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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Jacinta

Angeles Grillasca | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Jacinta den langen Weg nach Tuxtlachico einschlug. Natürlich war die Stadt nicht so weit entfernt, aber sie beschloss, einen weiten Umweg über den am Fluss entlang laufenden Pfad zu machen, um nicht durch das Dorf Mediomonte gehen zu müssen. Fast alle taten dies, da sie Angst vor dem hatten, was man über den Ort erzählte: dass kein Fremder ihn lebendig verließ, dass er Zufluchtsort für die Mörder der Gegend war, dass die Priester mit der Machete niedergemetzelt wurden, dass ein Stoßtrupp Soldaten verschwand und dass der General den Ort plünderte. Jacinta aber mied den Ort, weil sie es eilig hatte.

Gegen drei Uhr nachmittags kam sie an die Panamericana, die nach Guatemala führt. Sie kauerte sich nieder und drückte ihr rechtes Ohr auf den Asphalt, um zu hören, ob sich ein Auto näherte. Nachdem sie festgestellt hatte, dass keine Gefahr bestand, überquerte sie schnell die Straße, indem sie kleine Sätze machte, ganz so wie eine frisch geschlüpfte Heuschrecke; mehr erlaubte ihr langes Kleid nicht, das sie wie ein taco umhüllte.

Ohne das Tempo ihrer kleinen Sprünge zu verringern, bog sie nun in einen Weg ein, auf den Ceibabäume ihre Schatten warfen. Sie war so sehr damit beschäftigt zu überlegen, was sie dem Bürgermeister erzählen würde, dass sie beinahe an ihrer Gevatterin vorbeilief, ohne sie zu grüßen, was seltsam war, da sie ansonsten immer mehrere Stunden ausharrte und mit ihr sprach.

Schließlich machte sie an einem mit Kalk geweißten Stein halt, auf dem stand: HIER BEGINNT DAS SCHÖNE TUXTLACHICO. NUR DER INDIO, DER NACKT ANKOMMT, MUSS SICH WAS ANZIEHEN. DIE ANDEREN NICHT.

Jacinta holte eine scheinbar neue Bluse aus ihrer Umhängetasche. Sie war rechteckig und ärmellos sowie mit Spitzen und bunten Seidenbändern besetzt (ein Geschenk von Pedro, ihrem jetzigen Mann), und während sie sich die Bluse überzog, dachte sie: „man kann nicht mal so ins Dorf gehen, wie man geboren wurde, sonst tobt die Obrigkeit… Was soll’s, wozu sind die Brüste denn da? Doch sowieso nur zum säugen und spielen…“

Als sie an den Dorfplatz kam, war sie hochrot im Gesicht. Die Hitze hatte ihr so arg zugesetzt, dass sie völlig außer Atem war. Sie ging zum Brunnenbecken auf der Platzmitte und tauchte den Kopf unter Wasser, womit sie die in aller Ruhe schwimmenden Enten aufschreckte. Dann schüttelte sie sich das Wasser aus den Zöpfen, legte sie wieder über den Kopf, fast bis auf die Stirn, knotete sie mit einem roten Haarband aus ihrer Umhängetasche zusammen und ging zum Bürgermeisteramt.

„He du“, rief sie dem Wachposten zu. „Ich will mit dem Bürgermeister sprechen.“

„Pech gehabt! Der ist nämlich schon weg“, antwortete der wegen der Hitze schlecht gelaunte Polizist. „Was ist dein Anliegen?“

„Ich will mit dem Bürgermeister sprechen.“

„Dann musst du bis Montag warten. Wenn der Bürgermeister sich ins Wirtshaus verzieht, dauert es einige Tage, bis er wieder auftaucht“, erklärte er und wischte sich mit einem roten Halstuch den Schweiß von der Stirn. „Warum sagst du mir nicht, was du willst, und ich sag’s ihm, sobald er wieder auftaucht.“

„Geh dich das vielleicht was an? Ich werd hier auf ihn warten.“

„Zufällig geh ich jetzt auch, und du kannst nicht hier bleiben.“

„Egal. Ich lege mich in eine Ecke und warte.“

„Das ist deine Sache, wenn du auf dem Boden schlafen willst! Sicher bist du daran gewöhnt.“

Jacinta fand keinen geeigneten Platz zum Schlafen. Deshalb hockte sie sich auf die Stufen des Bürgermeistersamtes. Allmählich legte sich die Nacht über Tuxtlachico, die Laterne auf dem Platz wurden angeschaltet und das nostalgische Rot der Abenddämmerung erlosch. Die Grillen begannen ihr schrilles, ausdauerndes Gezirpe. „Sie bitten den Himmel um Wasser“, dachte Jacinta, während sie langsam einnickte.

„Immer dasselbe“, sagte sie sich und bettete den Kopf auf eine Stufe. „Man kommt mit guten Absichten und wird nicht empfangen… Warum gibt’s dann überhaupt eine Polizei? Ich hab keine Lust, dass mein Pedro wegen der Felipa dran glauben muss. Die ist sauer, weil er sie nicht beachtet. Warum verguckt sie sich auch in einen Mann, der in festen Händen ist? Letztens hat sie ihn mit roten Blumen und Friedhoferde beworfen. Und gestern, gerade als Pedro in die Kakaopflanzung gehen wollte, stand sie plötzlich vor ihm. Sie sieht ihn, wirft sich hin, küsst den Boden und ruft den Tod an. Wenn die Polizei sie nicht in ihre Schranken verweist, mach ich Felipa mit der Machete nieder! Was glaubt sie eigentlich, wer sie ist, dass sie sich einbildet, mir den Mann wegnehmen zu können?“

Am nächsten Morgen ließ die Sonne wie immer die gewaltige Masse des Vulkans Tacaná deutlich hervortreten, um dann zwischen den Bergen aufzugehen. Jacintas Magen machte seltsame Geräusche, „mein Bauch gleicht dem einer entwöhnten jungen Tigerkatze: der Magen knurrt vor Hunger“, dachte sie, während sie sich aus der unbequemen Haltung erhob, in der sie geschlafen hatte.

„Du bist ja immer noch hier!“ sagte der Polizist erstaunt, während er mit der Zunge aus einer Kakaofrucht die Bohnen herausklaubte.

„Hast du vielleicht eine Tortilla? Ich habe Hunger.“

„Da nimm“, sagte er und bewarf sie mit der halben Kakaofrucht.

Jacinta blieb keine Zeit, ihr auszuweichen, so dass die klebrige Bohnen ihr rotgelb gestreiftes Kleid beschmierten.

„Du Rindvieh!“, rief Jacinta entsetzt und versuchte, mit beiden Händen ihr Kleid abzuwischen. „Weißt du etwa nicht, dass es ungesund ist, vor dem Frühstück Kakaobohnen zu essen? Davon kriegt man Magenkrämpfe und Übelkeit.“

„Durchfall und Brechreiz“, sagte der Polizist lachend, wobei er jede einzelne Silbe betonte.

„Hör auf mich, Frau. Geh nach Hause. Ich hab dir doch gesagt, dass Don Paquito besoffen ist. Am besten versuchst du es nächste Woche nochmal.“

„Na gut, ich gehe. Aber wenn dem Pedro was passiert, dann ist es nicht meine Schuld, kapiert?“

„Sieh mal einer an! So eine hochnäsige India. Kommt hierher und macht Probleme, wo man eh alle Hände voll zu tun hat!“, dachte der Polizist und schaute Jacinta nach, die sich mit kleinen Sätzen entfernte.

„Meine hübsche, kleine Freundin!“, grüßte Jacinta und umarmte sie. „Du musst mir verzeihen. Ich bin in einer heiklen Angelegenheit unterwegs, und gestern hab ich dich nicht mal gegrüßt.“

„…“

„Denk nur nicht, dass ich dich vergessen habe. Nie werde ich vergessen, dass du mich von diesem Husten geheilt hast, den ich mir eingefangen hatte. Aber diesmal konnte ich nicht nach Mediomonte, um dir einen Schnaps zu kaufen. Ich hatte nicht mal Zeit, Kakao für dich zu malen. Ich hab’s sehr eilig.“

„…“

„Du kanntest mich schon als kleines Mädchen und weißt, dass ich alles sehr genau nehme. Sei also nicht beleidigt. Hast du gehört, meine Gebieterin?“

„…“

„Das nächste Mal, meine Schöne, komme ich nur wegen dir, einverstanden?“

„…“

„Also gut, meine hübsche Kleine. Pass auf dich auf, ja?, sprach sie zärtlich zu der tausendjährigen Ceiba. Und nachdem sie ihr einen Kuss auf die knorrige Rinde gedrückt hatte, entfernete sie sich, überquerte erneut die Panamericana und verschwand in den Kakaopflanzungen.“

 

Übersetzung von Klaus Jetz

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