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Chile bewegt sich

Christine Schnichels | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Die „neuen“ sozialen Bewegungen in Chile

Chile: Kind demonstriert für bessere Bildung - Foto: Quetzal-Redaktion, Christine SchnichelsSeit die rechts-konservative Alianza unter Präsident Sebastián Piñera 2010 die Regierungsgeschäfte Chiles übernommen hat, häufen sich die sozialen Proteste im Land. Die Schüler- und Studentenbewegung hat international wohl am meisten Aufsehen erregt. Seit Mai 2011 besetz(t)en und bestreik(t)en sie Schulen und Universitäten, gingen und gehen zu Hundertausenden auf die Straße und lenk(t)en durch vielfältige andere Aktionen die Aufmerksamkeit auf sich. Viele Schüler und Studenten gruppieren sich in Kollektiven, organisieren Foren oder Debatten. Doch ihr Protest geht inzwischen weit über den Bildungssektor hinaus; immer öfter nehmen sie auch aktiv am politischen Geschehen ihres Landes teil. So kandidierten beispielsweise zahlreiche Schüler- und Studenten als Stadtrats- oder Bürgermeisterkandidaten bei den Kommunalwahlen am 28. Oktober 2012 [1].

Die Jugendlichen sind sich sicher, dass die chilenische Bildung nur dann wirklich verbessert werden kann, wenn es zu grundlegenden Veränderungen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen kommt. Entsprechend fordern viele der Protestierenden eine neue Verfassung oder zumindest eine weitreichende Verfassungsänderung, eine aktivere Rolle des Staates und eine stärkere Regulierung der Wirtschaft. Weiterhin möchten sie den chilenischen Reichtum radikal umverteilen, die soziale Ungleichheit vermindern und die natürlichen Ressourcen des Landes (v.a. Kupfer und Salpeter) verstaatlichen. Sie verlangen von ihrer Regierung, dass der Staat allen Bürgern die grundlegenden Rechte auf Bildung, Gesundheitsvorsorge, angemessene Arbeitsbedingungen und ein würdiges Wohnen garantiert. Ihrer Meinung nach profitieren nur transnationale Konzerne sowie einige wenige Politiker und Unternehmer aus der chilenischen Elite vom Reichtum Chiles [2].

Die Regierung hingegen geht kaum auf die Forderungen und Proteste im Land ein – oder sie redet permanent an den Schülern und Studenten vorbei. So schlagen Präsident Piñera und seine Minister zum Beispiel vor, das ärmste Fünftel der Bevölkerung finanziell zu unterstützen und herausragende Leistungen in Schule oder Universität zu belohnen. Der Bewegung geht es jedoch um Bildung als universales Recht. Im Allgemeinen möchten sie zahlreiche soziale Dienstleitungen für alle Bürger unabhängig von ihrer sozialen Herkunft oder ihrem gesellschaftlichen „Nutzen“ garantiert wissen. Staatspräsident Piñera sieht die Rolle des Staates hingegen ganz anders. Er möchte allen Chilenen dieselben Möglichkeiten geben, zu konkurrieren, und setzt dabei auf Individualismus. Folgende Begebenheit illustriert seine Anschauungen mehr als deutlich: Auf die Forderung nach kostenloser Bildung antwortete er: „Wir alle wollen Bildung, Gesundheitsversorgung und viele andere Dinge umsonst, doch ich will daran erinnern, dass nichts im Leben umsonst ist. Jemand muss dafür zahlen“ [3].

Chile: Salvador Allende immer gegenwärtig - Foto: Quetzal-Redaktion, Christine SchnichelsDieses neoliberale Staatskonzept wurde in Chile ab 1973 vom Militär unter General Augusto Pinochet eingeführt, nachdem der damalige sozialistische Staatspräsident Salvador Allende (Unidad Popular) mit einem Putsch gestürzt war. Während der 17 Jahre ihrer Diktatur schufen die Militärs zunächst eine auf Konkurrenz und Individualismus aufbauende Gesellschaft, in der jegliches soziales Gut zu einem käuflichen Produkt umgewandelt wurde. Seitdem ist es den Chilenen also nur möglich eine gute Bildung, Gesundheitsfürsorge etc. zu genießen, sofern sie bereit und auch in der Lage (!) sind, für sie zu zahlen. Zudem kam es zur Entpolitisierung der Zivilbevölkerung. Vor allem die linken Kräfte wurden von den Militärs verfolgt, verschleppt, gefoltert und sogar getötet. In diesem Umfeld der Tyrannei flüchteten sich viele politisch aktive Chilenen ins Exil oder zogen sich mit ihren politischen Aktivitäten ins Private zurück. Die sozialen Bewegungen wurden systematisch bekämpft und die ehemals starken Gewerkschaften extrem geschwächt.

Nachdem Chile in den achtziger Jahren unter wirtschaftlichen Problemen litt, hatte das autoritäre Regime sein Hauptversprechen des ökonomischen Fortschritts nicht einlösen können. Trotz der starken Repression kam es wieder vermehrt zu sozialen Protesten, so dass Pinochet schließlich einem Volksentscheid zustimmte, mit dem die Chilenen sich für die Fortsetzung des Regimes entscheiden sollten. Eine knappe Mehrheit der Menschen stimmte nach einer groß angelegten Werbeaktion für den bunten Zusammenschluss fast aller oppositionellen Kräfte, der Concertación de Partidos por el No (übersetzt: Koalition der Parteien für das Nein) – und damit gegen Pinochet [4].

Somit wurde der Weg frei gemacht für den so genannten „Übergang“ zur Demokratie. Dennoch wusste das Regime, wie es seine Macht und seine Ideologie weiterhin im Land erhalten konnte: Es kontrollierte die Transition hin zu einer formalen Demokratie, indem es die Bedingungen bestimmte und das neue politische System des Landes festlegte. Bis heute bestehen beispielsweise das binominale Wahlsystem und die während der Diktatur eingeführten Verfassung fort. Innerhalb dieser Bedingungen ist es sehr schwierig, substanzielle und strukturelle Veränderungen im Land durchzusetzen. Es ist auch für neue und kleinere politische Kräfte kaum möglich, am politischen Geschehen teilzunehmen. So müssen sich beispielsweise Parteien, die den Einzug ins Parlament über eine der zwei größten Listen nicht schaffen, aufgelöst und zu den kommenden Wahlen neugegründet werden.

Chile: Demonstranten kritisieren die enge Verbindung von Politik und Finanzkapital - Foto: Quetzal-Redaktion, Christine SchnichelsNach zwei Jahrzehnten unter der politischen Führung der Concertación wurden zwar einige autoritäre Enklaven (Überbleibsel) der Diktatur abgeschafft. Die grundlegenden demokratischen Einschränkungen und politischen Strukturen blieben jedoch weiterhin bestehen. