Ein Beispiel für On-farm-Erhaltung von genetischen Ressourcen
Als der berühmte russische Forschungsreisende N.I. Vavilov im Jahre 1932 Kuba für kurze Zeit bereiste, machte er seiner Enttäuschung in einer Tagebuchnotiz Luft. Da war doch nichts, was seiner Vorstellung von einem Genzentrum entsprach, d.h., von einem Gebiet, in dem Kulturpflanzen und ihre wildwachsenden Verwandten in großer Mannigfaltigkeit vorhanden sein sollten. Nur die großen Plantagenkulturen Zuckerrohr, Tabak und Agave sah er, so weit das Auge reichte. Dieses Expertenurteil war wenig geeignet, weitere Forschungsarbeiten zu beflügeln. Und tatsächlich kam es erst vor einem Jahrzehnt bei der Neukonzeption von gemeinsamen Arbeiten zu pflanzengenetischen Ressourcen zwischen den Instituten in Gatersleben und Santiago de las Vegas zur Idee einer möglichst umfassenden Exploration der Landwirtschaft und des Gartenbaus der Insel in dieser Richtung. Schon bald stellte sich heraus, daß die vorsichtig optimistischen Erwartungen, die sich aus verschiedenen Hinweisen, besonders aber aus bereits laufenden intensiven botanischen Explorationen, ergeben hatten, bei weitem übertroffen wurden.
Der traditionelle Haus- und Bauerngarten, den wir etwas generalisierend als Conuco bezeichnen, mit einem Namen, der offensichtlich indianischen Ursprungs und weit verbreitet im karibischen Raum ist, erwies sich als ganz besonders ergiebige Quelle.
Conucos kommen noch sehr häufig in den gebirgigen Gebieten Ostkubas vor. Aber es gibt sie auch in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt, wo sie nicht unwesentlich zur Versorgung der Bevölkerung beitragen.
Abb.l: Großer Conuco in Ostkuba mit einer Vielzahl verschiedener Arten und Sorten, begrenzt von Regenwald und Fluß (aus Hammer et al. 1992, Fig. 11.
Sieben gemeinsame Sammelreisen konnten bisher durchgeführt werden, und immer lieferten die Conucos eine besondere Materialfülle, allerdings von Ost nach West bis etwa in die Gegend von Havanna abnehmend und dann wieder leicht ansteigend bis Pinar del Rio. Als Maß für den Reichtum an pflanzengenetischen Ressourcen können wir die Anzahl der insgesamt vorkommenden Arten nehmen. Dabei stellt sich heraus, daß in Kuba mehr als 1030 verschiedene Arten von Kulturpflanzen vorkommen und zwar ohne Zierpflanzen und Forstgehölze. Es ist also alles vertreten, was der Mensch zur Stillung seiner Bedürfnisse und der seiner Haustiere der Pflanzenwelt entnimmt, von Getreide, Gemüse, Obst und Arznei- und Gewürzpflanzen bis zu den Futterpflanzen. Nun sagt eine Zahl ohne Vergleichswerte nicht sehr viel aus. Eine weltweite Zusammenstellung aller Kulturpflanzen in der zitierten Umgrenzung aus dem Jahre 1986 zählt 4800 Arten auf und ist bisher in diesem Umfang noch nicht übertroffen worden. Es ist schon erstaunlich, daß ein so kleines Land wie Kuba einen Anteil von etwa 22 % der Kulturpflanzenarten der Welt beherbergt. Noch verblüffender ist allerdings ein anderer Vergleich. In Süditalien, das bekannt für seine Pflanzenschätze ist und daher auch folgerichtig zum von Vavilov charakterisierten mediterranen Genzentrum gehört, gibt es, ebenfalls in obiger Umgrenzung, 552 Arten. Einige kubanische Arten waren sogar neu für die Kulturpflanzenforschung, u.a. zwei Laucharten. Natürlich ist das Kriterium Artenzahl nur ein Anhaltspunkt. Es kommt auch auf die Variabilität innerhalb der Arten an, d.h. auf ihren Formenreichtum. Diese Untersuchungen sind für Kuba noch nicht abgeschlossen. Einige Arten wie Bohnen, Paprika und Tomaten zeigen auch in dieser Richtung eine ausgeprägte Formenfülle.
Die Globalsicht wird durch einen Blick in einen einzelnen Conuco bestätigt (Abb. 1). Dieser Conuco erstreckt sich bis in den Regenwald hinein, der durch die traditionelle Brandrodungsmethode sukzessive zurückgedrängt wird und Freiraum für neue Kulturflächen bietet. Natürlich können in einem Conuco nur einige Dutzend verschiedene Arten vorkommen.
Vorbildlich ist die Ausnutzung des Sonnenlichts in verschiedenen Etagen mit großen Obstbäumen als Schattenspendern, verschiedenen Sträuchern als Zwischenschicht und niedrigwüchsigen Stauden und Kräutern (Abb.2).
Abb. 2: Conuco in Ostkuba. Die verschiedenen Vegetationsetagen sind sichtbar (aus Hammer et al. 1992, Fig. 11.14)
In den Conucos sind Kulturpflanzen ganz unterschiedlicher Kulturkreise vereinigt. Dazu gehören Arten, die schon von den Ackerbau treibenden Taino-Indianern bei der Ankunft von Kolumbus im Jahre 1492 in Kuba, der ersten größeren Insel auf seiner berühmten Entdeckungsreise, beobachtet wurden, wie Gartenbohnen, Tabak und Mais. Die Taino-Indianer waren über den Antillenbogen mit Booten aus dem Amazonasbecken über das nördliche Südamerika nach Kuba eingewandert (vgl. Abb.3).
Abb. 3: Linguistische Karte der Namen der Chayote (Sechium edule). Besonders interessant sind die Beziehungen zwischen Kuba (Cho Cho) und Brasilien (Chu Chu). Sie bestätigen den Wanderweg der Chayote über den Antillenbogen nach Kuba im Gefolge der Taino-Indianer (aus Hammer et al. 1992, Fig. 4.1.)
Schon bald nach der Eroberung kamen spanische Siedler ins Land und transportierten Kulturpflanzen des Mittelmeergebietes in die Neue Welt. Die Küchenzwiebel gehörte dazu, aber auch Kohl und Minze. Wirtschaftlich erlangten diese Arten nie große Bedeutung in Kuba, jedoch spielen sie für die Bevölkerung eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Ein weiterer kräftiger Schub von Kulturpflanzen gelangte mit der Einführung der Negersklaven nach Kuba, die als Arbeiterersatz für die dezimierte Indianerbevölkerung gebraucht wurden. Die Afrikaner brachten ihre traditionelle Ackerbautradition in die Entwicklung des Conuco ein, neben den Kulturpflanzen, die etwa 11 % des Bestandes der Conucos ausmachen und zu denen Okra, Taro und Bananen gehören.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kamen die ersten chinesischen Einwanderer auf die Insel. Allmählich schwoll der Strom dieser Immigranten an und erreichte zwischen 1853 und 1873 die Zahl 132 453, um danach wieder allmählich abzuebben. Auch eine kleine Kolonie japanischer Gärtner und Landwirte konnte sich etablieren. Die ostasiatischen Traditionen, besonders des Gartenbaues, konnten so in Kuba Eingang finden. Allerdings machen die ostasiatischen Kulturpflanzen nur etwa 3 % des Anteils in den Conucos aus; zu ihnen gehören die Chinesische Zwiebel, Chinakohl und Riesenrettich.
Eine letzte intensive Introduktionsphase für Kulturpflanzen begann etwa zu Beginn unseres Jahrhunderts, als von den USA sehr viele Gemüse und Obstgehölze ihren Weg nach Kuba fanden.
Nicht immer läßt sich eine Kulturpflanze so einfach einem Herkunftsgebiet zuordnen. Die Winterheckzwiebel ist sehr wahrscheinlich schon mit den ersten spanischen Siedlern nach Kuba gelangt. Nach Spanien war sie schon einige hundert Jahre zuvor aus Ostasien eingeführt worden. Solche unter kubanischen Bedingungen niemals blühenden Sorten sind im Lande weit verbreitet. Die Chinesen brachten ostasiatische Genotypen der Art mit, die unter kubanischen Bedingungen durchaus blühen. Außerdem unterscheiden sie sich in einigen anderen Merkmalen, so daß die Herkunft noch heute nachzuvollziehen ist. Der Sareptasenf gelangte vom tropischen Westafrika zusammen mit den Negersklaven auf die Insel und ist seither auch zuweilen verwildert. Solche Formen sind manchmal von den Botanikern als eigene Arten beschrieben worden. Ausgesprochene Gemüseformen der Art sind spätere Introduktionen aus Ostasien.
Das Auffinden von zahlreichen Kulturpflanzen der Conucos und ihre Zuordnung zu den Herkunftsgebieten bzw. die Aufklärung ihrer Wanderwege setzen oft geradezu kriminalistischen Spürsinn voraus, wobei auch die Methoden denen der Kriminalistik kaum nachstehen und von Indiziensammlung einfachster Weise bis zum molekularen Fingerprint reichen. Der Nachweis der Entstehung der Grapefrucht in den Conucos selbst, wohin ihre Vorfahren aus Ostasien, Riesenorange und Apfelsine, eingeführt worden waren, fußte auf den mehr traditionellen Methoden. Rasterelektronische Aufnahmen der Strukturen der Samenoberfläche von Laucharten ermöglichten erst die botanische exakte Bestimmung einer Art (Kanadalauch), und die molekulare Untersuchung von kubanischen Gartenbohnen zeigte, daß bestimmte Proteine (Phaseoline) diesen Bohnen als Herkunftsgebiet die südamerikanischen Anden zuweisen. Als Kolumbus die Gartenbohne in den Conucos entdeckte und mit nach Europa brachte, war sie durch ihre Herkunft aus nichttropischen Gebieten sozusagen vorangepaßt an die mediterranen Bedingungen und konnte sich in der Alten Welt sehr schnell und erfolgreich etablieren und ausbreiten.
