiträge. Man würde auch nicht sagen, dass Platon keine Gültigkeit besitzt, nur weil das Griechenland, in dem er schrieb, nicht mehr existiert. Wenn ein Werk einen literarischen Wert hat, überlebt es bestimmt die Zeitumstände. Oder es muss überleben. Und ich glaube, dass es das ist, was mit den besten Schriftstellern dieser Generation passierte.

Anfang der Siebziger sagten Sie, wenn man sich auf das Mexikanische bezieht, könne man nicht von etwas Abstraktem sprechen, sondern von einer Konkretisierung, die gleichzeitig Vergangenheit und Zukunft in sich birgt; all diese „Gleichzeitigkeit“ der Zeiten, die in TIEMPO MEXICANO entworfen wurde. Angesichts der Präsenz verschiedener Zeiten in ein und demselben Mexiko, auf welche Weise wird sich der Fortbestand der prähispanischen Kulturen im zeitgenössischen Mexiko manifestieren?

Ich glaube, dass sie in zwanzigtausend Details sichtbar ist, die man in der Art und Weise zu sprechen beobachten kann. Die Sprechweise. Das Spanisch, das wir in Mexiko sprechen, versteht man nicht ohne den indigenen Tonfall. Und ohne eine Vielzahl indigener Wörter mit Nahuatl-Ursprung, ebensowenig wie man es ohne eine Vielzahl von Wörtern arabischen Ursprungs versteht. In Mexiko ist das Indigene ständig präsent: in den Ortsnamen, in Bezug auf das Essen, die Süßigkeiten, den Tod, die Todeszeremonien, die religiösen Zeremonien, die Art, sich Heiligem zu nähern, den Göttern, in der Art zu beten, zu sprechen. All dies sind äußerst wirksame indigene Wirklichkeiten im täglichen Leben. Die Art und Weise, Liebe zu machen … Ich mache die Liebe vielleicht auf eine sehr westliche Art und Weise, aber ich weiß von mexikanischen Frauen, dass sie sie in einer sehr, sehr indianischen Art machen. Also ist dies überall präsent. Ohne diesen Wesenszug wird man Mexiko nicht verstehen.

Dann ist die Sprache eine Form, all das zu verewigen?

Nichts verewigt sich, in der Realität befindet sich alles im Wandel. Ich bestehe sehr auf dieser Position, verstehen Sie?

Aber die Erinnerung, die Berichte, die in mündlicher Form überliefert wurden, sind eine Form, in der das prähistorische Mexiko andauert?

Die Erinnerung? Ja, natürlich. Die Erinnerung ist so umfassend, wie man sie haben möchte, und ein Land ohne Erinnerung ist ein unseliges Land. Das große Unglück der Vereinigten Staaten ist ihre Erinnerungslosigkeit.

Hinsichtlich der diversen unvollendeten Projekte, die der mexikanischen Geschichte Gestalt gegeben haben, beziehen Sie sich auch in LA REGION MAS TRANSPARENTE auf das Land als einen Fels, über dem verschiedene Moose wachsen, eines über dem anderen. Dieser Stein, die mexikanische Kontinuität, hat er einen erkennbaren Ursprung? Wir sprachen schon von Andersartigkeit.

Ich verstehe weder Ursprung noch Ende. Ich sehe darin eine logozentristische Einstellung, eine westliche, aristotelische – an den Ursprung und das Ende der Dinge zu glauben, um ihnen schließlich ein Zentrum zu geben und um die Welt in einer geordneten Art und Weise begreifen zu können. Ich glaube, alle Dinge entbehren eines Ursprungs und entbehren eines Endes. Und indem ich die Welt nur so sehe, verstehe ich sie und habe an ihr teil. Wenn Sie mich in ein autoritäres Zentrum einordnen wollen, in dem der Logos angesiedelt ist, weise ich das ganz und gar zurück und werde nie wieder auch nur eine Zeile schreiben. Einer der Gründe, warum meine Bücher in Mexiko Anstrengungen erfordern ist der, dass Mexiko ein Land ist, das, um sich modern fühlen zu können, logozentristisch sein möchte und seine Fähigkeit zum Spielerischen negiert, seine Vorstellungskraft, seine Erinnerung. Mexiko sagt: „Wir wollen europäisch sein und nichts weiter, mit einer sehr klaren Logik“, nämlich der Logik, die der Macht den Vortritt lässt. Zum Glück gibt es eine neue Literatur in Mexiko, die sehr spielerisch, sehr dezentral und sehr ohne Anfang oder Ende ist.

Die Ausbeutung der irrationalen Ressourcen

Ich habe einen sehr konkreten Zweifel hinsichtlich ORQUIDEAS A LA LUZ DE LA LUNA: auf wen beziehen sich Dolores del Rio und Maria Felix – zwei cinematographische Mythen – jedesmal, wenn sie auf eine verschlagene Mutter anspielen, welche sie beide überlebt? Auf die Kultur, aus der sie stammen?

Möglicherweise auf eine Filmproduktionsfirma. Möglicherweise auf die Metro Goldwyn Mayer oder vielleicht auch auf die Mutter dieser beiden verrückten chicanas, die glauben, dass sie Dolores del Rio und Maria Felix sind und die ihnen Leben und Abenteuer ersinnen. Sie wandeln sie in realen Mythos um in dem Sinne, in dem zwei Griechinnen sagen können: „Jetzt spielen wir, dass wir Venus und Minerva sind. „In der selben Art und Weise spielen diese beiden Frauen, die keineswegs Maria Felix und Dolores del Rio sind.

Über dasselbe Thema sagen die Personen in ZONA SAGRADA: „Man musste einen gesamten Mythos, einen gesamten Glauben, eine gesamte Vernunft erdichten, um damit die liebevolle Kultivierung der Erde zu rechtfertigen und um den Widerwillen zu besiegen, sie mit der Hacke zu töten… “ etwas später, in CRISTOBAL NONATO, begreift man dieses fanatische Verklärung als einen Akt, bei dem die kritische Imagination durch Mythen ersetzt wurde.

Ja. Immer gibt es ein mythisches Denken, in jeder Gesellschaft, versteckt oder sichtbar, stillschweigend oder explizit: der Mensch lebt nicht ohne Mythen. Jung ist diesbezüglich sehr klar gewesen. Aber der Unterschied ist vielleicht der, dass der alte Mythos, wie Jung zeigt, fast unbewusst lebendig ist. Es ist unvorstellbar, außerhalb einer mythischen Welt zu leben. Dabei ist einzuräumen, dass wir uns einer Reflexion unterziehen müssen, um uns den Mythos anzueignen, die den Mythos selbst degenerieren, prostituieren und verderben kann.

Das ist möglich, aber gleichzeitig ist eine Gesellschaft, die man selbst durch Imagination nicht versteht, die nicht imstande ist, Bilder zu erschaffen, wie Lezama Lima sagte, eine in der Zukunft unbegreifliche Gesellschaft. Man wird sie nicht verstehen.

Dann müssen wir, wenn schon nicht Mythen, so doch wenigstens Bilder erzeugen, die uns in der Zukunft verständlich machen. Und warum nicht manchmal an die Mythen appellieren, um zu sehen, welche Widerstandskraft sie haben und über welche Fähigkeit, Bilder zu erschaffen, sie in heutiger Zeit verfügen. Wir können uns dieser Möglichkeit nicht berauben.

Das Abbild der chicanos und das tragische Bewusstsein

In EL ESPEJO ENTERRADO wird behauptet: „Es ist notwendig, die Tradition innerhalb des Wandels fortzuführen und den Wandel zu verwirklichen, ohne die Tradition geringzuschätzen.“ Ist die Verwandlung, wie es in ZONA SAGRADA heißt, die Formel der Kontinuität?

Also gut, auch die Schöpfung ist eine Formel der Kontinuität. Eine Sache kann ohne die andere nicht geschehen: weder gibt es eine Schöpfung, die sich nicht auf die vorhergehende Tradition stützt, noch gibt es eine Tradition, die man ohne die Neuschöpfung am Leben halten kann. Das ist es, was ich glaube.

Es gibt einige Charakteristika, die man im allgemeinen mit den Chicanos assoziiert, wie die Sorge um die Sprache, die Religiosität…

Die persönlichen Biographien. Sie sind große Erzählmeister der Geschichten ihrer Familien. Ja.

