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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Die zwei Lieder des Sergio Ortega – Eine Hommage zu seinem 85. Geburtstag

Gabi Töpferwein | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

Yhtenäistä kansaa ei koskaan voi voittaa!

!برای زن، زندگی، آزادی بایستید

Örgütlü Bir Halkı Hiç Bir Kuvvet Yenemez!

La peuple uni jamais sera vaincu!

¡El pueblo unido jamás será vencido!

 

Die chilenische Journalistin Margarita Labarca forderte kürzlich ihre Landsleute auf, Sergio Ortega kennenzulernen und dafür zu sorgen, dass er künftig gebührend geehrt wird, nicht nur in Chile. Dabei äußerte sie bereits zu Beginn ihres Artikels die Vermutung, dass wohl kaum einer ihrer LeserInnen wissen dürfte, wer Sergio Ortega eigentlich sei. Hierzulande kann an diese Vermutung getrost als Feststellung formulieren.

Sergio Ortega? Ja, das ist doch der Mann, der die Musik von Venceremos und El pueblo unido geschrieben hat. Venceremos? El pueblo unido? Was ist das denn? Ja, lang ist’s her, in Deutschland kennt man zumeist nicht einmal die Lieder. Das unterscheidet uns grundlegend von den Chilenen. Sie kennen diese Lieder, auch wenn ihnen der Name des Komponisten nicht bekannt ist. Und dabei ist es vermutlich sogar egal, welcher politischen Richtung sie angehören.

Sergio Ortega Alvarado, der die Musik beider Liedern schrieb, wäre gestern 85 Jahre alt geworden; das ist auf jeden Fall ein guter Grund, dazu beizutragen, den Wunsch von Margarita Labarca Wirklichkeit werden zu lassen. Wer also war Sergio Ortega?

Geboren wurde er am 2. Februar 1938 in Antofagasta und er starb am 15. September 2003 in Paris. Er studierte Komposition, zunächst bei Roberto Falabella und dann bei Gustavo Becerra-Schmidt am Conservatorio Nacional de Música der Universität Chile. Danach arbeitete er u.a. sechs Jahre als Toningenieur im Experimentaltheater der Universität. 1969 wurde er Professor für Komposition am Konservatorium der Universität Chile. An dessen Abendschule gab er Kurse für Komposition und Harmonielehre. Zu seinen Abendschülern gehörten u.a. auch Musiker bekannter chilenischer Musikgruppen wie Los Blops, Inti-Illimani und Quilapayún. Später, im französischen Exil leitete er von 1983 bis 2003 die École nationale de musique Pantin, wo er natürlich auch unterrichtete. In Pantin setzte er seine Arbeitsweise aus Chile fort, nämlich Musik für und mit den Menschen zu machen.

Aber, um zu Chile zurückzukehren: Ortegas Einfluss auf die Entwicklung des Neuen Liedes war vielfältig; er prägte sie mit seiner Musik ebenso wie mit der Ausbildung junger Musiker. Irgendwo habe ich gelesen, Sergio Ortega sei so etwas wie der Vater des Neuen Chilenischen Liedes. Na ja, die Fantasie von Journalisten & Co. ist oft wirklich eher gering. Man erinnere sich, dass Violeta Parra gemeinhin als die Mutter dieser Liedbewegung bezeichnet wird. Aber Ortegas Einfluss auf das Neue Lied und die chilenische Musik generell war zweifelsohne groß und sollte nicht unterschätzt werden.

Ortega war Mitglied der Kommunistischen Partei Chiles und soziales Engagement gehörte für ihn zur Arbeit eines Musikers. Er war ein Künstler, der den musikalischen Ausdruck nicht losgelöst von seinen sozialen Umständen und Ursachen betrachtete. Diesem Credo entsprechend brachte er sich mit seiner Musik in die sozialen Kämpfe ein und engagierte sich ab 1970 aktiv für die Regierung der Unidad Popular. Nach dem Sieg Allendes übernahm er z.B. die Leitung des Fernsehsenders der Universität von Chile; diese Arbeit wurde erst durch den Putsch im September 1973 beendet. Er war dann gezwungen ins Exil zu gehen, bis zu seinem Tod lebte er in Frankreich.

Sergio Ortegas musikalisches Schaffen war sehr breit, sowohl was die Genres als auch die musikalischen Stile betrifft. Er hielt sich für viele musikalischen Formen und Ausdrucksweisen offen, was nicht bei allen Zeitgenossen auf Verständnis stieß. Er schrieb sinfonische und Kammermusik, Opern, Kantaten, Musik für Filme und Theaterstücke. Zu nennen wären hier die Kantaten Canto General von Neruda, für die er zusammen mit Gustavo Becerra-Schmidt die Musik schrieb, oder Fulgor y Muerte de Joaquín Murieta, ebenfalls nach Neruda, die er dann später zu einer Oper erweiterte. Nicht zu vergessen seine mehr als zehn Opern, so z.B. Pedro Páramo nach Juan Rulfo und das dreiteilige Opernwerk Les deux mères über die Französische Revolution mit Texten des französischen Dichters Frances Combes. Letztere entstand in Frankreich. Seine Filmmusik umfasst die Arbeit für den Klassiker des chilenischen Kinos El chacal de Nahueltero von Miguel Littin und den französischen Film La communion solennelle von René Féret ebenso wie Dokumentationen. Ortega arbeitete lange Zeit sehr eng mit dem Studio H&S (Heynowski & Scheumann) in der DDR zusammen und vertonte für dieses eine Reihe von Dokumentarfilmen (u. a. Ich war, ich bin, ich werde sein, Vietnam 1: Die Teufelsinsel, Vietnam 2: Der erste Reis danach). Und natürlich darf man seine Lieder nicht vergessen, die vor allem während der Zeit der Unidad Popular in Chile weithin bekannt waren: Canto al programa (1970, mit Luis Advis), Así como hoy matan negros, die Hymne der chilenischen Einheitsgewerkschaft CUT, die Hymne des Partido Radical Chiles und und und…

Ja natürlich, der Titel dieses Beitrags gibt ein komplett falsches Bild, denn Sergio Ortega hat weit mehr als nur zwei Lieder geschrieben. Aber zwei Lieder sind ohne Zweifel seine bekanntesten musikalischen Schöpfungen: Venceremos und El pueblo unido jamás será vencido. Diese scheinen inzwischen so etwas wie ein Eigenleben zu führen, abgelöst von ihrem Komponisten. Den hatte dies vermutlich nie gestört.

Das Lied Venceremos, allgemein bekannt als die Hymne der Unidad Popular (UP), entstand 1969/70; ganz genau ist das nicht mehr festzustellen. Die in der UP vereinten Linken suchten wohl ein passendes Lied und Sergio Ortega wurde gebeten, dieses zu komponieren. So entstand ein eingängiges Marschlied mit einem Text von Claudio Iturra. Wenig später schrieb Víctor Jara eine Version exklusiv für den Wahlkampf der Unidad Popular. Die bekanntere Version ist die mit Iturras Text, welche nach dem faschistischen Putsch im September 1973 um die Welt ging. Das Lied wurde international zum Symbol für die Solidarität mit Chile. Es existieren unzählige Versionen in zahlreichen Sprachen – in Finnisch, Türkisch, Italienisch, Koreanisch, Portugiesisch, Russisch, Deutsch… Allein in Deutsch gibt es mehrere Versionen, von denen vor allem die von Hans Georg Albig verbreitet ist. Diese entstand bereits vor dem Putsch; die ersten Interpreten waren vermutlich Inti-Illimani, die im Sommer 1973 bei den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin Venceremos auf Deutsch sangen (wie auf einem Videoportal zu sehen und zu hören ist). Bis heute taucht das Lied als musikalische Begleitung verschiedener Protestbewegungen in Chile, aber auch in anderen Ländern Lateinamerikas auf.

In weit stärkerem Maße trifft das auf Sergio Ortegas zweite große Hymne zu: El pueblo unido jamás será vencido. Dieses Lied entstand im Jahr 1973 nur wenige Monate vor dem faschistischen Putsch. Laut Sergio Ortega kam ihm die Idee zu dem Lied, als er einen Jugendlichen die Losung Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden rufen hörte. Die Losung, die übrigens auf eine Rede des 1948 ermordeten kolumbianischen Politikers Jorge Eliécer Gaitán zurückgeht, bildet den Refrain des Liedes, der nicht gesungen, sondern skandiert wird; das Lied selbst ist im Marschrhythmus gehalten, der sich zu dem Refrain hin steigert. Auch von diesem Lied gibt es zahllose Versionen in verschiedenen Sprachen, zu den interessantesten gehören die 36 Variationen für Klavier des US-Amerikaners Frederic Rzewski unter dem Titel The People United Will Never Be Defeated!

Eduardo Carrasco von der Gruppe Quilapayún erinnert sich, dass das Lied am Klavier entstand und sich gewissermaßen aus einem Sextett von Brahms heraus entwickelte. Sergio Ortega „fing an, das zu spielen und zu improvisieren, und plötzlich erschien mit denselben Akkorden dieses Sextetts die Melodie von El pueblo unido. (…) Wir haben den Text gemeinsam geschrieben. Da waren ich, Hernán Gómez, andere Freunde aus der Gruppe und Sergio. Und dort, am Klavier, setzten wir den Text zusammen.“ Erstmals aufgeführt wurde es im August 1973 bei einer großen Kundgebung von Frauen in Santiago de Chile.

Das Lied hat den unmittelbaren Anlass seiner Entstehung, die Gefahr für die Allende-Regierung in Chile, und hat sich als absolut zeitlos erwiesen. Es war bei den Studentenprotesten in Chile zu hören und auch bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen in Kolumbien, Peru und Argentinien. Im sogenannten arabischen Frühling wurde es ebenso skandiert wie bei den Demonstrationen der Gelbwesten in Frankreich, bei sozialen Protesten in Griechenland ebenso wie im Baskenland. El pueblo unido jamás será vencido ist ein universelles Lied geworden, dessen Intention in vielen Sprachen verstanden wird. Auch während der aktuellen Proteste im Iran wird das Lied gesungen; die iranische Freiheits-Hymne fordert im Refrain: Steht auf für Frau, Leben, Freiheit!

Sergio Ortega, so beschrieb es einmal Horacio Salinas von der Gruppe Inti-Illimani, „machte seine Revolution in der chilenischen Musik […]. Sergio haben wir es zu verdanken, dass die chilenische Musik zu einem großen Teil universell wurde.“

 

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Literatur:

https://www.biobiochile.cl/noticias/artes-y-cultura/musica/2019/10/26/el-pueblo-unido-jamas-sera-vencido-la-cancion-que-se-convirtio-en-el-himno-mundial-de-la-protesta.shtml

https://www.musicapopular.cl/artista/sergio-ortega/

https://es.wikipedia.org/wiki/El_pueblo_unido_jam%C3%A1s_ser%C3%A1_vencido

Bildquelle: [1, 2] Quetzalredaktion, gt

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