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Ich habe viel gearbeitet – Zum 95. Geburtstag von Joan Jara

Gabi Töpferwein | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

95 Jahre sind wahrlich ein gesegnetes Alter, fast ein Jahrhundert gelebte Lebenszeit. Heute, am 20 Juli, wird Joan Jara 95 Jahre alt. Befragt, ob sie denn mit ihrer Karriere zufrieden sei, antwortete sie sie zustimmend; das war im letzten Jahr.

„Ich habe viel gearbeitet. (…) Ich habe dazu beigetragen, dass hier eine Bewegung von vielen Menschen entstanden ist. Ja, es ist schön.“

Mit ihrer Arbeit war ihr jahrzehntelanges Wirken als Tänzerin, Tanzpädagogin und Choreographin gemeint. Die Interviewerin interessierte sich explizit für die Karriere der Joan Jara und nicht so sehr dafür, dass sie die Witwe des Liedermachers Víctor Jara ist. Obwohl diese Tatsache ihr Bild, auch im internationalen Rahmen, stärker geprägt hat als ihre Arbeit als Tänzerin und Lehrerin, wollen wir uns hier dieser Sichtweise anschließen. Und verweisen auf Joan Jaras Buch „Víctor. Ein unvollendetes Lied“, das diesen anderen wichtigen Aspekt ihres Lebens viel besser darstellt, als wir das könnten. Wir nehmen uns ihren 95. Geburtstag zu Anlass, ihre große Bedeutung für die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes in ihrer Wahlheimat Chile zu würdigen.

Joan Jara, geboren in London als Joan Alison Turner, war Mitte der 50er Jahre mit ihrem ersten Mann, dem chilenischen Tänzer und Choreographen Patricio Bunster, nach Chile gekommen. Als Tänzerin war sie geprägt vom deutschen expressionistischen Tanz. Sie war eine Schülerin von Sigurd Leeder, einem deutschen Tänzer und Choreographen, der mit seiner Sigurd Leeder School of Dance in London der Nachkriegszeit ebenso wie mit seiner Tanzgruppe einen großen Einfluss auf die Entwicklung des modernen Tanzes in der britischen Hauptstadt hatte. Wenige Jahre später wurde sie Mitglied der Tanzkompagnie von Leeders langjährigem Partner Kurt Jooss. Dort lernte sie Patricio Bunster kennen. Als Jooss’ Truppe sich auflöste, ging das Paar, inzwischen verheiratet, nach Chile. Dort trat sie dem Nationalballett bei und übernahm sehr schnell herausragende Rollen, so z.B. die Frau in Rot in Ernst Uthoffs „Carmina Burana“ oder die Mutter in Patricio Bunsters „Calaucán“. Parallel begann sie sehr bald auch als Tanzpädagogin an der Tanzschule der Universität Chile zu arbeiten. Sie gab u. a. Kurse für angehende Schauspieler, zu ihren Schülern gehörte auch der Schauspielstudent Víctor Jara.

„Inzwischen gab ich das Körpertraining an der Schule. Ich hatte die Studenten von Víctors Semester in ihrem zweiten Jahr. ich erinnere mich an sie als eine besonders begabte Gruppe und an Víctor als den Besten.“

Später baute sie den Studiengang Pädagogik des Kindertanzes an der Universität Chile auf und übernahm dessen Leitung. Es war ihre Überzeugung, dass das Tanzen zur Bildung besserer Menschen beitragen kann.

joan_Jara_graffito_foto_duncan_c„Es ist nur so, dass jeder Mensch, der tanzen will, seine Seele hineinstecken muss, und wenn er keine Seele hat, dann glaube ich nicht, dass er jemals tanzen wird. Es ist sehr traurig, aber so ist es nun einmal.“

Zusammen mit dem Tänzer Alfonso Unanue gründete sie 1970 das Ballet Popular. Unter dem Motto „Tanz ist für alle“ wollten sie diese Kunstform aus ihrem elitären Elfenbeinturm herausholen. Das Ballet Popular trug den „Geist der Unidad Popular in sich“, die Truppe war Teil einer breiten künstlerischen Bewegung, die den Wahlkampf von Salvador Allende und später die Regierung der Unidad Popular unterstützte. Sie spielte in den entlegensten Regionen des Landes – in Gemeindezentren und auf Sportplätzen. In verschiedenen Poblaciones Santiagos wurden Kindertanzschulen als Zweigstellen des Ballet Popular eröffnet.

„Ich finde, dass chilenische Kinder sehr großzügig zeigen, was sie können, und sehr enthusiastisch sind.“

Der faschistische Putsch im September 1973 beendete diese Entwicklung abrupt.