… der Respekt vor den Erfahrungen der Älteren, usw. Glauben Sie, dass wir in ihnen die Wesenszüge sehen können, die in Mexiko stärker zutage treten werden?

Ich glaube an die Kommunikation der Kulturen, und sicher gibt es viele Aspekte innerhalb der Kultur der Chicanos, von denen wir lernen werden. Und sie werden auch viele Sachen von uns lernen. All dies, sei es Tausch, Kommunikation, Austausch, fördere und unterstütze ich. Das wissen Sie.

Dann kann uns deren Situation etwas über unsere Zukunft sagen?

Ja, weil sie – sehr verständliche – Zweifel hinsichtlich Sprache, Vergangenheit, letztlich der Familien haben. Noch im Jahre 1970 war ich an einer Universität in Kalifornien, wo sich die Chicanos weigerten, Spanisch zu sprechen. Sie hatten Angst, dass sie gehört würden, wenn sie Spanisch sprechen, weil das ihren sozialen Status beeinträchtigte. Heute sind sie stolz auf ihr Spanisch. Ich sagte damals zu ihnen: „Aber Sie sind doch offensichtlich Chicanos, warum sprechen sie nicht Spanisch mit mir?“, und einer von ihnen sagte: „Weil es Sklavensprache ist.“ Ich sagte ihm: „Die Sprache von Cervantes ist Sklavensprache? Sie müssen verrückt sein. Die Sprache Nerudas ist keine Sklavensprache.“ In dieser Hinsicht hat sich viel geändert.

Gut. Ein anderes offensichtliches Element ihrer Arbeit ist die Sorge um die persönliche historische Verantwortung. „Was kannst du tun, damit die Hunde dir verzeihen?“ sagt eine Person in AGUA QUEMADA, und in CON-STANCIA fragt sich Whitby Hull: „Wie weit muss meine persönliche Verantwortung für die Ungerechtigkeiten, die ich nicht begangen habe, gehen?“ Kann die Anerkennung des Anderen, der Respekt vor der Andersartigkeit eine Form sein, diese Aufgabe zu lösen? Ich gebe die Frage, die Whitby Hull sich stellte, an Sie zurück.

Gut, das klingt sehr nach Dostojewski, nicht wahr? Dostojewski sagte, dass er sich für alle Schuld aller Männer und Frauen der Welt verantwortlich macht, und Belinski, der russische Kritiker, der Dostojewski sehr inspirierte, sagte ihm: „Aber das ist unmöglich, es sind tausende und Millionen von Menschen, wie willst du Schuld und Schmerz von allen und jedem einzelnen von ihnen auf dich nehmen?“ und Dostojewski antwortete ihm in einer sehr klaren und wunderbaren Art: „Es genügt mir, mich auf den letzten Menschen zu beziehen.“

Was ich also sagen möchte, ist, dass wir, wenn wir nicht fähig sind zu dieser Großzügigkeit gegenüber dem letzten Mann, der letzten Frau – das heißt denjenigen, die wir in unserer nächsten Nähe um uns haben – wir weder mit den übrigen noch mit uns selbst großzügig sein können. Wenn wir aber diese Frau oder diesen Mann anerkennen, erkennen wir das gesamte Universum, die gesamte Menschheit an.

Um aus unseren Fehlern zu lernen, um diese unvollendeten Projekte besser zu nutzen, schlagen Sie ein „tragisches Bewusstsein“ vor. Diesen Gedanken nehmen sie von Goya…

Teils, teils. Goya ist ein tragischer Maler, das stimmt.

von Unamuno …

Ja, ja.

Diese Idee über das Tragische ist der Tradition Lateinamerikas nicht fremd?

Sie ist der modernen Tradition nicht zugehörig. Die Moderne hat entschieden, dass es keine Tragödie gibt, alles wird gut ausgehen. Wir dürfen glücklich sein. Ich glaube, dass es seit Dostojewski einen Bruch gibt, eine Persönlichkeit wie Raskolnikow zeigt, dass es dem Menschen schlecht geht, weil er möchte, dass es ihm schlecht geht. Und Nietzsche hat uns daran erinnert, dass das Glück und die Geschichte nicht zusammentreffen. In den Vereinigten Staaten, die das Land des Optimismus und des Erfolges, des Zukunftsglaubens gewesen sind, entdeckte man das Gegenteil durch den Bürgerkrieg, und durch die Literatur von Autoren wie Faulkner, der sagte, dass die Dinge schlimm enden können. Die Nordamerikaner als Nation haben erst mit Vietnam verstanden, dass eine Handvoll Soldaten, von östlichen Guerrilleros, sie vernichtend schlagen konnte. Also ist es für eine Gesellschaft und ihre Individuen zwingend notwendig, für die Möglichkeit der Niederlage offen zu sein, für die tragische Möglichkeit. Wenn wir darauf nicht vorbereitet sind, werden wir sehr unangenehme Überraschungen erleben.

Welche Kritik wurde an Ihrer Vision einer indo-afro-ibero-amerikanischen Kontinuität geübt?

Welche Kritik? (-er lacht-) Ich kenne keine.

Gut. Glauben Sie nicht, dass man Ihre Idee einer Kontinuität, bestehend aus dem Zusammenfließen verschiedener Einflüsse, zur Überwindung der Angst vor den Vereinigten Staaten und zur Rechtfertigung der ökonomischen Integration mit ihnen nutzen könnte?

Ich habe nie Angst vor den Vereinigten Staaten gehabt. Im Gegenteil, sie müssten eigentlich vor uns Angst haben, weil unsere kulturelle Präsenz (in den USA) viel tiefergehend ist, viel stärker; ihre Kultur ist oberflächlicher, kommerzieller, extensiver in diesem Sinne, aber sie lässt sich nicht mit dem Einfluss vergleichen, den die Sprache ausübt. Es gibt 20 Millionen Menschen in den USA, die Spanisch sprechen, sehr wenige sprechen dagegen in Mexiko Englisch. Küche, Gewohnheiten, Familie, Religion, Sprache, Vergangenheit, Erinnerung,
Erinnerungsvermögen, eine im Leben verwurzelte Beziehung zum Tod, all dies gibt uns eine viel tiefere Präsenz in den Vereinigten Staaten, als es ihre Präsenz – welcher Art auch immer – in Mexiko ist. Aber darüber hinaus, wenn ich auf dem mestizischen indo-afro-ibero-amerikanischen Charakter unserer Kultur bestehe, so deshalb, weil ich glaube zu bemerken, dass wir in einem Jahrhundert der Vermischungen leben werden, und dass wir in Mexiko und in Lateinamerika besser darauf vorbereitet sind, das Phänomen der Migration zu verstehen, als die Europäer und die Nordamerikaner.

Sie persönlich sind der Auffassung, dass der Intellektuelle ein Staatsbürger ist, der die Nähe der Macht suchen oder sie auch meiden kann.

Ja, das entscheidet jeder selbst. Viele von uns mexikanischen Schriftstellern sind zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens der Macht nahe gewesen, fast ausnahmslos, würde ich sagen. Heute sind die Möglichkeiten zur Unabhängigkeit wesentlich größer als in der Vergangenheit. Schützen muss man sich vor dem philanthrophischen Ungeheuer, wie Octavio Paz sagen würde, dem Herrn über das Fernsehen, der alle Mexikaner an diesen Mist – oder Schund – kettet – für immer und ewig.

Aber unabhängig davon, ob der Intellektuelle der Macht nah oder fern ist, hat er eine besondere Verpflichtung gegenüber der Macht? Etwa, sich mit seiner kritischen Imagination einzubringen?

Der Intellektuelle – in diesem Fall der Schriftsteller – das, was er tut, ist schreiben. Und er weiß mit Gedanken, Imagination und Sprache umzugehen, und damit erfüllt er seine gesellschaftliche Funktion. Nichts weiter.

Dies ist die einzige Weise: eine Verwandlung und eine weitere und dann eine weitere. Wenn dich die Zeit einfängt, tötet sie dich. Es beginnt, es entwickelt sich, es endet. Wenn du dich verwandelst, wechselst du nur von einem Zustand zu einem anderen, immer, weißglühend, wie die Statuen des Palastes.
(Carlos Fuentes „ZONA SAGRADA“)

Das Interview führte Martin Solares
Aus „La Jornada Semanal“ Nr. 222 vom 12.9.1993.
Übersetzung: P. Castillo und G. Pisarz

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