Alle, die Superlative mögen, können bei diesem historischen Projekt aus dem Vollen schöpfen: Noch nie in der Geschichte haben sich irgendwo auf der Welt so viele Menschen an der Erarbeitung eines Verfassungsentwurfs beteiligt wie zuletzt in Chile: Zunächst über Monate hinweg in Hunderten von Bürgerversammlungen – Cabildos – auf Stadtteil- und Dorfebene, dann im Mai 2021 bei der Mobilisierung für die Wahlen der 154 Mitglieder des Verfassungskonvents, die zum überwiegenden Teil diesmal nicht aus den Apparaten der traditionellen politischen Parteien kamen, sondern aus Organisationen der Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen – und schließlich durch unzählige Vorschläge für einzelne Verfassungsartikel, eingebracht in Form von Bürgerbegehren in die Convención Constitucional, den Verfassungskonvent. Nach exakt einem Jahr intensiver Arbeit liegt jetzt seit dem 4. Juli der Entwurf für das neue Grundgesetz vor, mit 388 Artikeln auf 178 Seiten sicherlich eines der umfangreichsten Magna Carta-Dokumente weltweit. Am 4. September werden die wahlberechtigten Bürger im Land – aber auch Chileninnen und Chilenen in der weltweiten Diaspora – in einem Plebiszit über Annahme oder Ablehnung entscheiden. Der Ausgang ist derzeit völlig offen. Über den mit extremer Härte geführten Kampf um einen neuen Verfassungsrahmen für Chile sprachen wir mit José Horacio Wood und Claudia Vera von der Kinderrechtsorganisation Fundación ANIDE mit Sitz in Santiago.
Im November 2020, wenige Tage, nachdem fast 80 Prozent aller Wahlberechtigten für eine Ablösung der oktroyierten Pinochet-Verfassung von 1980 und die Erarbeitung eines neuen Grundgesetzes votiert hatten, sagtet Ihr in einem Interview: „Jetzt erwartet uns der steilste Teil des Weges“. Hättet Ihr Euch vorstellen können, wie steil und steinig diese Strecke tatsächlich werden würde?
José Horacio Wood: Demokratie ist immer anstrengend! Und ja, wir wussten, mit welch harten Bandagen diese Auseinandersetzung geführt werden wird. Aber dieser ganze Prozess seit Oktober 2019, dem Beginn des Estallido Social, der Massenproteste gegen das neoliberale Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, mit 34 Todesopfern und Tausenden von Verletzten, war immer auch eine Antwort auf die profunde Krise der Demokratie im Nach-Pinochet-Chile: Wir wussten, unsere Probleme können wir nur mit mehr – nicht mit weniger – Demokratie und Teilhabe lösen!
Claudia Vera: In der Geschichte dieses Land hat es noch nie eine vergleichbare Erfahrung von Beteiligung und demokratischer Mitgestaltung gegeben, wie jetzt bei der Erarbeitung dieses Verfassungsentwurfs – und noch nie ein zu gleichen Teilen aus Frauen und Männern besetztes Gremium wie diesen Verfassungskonvent, in dem endlich auch die indigenen Völker Chiles angemessen vertreten waren. Dazu Menschen aus den sozialen Bewegungen, die für Menschenrechte, Klima, Umwelt oder die Rechte sexueller Minderheiten stritten. Nicht zu vergessen, auch die Rolle von Kolleginnen und Kollegen aus Nichtregierungs-organisationen, die als Delegierte in die Convención Constitucional gewählt wurden und denen wir die starke Präsenz so wichtiger Themen wie Kinderrechte oder Rechte älterer Menschen zu verdanken haben.
Wie erklärt Ihr Euch den shitstorm, den unglaublichen Hass, aber auch die Häme, die diesem Verfassungsentwurf in den sozialen Medien, aber auch in Fernsehdiskussionen und den großen Tageszeitungen entgegenschlägt – und zwar lange bevor der Entwurfstext am 4. Juli vorgestellt wurde?
José Horacio Wood: Ganz einfach: Es geht hier darum, dass dieser Vorschlag für die zukünftige Verfassung Chiles und seine Leitidee eines demokratisch funktionierenden sozialen Rechtsstaats die Macht einer kleinen Minderheit in Frage stellt. Wir dürften nicht vergessen, dass Chile weltweit eines der Länder mit den extremsten Einkommens-unterschieden zwischen einer kleinen privilegierten Geld- und Machtelite und der Mehrheit der Menschen ist. Diese Elite hat noch nie in der Geschichte unseres Landes akzeptiert, materielle Macht und Privilegien abzutreten, sondern ihre Interessen immer – notfalls mit Gewalt, wie bei dem Militärputsch am 11. September 1973 – oder mit Fake News- und Diffamierungskampagnen wie bei der letzten Präsidentenwahl im Dezember 2021 – durchgesetzt oder durchzusetzen versucht.
Claudia Vera: Uns fällt auf, dass diejenigen, die gegen diesen Verfassungsentwurf agitieren, nie sagen, womit sie inhaltlich Probleme haben, welche Teile des Textes aus ihrer Sicht überarbeitet werden müssten. Stattdessen sind unendlich viele abstruse Lügen im Umlauf – wie zum Beispiel die hanebüchene Behauptung, dass die neue Verfassung Schwangerschaftsabbrüche bis zum neunten Monat zulässt – oder irgendwelche sonstigen Wortfetzen, völlig aus dem Kontext gerissen. Wie soll auf dieser Grundlage ein Dialog, eine inhaltliche Auseinandersetzung möglich sein? Ein ganz grundsätzliches Problem besteht darin, dass den Menschen nicht vermittelt wird, dass eine Verfassung kein Gesetzbuch ist, sondern den politischen Rahmen für die Arbeit der Legislative, also für gesetzgeberische Prozesse vorgibt.
Aber wie kann es sein, dass nach den derzeitigen Umfrageergebnissen offenbar eine Mehrheit der Menschen in Chile bereit ist, Fake News mehr Glauben zu schenken, als dem, was sie selbst lesen und nachschauen können?
José Horacio Wood: Ja, es gibt leider zu viele Leute, die einem Social Media-Post oder einer tendenziösen Schlagzeile mehr Glauben schenken als den Fakten. Das sind weltweit immer die gleichen Grundmuster, wie Populismus und Demagogie funktionieren. Hinzu kommt, dass viele Menschen unter einem permanenten Stress stehen, um die Alltagsbelastungen zu bewältigen: Irrsinnig gestiegene Preise, beispiellose soziale Abstürze während der beiden Pandemiejahre und Angst vor der gewachsenen Kriminalität. Da ist es leicht, ein Klima des Terrors zu schüren, mit der Behauptung, dass in Zukunft die ‚Indios‘ – also die Menschen aus dem Mapuche-Volk – die Macht übernehmen werden, Angst zu erzeugen und gegen die Verfassungsidee eines plurinationalen Staates zu polemisieren. Dabei gibt es auf der ganzen Welt zahlreiche plurinationale Gesellschaften, die das auch so in ihren Verfassungen verankert haben: Zum Beispiel Belgien, Spanien, Kanada, Bolivien. Die Technik, medial ein Klima der Angst zu schüren und auf diese Weise Wahlen und Abstimmungen zu beeinflussen, hat in diesem Land eine traurige Tradition: Das war im Oktober 1988, als Pinochet mit einem Plebiszit seine Amtszeit um 10 Jahre verlängern wollte, aber auch bei den Wahlen mit Michelle Bachelet oder Gabriel Boric als Kandidaten nicht anders.
Es fällt auf, dass es einige wenige Themen gibt, gegen die von den Gegnern des Verfassungsentwurfs nicht agitiert wird. Dazu gehören die Kinderrechte. Werden sie einfach in der derzeitigen Auseinandersetzung als nicht wichtig genug wahrgenommen?
Claudia Vera: Nein, das glaube ich nicht. Hier wirken die Schockwellen nach, die entsetzlichen Nachrichten über die 1836 Kinder und Jugendlichen ausgelöst haben, die in den zurückliegenden 15 Jahren in Heimen des staatlichen Kinder- und Jugenddienstes SENAME ums Leben kamen. Außerdem ist vielen Menschen bewusst, dass wir in diesem Land ein richtig heftiges Problem rund um familiäre und sexualisierte Gewalt gegen Kinder haben, das sich während der zwei Jahre mit Corona noch einmal massiv zugespitzt hat. Zumindest an diesem Punkt gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass es so nicht weitergehen kann. Trotzdem ist es für ANIDE, alle Kindernothilfe-Partner im Land und die Kolleginnen und Kollegen aus den Netzwerken, in denen wir engagiert sind, ungeheuer befriedigend, zu sehen, wie ambitioniert dieser Artikel 26 im Verfassungsentwurf, in dem es um die Kinderrechte geht, ausgestaltet wurde: Alle drei Säulen aus der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 – Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte – sollen jetzt in Chile Verfassungsrang erhalten. Und: Kinderrechte werden nicht einfach unter Menschenrechten subsummiert, sondern als eigenes Verfassungsanliegen eine zentrale Rolle spielen. Außerdem stärkt der Entwurf die Rolle der Ombudsstelle für die Rechte von Kindern. Nicht zu vergessen: Junge Menschen sollen in Chile ab 16 Jahren das aktive Wahlrecht erhalten!
Wie werden für Euch und für diejenigen, die sich aktiv für eine Annahme dieses Verfassungsentwurfs einsetzen, die verbleibenden Wochen bis zum 4. September aussehen?
Claudia Vera: Wir müssen mit den Menschen reden, reden, reden! Die Rechte, die die neue Verfassung sichern soll: Bildung, Wohnung, Arbeit müssen erklärt werden, von Tür zu Tür, von Viertel zu Viertel. Sämtliche Fernsehsender und alle Zeitungen in diesem Land befinden sich in den Händen der konservativsten Sektoren dieser Gesellschaft. Nirgendwo wird erläutert, was in dem Verfassungsentwurf steht. Es gibt keine Programme zur staatsbürgerlichen Bildung wie in Europa. Unsere einzige Chance ist, die Menschen in Cabildos – Stadtteilversammlungen, großen und kleinen Treffen, an der Haustür, wo auch immer – oder eben über das Internet zu erreichen.
Jose Horacio Wood: Die zentrale Aufforderung der Apruebo-(Zustimmungs)-Kampagne lautet: Perder el Miedo! Verlier die Angst! Die Behauptung, dass, wer für diese Verfassung stimmt, Chile in das nächste Venezuela, Kuba oder Nicaragua verwandelt, verfängt leider immer noch. Deshalb ist es so entscheidend, dass die Menschen den Text des Verfassungsentwurfs wirklich kennen und sich am 4. September informiert und frei von Angst entscheiden. Was helfen wird, ist, dass die Teilnahme an diesem Plebiszit verpflichtend ist. Nur vom Spielfeldrand aus zuschauen geht nicht!
Die Kinder, die nächste Generation, von deren Zukunft und deren Lebensbedingungen in der Debatte um den Verfassungsentwurf so viel die Rede ist, werden sich an dem Volksentscheid nicht beteiligen können. Was haben sich die Kindernothilfe-Partner in den Projekten überlegt, um mit Kindern, Jugendlichen und deren Eltern über die bevorstehende Entscheidung zu diskutieren?
Claudia Vera: In allen Projekten haben die Teams mit uns zusammen begonnen, Strategien auszuarbeiten und Material vorzubereiten, um in den verbleibenden Tagen bis zum 4. September mit den Eltern und den Jugendlichen, die bereits 18 sind, zum Verfassungsentwurf zu diskutieren, seine Elemente zu erläutern, Fragen zu beantworten und so zu erreichen, dass die Menschen informiert abstimmen. Es geht nicht darum, den Leuten zu sagen, wie sie am Ende entscheiden sollen – aber alles zu tun, damit diese Entscheidung auf der Grundlage von eigenem Wissen erfolgen kann. Wichtig ist auch, zu verstehen, dass dieser Verfassungstext kontinuierlich weiter verbessert werden kann. Dafür sind in dem Entwurf Mechanismen wie Bürgerbegehren, Bürgerentscheide und weitere Elemente direkter Demokratie enthalten, die wir in diesem Land so noch nie hatten.
José Horacio Wood: Und natürlich werden sich auch die Kinder und Jugendlichen, die noch nicht wahlberechtigt sind, in den von ANIDE und Kindernothilfe unterstützten Projekten intensiv mit der bevorstehenden Entscheidung beschäftigen: Sie diskutieren mit den Erzieherinnen und Erziehern, aber auch zu Hause in den Familien über die Themen, die ihnen besonders wichtig sind: Der Schutz der Umwelt, das Recht auf (kostenlose) Bildung, der bezahlbare Zugang zu Wasser, aber auch sehr sensible Themen wie Geschlechteridentität, Diversität und das Engagement für eine Gesellschaft, in der Rassismus und Fremdenfeindlichkeit keinen Platz haben dürfen. Wir beobachten viele tolle Initiativen, mit denen sich die Kinder aus den Projekten in ihren Vierteln in den Wochen vor dem Volksentscheid einbringen wollen.
Claudia Vera: Was mir Mut macht, ist eine persönliche Erfahrung aus dem Präsidentschaftswahlkampf im Dezember 2021, als sich der rechtspopulistische Kandidat José Antonio Kast und der jetzige Präsident Gabriel Boric in einer Stichwahl gegenüberstanden. Da hat sich ein 13jähriges Mädchen in ein intensives und kontroverses Gespräch, das ich mit ihrer Mutter führte, eingemischt und sagte: „Mama, bitte, wir stimmen nicht für diesen Kast!“
Die Fragen stellte Jürgen Schübelin
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Die Interview-Partner: Der Anthropologe José Horacio Wood arbeitet seit 1995 bei der ökumenischen Kinderrechts-Stiftung ANIDE, der Partnerorganisation der Kindernothilfe in Chile. 2001 wurde er zum Direktor von ANIDE berufen. Seine Kollegin Claudia Vera ist Germanistin und seit 1991 bei ANIDE, bzw. der Vorgänger-Organisation, als Programm- und Projektkoordinatorin engagiert. Darüber hinaus begleitet und betreut Claudia Vera seit vielen Jahren die Freiwilligen, die über das Bündnis evangelischer Freiwilligendienste aus Deutschland und Österreich nach Chile kommen.
Bildquelle: [1,2]_Jürgen Schübelin