Eine vereinfachte ethnobotanische Klassifikation Kubas unter besonderer Berücksichtigung der Kulturpflanzen sieht folgendermaßen aus:
1. Vorkolumbianische Periode
2. Frühe Introduktionen (der spanische Einfluß)
3. Afrikanischer Einfluß
4. Ostasiatischer Einfluß
5. Spätankömmlinge (Introduktionen aus den USA) und
6. „Mysteriöse Immigranten“
Zur letztgenannten Gruppe gehören solche Arten, deren Herkunft und Einführungsgeschichte noch nicht geklärt werden konnten. So wird der Kanadische Lauch in den Conucos nicht selten wegen seiner kleinen weißen Zwiebeln kultiviert. Dieser Lauch ist nie in Kuba heimisch gewesen, und über seinen Anbau im natürlichen Verbreitungsgebiet in Nordamerika gibt es bisher keine Informationen. Völlig unklar ist also, wie, wann und durch wen die Art in Kuba eingeführt wurde. Noch schleierhafter ist das Vorkommen einer anderen Lauchart, nach neueren Befunden möglicherweise aus Mexiko stammend, die sich bisher der botanischen Determinierung entzog.
Es ist nur folgerichtig, daß der Vielfalt der kubanischen Bevölkerung auch eine große Mannigfaltigkeit bei den Kulturpflanzen und in den Conucos entspricht. Landschaft und Gartenbau sind Spiegelbilder der Kultur. Und die Kräfte, die zur Herausbildung von sehr charakteristischen afrokubanischen Religionen und einer faszinierenden afrokubanischen Musik, um nur zwei Beispiele zu nennen, fuhren, liefern auch starke Momente für eine spezifische Acker- und Gartenkultur – eben den Conuco. Unterschiedliche Herkünfte einer Art können sich miteinander kreuzen und resultieren so in einer neuen Formenfülle. Arten aus der kubanischen Wildflora wandern in die Conucos ein, sind dort neue Unkräuter und werden in vielen Fällen auch genutzt. Arten aus den Conucos verwildern, entwickeln sich unter spezifischen Selektionsdrücken weiter und gelangen schließlich wieder in Conucokontakte.
Der Conuco kann also durchaus mit einem Schmelztiegel verglichen werden, in dem sich verschieden Zutaten untereinander vermischen und Verbindungen eingehen bzw. meiden und oft neue Formen, Figuren und Materialien hervorbringen. Insofern gleicht er auch in verblüffender Weise der kubanischen Population. Auf der anderen Seite bewahrt der Conuco die traditionellen Elemente, die außerhalb seines speziellen Ökosystems kaum eine reelle Chance zum Überdauern gehabt hätten.
Der Conuco ist jetzt in seiner Bedeutung erkannt worden. Seine Schätze sollen erhalten werden und sich weiterentwickeln können. Dazu ist es aber nun wieder notwendig, etwas für die Erhaltung des Conucos zu tun. On-farm-Erhaltung nennt sich die neue Richtung der Arbeit mit der Grundlage unserer Ernährung und pflanzlicher Rohstoffe, den pflanzengenetischen Ressourcen. Auf dem Bauernhof selbst und im ländlichen Garten sollen die Arten und Sorten für die Zukunft bewahrt werden, eingebunden in ihr angestammtes oder erworbenes kulturelles und ökonomisches Umfeld. Projekte sind im Entstehen, die die Evolutionsvorgänge in den Conucos genau untersuchen, um die Voraussetzung für eine möglichst optimale Erhaltung der Arten- und Sortenfülle zu schaffen. Und selbstverständlich müssen dazu auch die Untersuchungen in die Breite getrieben, weitere Fallbeispiele gesammelt und Arten oder Formen genauer studiert werden.
Auch wird man nicht ohne das Know-how der Genbanken auskommen, die seltene Arten und Formen in ihre Obhut nehmen, charakterisieren, evaluieren und dauerhaft erhalten können und müssen. Eine Rücklieferung solcher meist seltener Formen in zukünftige Conucos ist ausdrücklich vorgesehen.
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Literatur: K. Hammer, M. Esquivel & H. Knüpffer (eds.), 1992 -1994: „… y tienen faxones y fabas muy diversos de los nuestros …“ Origin, Evolution and Diversity of Cuban Plant Genetic Resources. 3 vols., xvi + 824 pp.
Bildquelle: Quetzal-Redaktion, K. Hammer. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors.