Für das Foto muss der Federschmuck und die Gesichtsbemalung her – Ládio Veron ist einer der Anführer der ethnischen Gruppe der Guaraní-Kayowá, die gerade ums Überleben kämpft. Er hat sich auf den Weg gemacht, um die Interessen seines Volkes in Europa bekannt zu machen. Denn im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul, wo die traditionellen Gebiete seines Stammes liegen, sind seit über 30 Jahren verfassungsmäßig garantierte Landrechte nicht geklärt. Inzwischen überziehen Soja- und Zuckerrohrfelder das Land, und der Staat tut nichts dagegen. Bestenfalls mag man der Regierung vorwerfen, dass sie sich aus taktischen Gründen untätig verhält. Am 30.04.2017 sprach Ládio Veron in Leipzig über den Anfang, die tragischen Höhepunkte und potentielle Wege aus dieser Krise.
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Quetzal: Leipzig ist Ihre erste Station auf einer Reise durch ganz Europa. Worin besteht Ihr Anliegen?
Ládio Veron: Ich bin heute in Leipzig und reise durch mehrere Länder Europas, um von der Situation der Guaraní-Kaiowá in Mato do Grosso do Sul zu erzählen. Wir setzen uns derzeit mit dem brasilianischen Staat und den Agrargroßunternehmen auseinander. Dabei erleiden wir viel Gewalt, man kann sogar von einem Völkermord sprechen. Die Situation ist die, dass Agrarunternehmen in Gebieten expandieren, die gesetzlich an uns überschrieben sind. Dabei machen sie die Wälder kaputt, zerstören die Flüsse und töten jegliche Fauna. Wir Indigenen werden so von unserem eigenen Land vertrieben und leben nunmehr seit acht Jahren sozusagen am Wegesrand – auf einem kleinen Territorium, das wir besetzt halten.
Wie kam es zu dieser Situation?
Im Jahr 1953, während der zweiten Regierungszeit von Getúlio Vargas, gab es eine große Vertreibung aus den Gebieten, die uns zuvor zugewiesen worden waren. Diese endete teilweise in Massakern. In jenem Jahr wurde auch der SPI (Serviço de Proteção ao Índio) gegründet – offiziell natürlich, um die Indigenen zu beschützen. Doch in Wahrheit brachte der SPI die Indigenen genauso um, wie die paramilitärischen Truppen der Regierung es taten. 1963 wurde diese Institution in FUNAI (Fundação Nacional do Índio) umbenannt. Die FUNAI, die heute noch existiert, ist also der direkte Nachfolger des SPI und hatte bis 1980 dieselbe Funktionslogik wie dieser inne.
Die Situation war damals sehr schlecht, gerade unter der Militärdiktatur erlitten wir indigenen Völker viele Massenmorde. Erst 1980 begann sich Widerstand zu organisieren, und wir brachten unsere ersten Anführer hervor, die den Kampf um unsere Territorien aufnahmen. Damals wurde eine große indigene Versammlung einberufen, und wir organisierten Proteste, um unser Land wiederzubekommen. 1988 endet schließlich die Militärdiktatur, und in Brasilien wurde eine neue Verfassung auf den Weg gebracht. Diese Verfassung garantiert uns Indigenen, dass wir ein Recht auf unsere Gebiete haben. Fünf Jahre wurden damals angesetzt, um die Gemarkung der Gebiete voranzutreiben und die offizielle Übergabe der Eigentumstitel zu organisieren. 1993 wäre diese Frist abgelaufen. Doch seitdem ist nichts dergleichen geschehen.
Wir kämpfen also schon seit 1980 um die Anerkennung dieser Gebiete. Doch inzwischen ist die Regierung dazu übergangen, dieses Land an Großgrundbesitzer und an Akteure des internationalen Agro-Business zu verkaufen. Die haben nun dort ihre Plantagen angelegt: Sie pflanzen Soja, Eukalyptus, Zuckerrohr und legen Weiden für Rinder an … Dabei verschmutzen sie die Erde und holzen den Wald ab. Wir warten noch heute darauf, dass die Regierung uns unsere Ländereien offiziell zuspricht. Und während wir warten, vollzieht sich ein Mord nach dem anderen; während wir warten, leben wir unter widrigen Umständen am Wegesrand, während wir warten, wird einer unserer Anführer nach dem anderen getötet. Inzwischen sind es schon 385. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen, die die Pflanzenschutzmittel und Chemikalien haben, die auf diese Felder gesprüht werden.
Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur brasilianischen Mehrheitsgesellschaft beschreiben?
Wir erfahren heute viel Verfolgung und Bedrohung. Wenn wir in die Stadt gehen, sehen wir da kleine Schildchen an einigen Restaurant-Türen hängen, auf denen steht: „Indigenen ist der Eintritt verboten“. Wir können nicht einfach so in die Läden gehen, um etwas einzukaufen. Wir fühlen uns sehr schutzlos und verlangen im Allgemeinen eine Entschädigung von Seiten der Regierung. Geld wollen wir aber nicht – wir wollen unser traditionelles Stammesgebiet zurück, um uns eine Zukunft aufzubauen.
Trotz all des Leides, das wir aus Ihren Worten hören können – gibt es für Ihr Volk auch glückliche Tage, und wie würden Sie einen solchen beschreiben?
Wir haben innerhalb des großen Gebietes, das wir beanspruchen, ein kleines Stück Land besetzt, auf dem wir leben und das wir wieder aufgeforstet haben. Hier führen wir unseren traditionellen Lebensstil fort: Wir sprechen unsere Sprache. Wir singen unsere Gesänge. Wir bewirtschaften den Boden. Wir Guaraní-Kayowá glauben, dass alles von der Mutter Erde kommt. Ein Baum ist unser Bruder. Durch die Wiederaufforstung des kleines Stück Landes, das wir haben, spüren wir wieder sehr lebendig die enge Beziehung, die zwischen uns als Volk und der Mutter Erde besteht. Wir widmen ihr Gesänge – dem Regen, dem Wald, den Vögeln, der Sonne, dem Mond, den Blitzen… Nur Dank der Mutter Erde haben wir all dies. Und das gibt uns die Stärke, auch mir persönlich, weiterzumachen, und zum Beispiel diese Reise nach Europa zu unternehmen.
Ein Großteil Ihrer Probleme als indigenes Volk in Brasilien resultiert aus dem Konsumismus unserer westlichen Gesellschaft. Im Umkehrschluss könnte das heißen, wenn wir hier in Europa, den USA oder anderswo weniger konsumieren würden, dann wären vielleicht Ihre Probleme gelöst. Wie würden Sie aber die Menschen hier davon überzeugen?
Eine Strategie, die wir auch mit unserer Reise nach Europa umsetzen wollen, besteht darin, ein Netzwerk zu schaffen. Dieses Netzwerk soll Beobachter nach Brasilien entsenden, um die Produktionsbedingungen der Konsumartikel hierzulande zu dokumentieren. Dieses Wissen soll dann an europäischen Universitäten und Schulen verbreitet werden. Unsere zweite Strategie wäre, alle Banken zu boykottieren, die dieses großflächige Agro-Business auf unserem Land ermöglicht. Auch dazu muss wiederum Wissen produziert und Bewusstsein geschaffen werden.
Was denken Sie, ist der Grund für das brutale Vorgehen des Agro-Business und die – nennen wir es mal so – Gleichgültigkeit der brasilianischen Regierung? Was muss Ihrer Meinung nach geschehen , damit eine Verbesserung der Situation Ihres Volkes eintritt?
Ich denke, dass ökonomische Interessen von Seiten der Großgrundbesitzer, der multinationalen Konzerne und des brasilianischen Staates der Motor für dieses Vorgehen sind. Man möchte diese Gebiete einfach nutzen, um wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen. Nachdem die Regierung viele staatseigene Unternehmen verkauft hat, muss sie schauen, wie sie auf andere Weise zu Geld kommt… Es ist wirtschaftlich nicht von Relevanz, wie gut oder schlecht es uns Indigenen geht. Damit es wirklich eine Veränderung im Land gibt, muss man sozusagen das „Gehirn“ des Landes ändern. Wir müssen die Jugend dazu bringen, eine Regierung zu wählen, die für alle sorgt.
Das Interview führten Hanna-Lena Roth, Gerardo Lerma und Laura Wägerle.
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Bildquelle: Klimabündnis Österreich_