Erst allmählich entstanden in Chile wieder verschiedene Tanzkompagnien, die neue Formen des politischen und experimentellen Tanzes entwickelten. Sie alle waren stark vom Ballet Popular beeinflusst, die Arbeit von Joan Jara wirkte nach. Sie selbst kehrte Anfang der 80er Jahre aus dem Londoner Exil nach Chile zurück und wurde Teil dieser Aktivitäten. In Concepción gründete sie mit ihrer Tochter Manuela Bunster die Compañía de Danza Calaucán und 1985 zusammen mit Patricio Bunster das Centro de Danza Espiral. Dieses gab im Café de Cerro in Santiago Tanzkurse und koordinierte sich auch mit anderen Gruppen. Den Tanz nannte Joan einmal eine Form des Widerstands ohne Worte, die nur schwer zensiert werden könne, aber im Chile unter der Pinochet-Diktatur nicht ungefährlich war. Patricio Bunster erhielt Morddrohungen, der Tanzsaal im Café de Cerro wurde bei einem Bombenanschlag zerstört.

„Ich habe hier Menschen gefunden, die auf die gleiche Weise arbeiten und sich ausdrücken, aber man musste sie suchen.“

Um abschließend doch noch einmal auf das Buch „Víctor. Ein unvollendetes Lied“ zurückzukommen. Joan Jara berichtete drin, dass sie bereits vor ihrer Ausreise aus Chile Vorkehrungen getroffen hatte, Bücher und Schallplatten aus dem Land zu bringen, um das Erbe von Víctor Jara zu bewahren; schlussendlich sah sie darin eine der wichtigsten Aufgaben während ihres Exils.

Nachdem sie nach Chile zurückgekehrt war, verfolgte sie zunehmend das Ziel einer Institutionalisierung des Nachlasses ihres Mannes. Im Jahr 1993 konnte sie zusammen mit ihren Töchtern die Fundación Víctor Jara gründen. Diese kümmert sich um die Rechte an Jaras Musik und betreibt ein Víctor-Jara-Archiv. Darüber hinaus versteht sich die Stiftung nicht nur als eine Institution, die das Werk Jaras erhält und bekannt macht, sondern generell als ein Ort der Bildung und Kultur, der Kulturveranstaltungen, Workshops etc. organisiert und ermöglicht.

Joan Jara ist bis heute die Direktorin der Stiftung; auch ihre Töchter Manuela und Amanda sind als Vizedirektorin und Schatzmeisterin nach wie vor in die Arbeit involviert. Zurzeit verfolgt die Stiftung das Projekt, das Stadion Chile, in dem Víctor Jara ermordet wurde und das heute seinen Namen trägt, als Gedenkort sowie als Kultur-, Bildungs- und Sportzentrum zu beleben. Aus diesem Grund bittet die Fundación Víctor Jara darum, das Stadion Víctor Jara an sie zu übertragen und Mittel bereitzustellen, um es in Betrieb nehmen zu können.

Übrigens: Anlass für das oben erwähnte Interview war die Verleihung des Premio Nacional de las Artes de la Representación y Audiovisuales im September 2021 an Joan Jara. Der Preis würdigt ausdrücklich „ihre Rolle als Schöpferin grundlegender Tanzschulen und ihre kraftvolle Arbeit bei der Dezentralisierung der Disziplin, indem sie ihre Kunst über die traditionellen Räume hinaus verbreitet und der Gemeinschaft näherbringt. Ihre Arbeit war von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes.“ Der Nationalpreis ist nur eine von vielen Auszeichnungen, die Joan Jara für ihre Arbeit zuteilwurden. Sie alle sind auch „ein Ausdruck der Zuneigung Chiles für jemanden, der dem Land so viel Zuneigung entgegengebracht hat.“ Die chilenische Regierung hatte der gebürtigen Engländerin bereits 2009 die chilenische Staatsbürgerschaft verliehen, aus Dank.

Felíz cumpleaños, Doña Joan!

 

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Quellen:

https://interferencia.cl/articulos/habla-joan-turner-sobre-su-premio-nacional-y-trayectoria-la-danza-es-una-forma-de

https://www.elclarin.cl/2021/09/08/joan-turner-obtiene-el-premio-nacional-de-artes-de-la-representacion-y-audiovisuales-2021/

https://fundacionvictorjara.org/

Jara, Joan: Víctor. Ein unvollendetes Lied. Volk und Welt Berlin 1986.

https://www.ila-web.de/ausgaben/422/der-k%C3%B6rper-als-waffe-des-widerstands

 

Bild: [1] duncan_cc

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