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Chiapas/Mexiko: Schrei nach Freiheit

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Am Neujahrstag rückte Chiapas, der südlichste Bundesstaat Mexikos, in den Blickpunkt einer überraschten Öffentlichkeit. Ein bis dahin unbekanntes „Zapatistisches Heer der Nationalen Befreiung“ (Ejercito Zapatista de Liberación Nacional) besetzte im Handstreich mehrere Städte, darunter San Cristobal de las Casas, die zweitgrößte Stadt des Bundesstaates. Die wichtigsten staatlichen Insitutionen wurden besetzt und teilweise zerstört. Die Aufständischen näherten sich sogar bis auf 16 Kilometer der Landeshauptstadt Tuxtla. In öffentlichen Erklärungen machten sie die Bevölkerung mit ihren wichtigsten Forderungen bekannt: Maßnahmen gegen die soziale Misere, Verteilung des Grundbesitzes über 100 ha an landlose und landarme Campesinos, Absetzung der Regierung und freie Wahlen.

Mit 12. – 14.000 Mann, immerhin mehr als ein Zehntel der Gesamtstärke, gelang es den anfänglich offenbar überraschten mexikanischen Streikräften nach mehrtägigen schweren Kämpfen, die besetzten Ortschaften zurückzuerobern. Die auf 2.000 Mann geschätzten Aufständischen zogen sich kämpfend in die dicht bewaldeten Berge zurück. Journalisten berichteten nach der Einnahme von Ocosingo durch die Armee von zahlreichen Guerrilleros, die durch Kopfschüsse und mit gefesselten Händen hingerichtet worden waren. Obwohl die Armee von einem Sieg spricht, werten Beobachter wie Salvador Castaneda, Direktor des Zentrums für Historische Forschungen über bewaffnete Bewegungen, die Aktion als propagandistischen Erfolg der Zapatistas und ihren Rückzug als geplante strategische Operation. Der Zeitpunkt der Aktion war nicht zufällig gewählt. Am l. Januar trat auch das Freihandelsabkommen zwischen Mexiko, Kanada und den USA in Kraft. Schon vorher war klar, daß vor allem die armen mexikanischen Kleinbauern und Landarbeiter zu den Verlierern der neuen Wirtschaftsära gehören werden. So nimmt es nicht Wunder, daß sich die Zapatistas ausdrücklich gegen NAFTA wenden. Für den mexikanischen Präsidenten Salinas sind die bewaffneten Unruhen im Süden ein herber Rückschlag in seinen Bemühungen, den Investitionsstandort Mexiko mit Verweis auf seine langjährige politische Stabilität dem internationalen Kapital anzupreisen.

Erst im März 1992 waren dreihundert Angehörige der Tzeltales, Choles, Tzoltiles und Tojolabeles, Nachkommen der Maya, nach Mexiko-Stadt marschiert, um gegen Armut und Unterdrückung zu protestieren. Drei Monate vorher hatten sich 500 Indianer in der alten Maya-Stadt Palenque versammelt, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Die Behörden reagierten mit der Verhaftung von hundert Teilnehmern dieser friedlichen Aktion. Eine deutliche Warnung an die Regierung war eine bewaffnete Aktion im Mai 1993, bei der zwei Armeeoffiziere von Guerrilleros getötet wurden. Daß nun, nach 20 Jahren, erstmals wieder eine Guerrilla in Mexiko aktiv wird, kam angesichts der Situation in Chiapas kaum überraschen. Chiapas gilt als die ärmste und konfliktreichste Region in Mexiko und ist auch der einzige Bundesstaat mit indianischer Bevölkerungsmehrheit. In wichtigen sozialen Kennziffern liegt Chiapas weit unter dem nationalen Durchnitt. Der soziale Hauptkonflikt ist die Agrarfrage. Der Boden ist in den Händen weniger Großgrundbesitzer konzentriert. Von der vielgerühmten mexikanischen Agrarreform, die vielen Campesinos und Dorfgemeinden eine eigene Existenzgrundlage schuf, blieb Chiapas faktisch unberührt. So wurden 1969 zwar viele Großgrundbesitzer entschädigt, es gelang ihnen aber mit Tricks, Bestechung und Gewalt, auf ihrem Land zu bleiben. Seit Mitte des Jahrhunderts waren die hauptsächlich indianischen Bauern gezwungen, in den 15.000 Quadratkilometer großen Urwald an der guatemaltekischen Grenze auszuweichen. In Chiapas gibt es gegenwärtig über 600 Konflikte, in denen mehr als 15.000 indianische Bauern ihren Anspruch auf 300.000 ha Land einfordern. Verschärft wurde die Situation dadurch, daß die Regierung in Vorbereitung des NAFTA-Beitritts im Dezember 1992 den Artikel 27 der Verfassung, in dem die Agrarreform verankert ist, faktisch abschaffte.

Geographische Lage, Geschichte und Tradition – Chiapas kam erst vor 170 Jahren von Guatemala zu Mexiko – Brisanz und Gewicht der Agrarfrage, die ethnische Zusammensetzung und nicht zuletzt die über 100.000 Flüchtlinge aus Guatemala und El Salvador verbinden Chiapas in vielem mit Zentralamerika, insbesonders mit dem Nachbarland Guatemala. Seit dem Auftauchen der Zapatistas macht nun endgültig das Wort von der „Guatemalisierung“ die Runde im Süden Mexikos.

Von den Verteidungsministern El Salvadors und Guatemalas, deren Armeen jähre- und jahrzehntelang die Aufstandsbekämpfung gegen eine starke und militärisch nicht geschlagene Guerrilla probten, wird die Gelegenheit genutzt, um der mexikanischen Regierung ihre einschlägigen Erfahrungen und „freundschaftliche Zusammenarbeit“ anzubieten. Die Ereignisse im Süden Mexikos hatten besonders bei der indianischen Bevölkerung eine tiefe Resonanz. So bekundete der Chef der bolivianischen Bauerngewerkschaft CSUTCB, Humberto Quispe, die solidarische Unterstützung der Indios Boliviens, die 50% der Bevölkerung ausmachen, für ihre mexikanischen Brüder. Von der mexikanischen Regierung forderte er, die sozialen Probleme zu lösen, anstatt auf die militärische Lösung des Konflikts zu setzen. Der Sprecher der Organisation „Ecuarunari“ (Ekuador), Manuel Yuco, deutete den Aufstand in Chiapas als „soziale Reaktion auf die neoliberalen Entwicklungsmodelle“, die von den lateinamerikanischen Regierungen im letzen Jahrzehnt durchgesetzt wurden, und kündigte an, daß ähnliches in Ekuador und anderen Ländern der Region möglich sei. Auch in Mexiko selbst befürchtet man, daß sich die Protestbewegung auf andere Bundesstaaten ausdehnen könnte. Die linke Oppositionspartei PRO sieht sogar die Möglichkeit, daß die im August anstehenden Wahlen in Mexiko unter den Bedingungen des Ausnahmezustands durchgeführt werden.

Der Aufstand in Chiapas hat deutlich gemacht, daß die angestauten sozialen und ethnischen Probleme mit dem etablierten politischen System auf friedliche Weise kaum zu bewältigen sind.

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