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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Interview mit Amilcar Méndez
Teil II: Zwischen Verzweiflung und Hoffnung

Andrea Lammers | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Amilcar Méndez bei einer Veranstaltung am 7. Mai 2010 in Leipzig - Foto: Anne StolmarQUETZAL: Lass uns nochmal zu Guatemala im Allgemeinen und den Zukunftsaussichten kommen: Es gibt verschiedene Gruppen der Zivilgesellschaft, es gibt eine Mayabewegung oder doch organisierte indigene Gruppen. Vielleicht gibt es auch noch Reste der Linken. Im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas, Bolivien…

AM: …stehen wir ganz weit hinten an.

QUETZAL: Warum?

AM: Wegen der Zersplitterung, wegen der Spaltung des Landes – und all das schon seit so langer Zeit. Der deutlichste Beweis dafür ist: Kaum ist der Frieden unterschrieben und es geht darum, die Verantwortung für die Erfüllung der Abkommen zu übernehmen, schwächen wir uns selber: Konflikte, Konflikte, Konflikte… Wir aus den Volksorganisationen, ob Bauern, Witwen oder wer auch immer, sind Waisen der Politik. Wir haben keine Hoffnung auf eine Partei oder, wie im Fall von Bolivien, auf einen Evo [4], der Sachen ändern könnte. Wir haben einfach nichts mehr, weil die Linke inzwischen noch zerstrittener ist, fast schon inexistent. Weil es sehr viel Frustration und Enttäuschung gibt. In dieser Angelegenheit ist also alles sehr, sehr besorgniserregend. Punkt Nummer eins. Punkt Nummer zwei: Dort, wo die traditionellen Parteien wirken, die heute keine Ideale mehr haben, haben sie die Politik in einen Markt verwandelt. Sie sind am Werk – vor allem die Frau des Präsidenten, die nun daran arbeitet, Präsidentin von Guatemala zu werden. Sie haben schon fast den Wahlkampf begonnen. Es kündigt sich schon dieser Wahlzirkus des nächsten Jahres an, bei dem wir keine Alternativen haben, sondern vielmehr politische Parteien antreffen werden, die längst daran gewöhnt sind, den Staatsbesitz auszuliefern, die Reichtümer des Landes zu verschleudern, mit den transnationalen Unternehmen zu kungeln. So ist das und es macht mir große Sorgen. Es wird auch viel Gewalt im Spiel sein. Die Wahljahre sind seit jeher mit viel Gewalt verbunden. Auf der anderen Seite, in anderen Bereichen haben wir aber einige Bewegungen, die auf die Straße gegangen sind, die protestiert haben. Das ist der Punkt. Wenn sich die Dinge weiter verschlechtern, können diese Bewegungen auch stärker werden. Sie könnten sich zusammentun. Das wäre das Wichtigste. Das müsste sozusagen ein wenig ohne die Linke passieren, denn die haben wir nicht mehr. Sie ist auseinandergebrochen, aber die Bewegung in den Gemeinden war jetzt sehr stark. Sie ging von den großen und kleinen Dörfern, den Weilern aus, von den indigenen Gemeinschaften, wo die Leute sich in großer Zahl organisiert und die Bergbauunternehmen zurückgewiesen haben. Auch die compañeros von der Landbewegung haben’s drauf. Vor ihnen hat der US-Botschafter Angst, vor ihnen sehr wohl! Aber vor den Gewerkschaften? Nein! Nichts dergleichen… das sind bloß kleine Grüppchen. Wenn sie aber die Bauern sehen, die alle vier Himmelsrichtungen des Landes blockieren können, dann wirkt das. Das wirkt. Allerdings ist es riskant. Es ist gefährlich, weil wir nicht wissen, was passieren kann. Es könnte aber auch der Ausgangspunkt für eine Krise werden, die zu einem tieferen Nachdenken führt und dazu, dass einige Übereinkommen für die Zukunft erreicht werden.

Leider scheitert jedoch alles am System der politischen Parteien. Das Volk kann zwar da sein, wenn es jedoch keinen Kommunikationskanal hat, dann wird es auch nicht zu Wort kommen. Genau das ist das Problem.

Historisch betrachtet haben wir immer gedacht, unser Sprachrohr wäre die URNG, weil wir für dieselben Ziele gekämpft haben. Vor 20 oder 30 Jahren haben wir für bessere Lebensbedingungen gekämpft, für eine Verbesserung der materiellen Umstände, der spirituellen, für das Leben eines Volkes. Aber… Wir brauchen eine Regierung, die auf die sehnlichsten Hoffnungen und dringendsten Bedürfnisse des Volkes reagiert. Es wird schwierig, eine solche Regierung zu bekommen. Stattdessen wird es eine Regierung sein, die die kommerziellen Interessen der Unternehmer, die auf dem Markt tätig sind, repräsentiert. Nicht jedoch die Entwicklung des Volkes. Es wird keine Veränderung für all die Kinder geben, die an Hunger sterben, an Unterernährung. Die Arbeitslosigkeit, die Wohnraumsituation, die Arbeitsbedingungen, die Landfrage, alles strukturelle Dinge – dafür wird es keine Änderungen geben. Es gibt viel Ungewissheit und es ist möglich, dass die Situation sich in dem Maß zuspitzt, in dem die Bevölkerung ihre Angst überwindet und sich verbündet. Alle Bewegungen könnten sich vereinen und das gesamte Land könnte in eine echte Krise geraten, in der die Wirtschaft Guatemalas gelähmt werden könnte. Das wird das Ergebnis sein, die Konsequenz (des Handelns) derer, die das immer weiter provozieren. Sie richten großen Schaden an, eine tiefgreifende soziale Zerrüttung. Es ist schlimm. Eine Regierung, die nicht in der Lage ist, den Grad der sozialen Bedürfnisse einzuschätzen… Es gibt soziale Unruhen in Guatemala. Es gibt einen sozialen Aufstand in Guatemala, der jedoch sehr punktuell ist – mal hier, mal dort.

Nach dem Mord an Pepe Méndez: Hungerstreik seiner Eltern - Foto: Andreas BouekeQUETZAL: Seit Januar hast du ein Amt inne. Du hast eine neue Herausforderung als Beauftragter des Menschenrechtsombudsmanns für die Umsetzung der Friedensabkommen angenommen. Wenn man sich die Gesamtsituation anschaut – hat so ein Job für eine staatliche Institution dann wirklich Sinn?

AM: Doch. Ich bin mir bewusst, dass wir aus unseren Erfahrungen heraus viel beitragen können. Aus unserem Engagement heraus können wir etwas beitragen, um dieses Vakuum zu füllen. Ganz allmählich. Ich weiß, dass es schwierig ist, weil das nicht allein die Aufgabe einer einzelnen Einheit ist, die die Einhaltung der Friedensverträge überwachen soll, sondern die Aufgabe aller gesellschaftlichen Sektoren. Und den größten Teil hat natürlich die  Regierung für die Umsetzung der Friedensverträge beizutragen. Aber ich habe das Amt, zusammen mit einem Team, akzeptiert. Ich bin ihr Chef und möchte eine Reihe von Aufgaben mit ihnen umsetzen.

QUETZAL: Das betrifft hauptsächlich den Bildungsbereich?

AM: Ja, das betrifft die Erziehung und Ausbildung, damit die eigene Geschichte in Guatemala nicht länger unbekannt bleibt. Ich gebe Kurse an der Akademie der zivilen Nationalpolizei, wo meist junge Leute sind, die von nichts wissen. Buchstäblich nichts! Und ich habe entdeckt, dass ihre Mentalität entsprechend ist. Ich werde bis November dort arbeiten, in der Polizeischule. Ich bin alle zwei Wochen den ganzen Freitagvormittag dort. Seit ich im Februar damit begonnen habe, ist mir eine Sache besonders aufgefallen, die mich an die Achtziger in Guatemala erinnert hat. Die Akademie ist sehr groß, sie haben ein enorm großes Gelände. Ich kam einmal sehr früh dort an und habe sie in Gruppen exerzieren sehen, wie in einer Kaserne: “Pa! Pa!” Und die Parolen sind fast die gleichen wie im Krieg. Ihr Ausbilder marschiert voraus und ruft: “Wir ziehen in den Krieg!” und alle brüllen: “Wir ziehen in den Krieg!”. Ay! Das ist doch schrecklich. Das hat viele Erinnerungen bei mir geweckt, denn im Quiché war es genauso. Die Art und Weise, wie Terror verbreitet wurde: Sie marschierten um zwei Uhr morgens oder um drei ins Dorf, die Soldaten mit ihrem Leutnant, oder wer das auch war, und er sagte: “Es lebe der Kommandant!” Und alle: “Es lebe der Kommandant!” – “Als Kämpfer!” – “Als Kämpfer!”. Und jetzt sprechen sie wieder vom Krieg… Ich habe vor, ein Gespräch mit dem obersten Polizeichef und mit dem Direktor der Akademie zu vereinbaren, um rauszufinden, was die da für eine Doktrin haben. Was unterrichten sie da überhaupt? Bilden sie da Leute für den Krieg in Guatemala aus oder Leute für eine Kultur des Friedens? Die Polizisten müssen demokratisch eingestellt sein und ein der Demokratie angemessenes Verhalten an den Tag legen.

QUETZAL: In Bolivien gibt es etwas wie ein Langzeitgedächtnis, ein kollektives Gedächtnis der Gesellschaft oder von sozialen Bewegungen. Gibt es so etwas auch in Guatemala: Ein historisches Gedächtnis kollektiver Erfahrungen?

AM: Nein. Es ist traurig, aber in Guatemala gibt es kein historisches Gedächtnis. Als ich mit einigen jungen Leuten in der Akademie gesprochen habe, sagte mir eines Tages einer von ihnen: “Sehen Sie, ich dachte, dass sie von einem anderen Land gesprochen haben”. Ich hatte erst gar nicht kapiert, dass es für die Jugendlichen schwierig war, überhaupt zu erfassen, dass diese Ereignisse in Guatemala passiert sind.

QUETZAL: Ich denke, dass dies ein wichtiger Grund für die Krise ist…

AM: Ja, es ist in der Tat schrecklich, aber durch meine Erfahrungen aus den vielen Jahren bin ich zu der Einsicht gekommen, dass es die höchste Stufe ist, wenn man eine Gesamtsituation aus historischer Sicht versucht zu verstehen. Wir sind weiterhin eine Kolonie der USA und die Gringos sind daran interessiert uns im Griff zu haben. Es gibt keine menschenrechtlichen Fortschritte, keine soziale Demokratie, wirtschaftliche Demokratie – weil es die Gringos nicht zulassen. Im Jahr 1954 haben sie interveniert, haben den Krieg unterstützt, aber jetzt wollen sie nicht helfen. Der US-Botschafter ist ein Prokonsul geworden. In Guatemala haben wir leider unsere nationale Würde verloren. Wir haben kein Staatskonzept mehr und auch kein Konzept von Souveränität. Und die Staatsbeamten auch nicht. Das ist sehr traurig und heikel.

QUETZAL: Und keiner stellt sich dem entgegen?

AM: Das müssten die Politiker sein, die Durchblick und Verantwortungsbewusstsein haben, es müssten die Akademiker sein, die Universitäten, wir – die Zivilgesellschaft – die gemeinsam den Respekt für unsere nationale Würde einfordern sollten. Das gibt es aber nicht. In letzter Zeit sind wir – und das gilt  nicht nur für Guatemala, sondern auch für El Salvador, Honduras, ganz Zentralamerika – nach Haiti die am meisten zerrütteten Länder, in denen sich die Gesellschaft mittlerweile nicht mehr in jene unterteilt, die besitzen und jene, die nichts besitzen, sondern jetzt unterteilt sie sich in jene, die nichts besitzen und jene, die nicht schlafen. Diejenigen, die nicht schlafen, schlafen nicht, weil sie Angst haben, dass diejenigen, die nichts besitzen, sich eines Tages erheben könnten.

QUETZAL: Gibt es Hoffnung für die Zukunft?

AM: Es gibt immer Hoffnung. Manchmal verbergen sich in den Krisen selbst die Lösungen. Manchmal bringen uns die Krisen enger zusammen. Wenn es eine Krise gibt, müssen wir uns wieder zusammenfinden und um ein gemeinsames Ziel vereinen. Und einen gemeinsamen Nenner finden.

QUETZAL: Bis jetzt fehlt dafür aber ein politischer Fokus, nicht wahr?

AM: Ja, es gibt keinen Kanal zur Meinungsäußerung für die Mehrheit in Guatemala.

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[4] Evo Morales – erster indigener Präsident Südamerikas; 2005 und 2010 mit großer Unterstützung der sozialen Bewegungen gewählt.

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Transkription: Stella Thuns

Übersetzung aus dem Spanischen: Enrico Nake

Bildquellen: [1] Anne Stolmar; [2] Andreas Boueke_

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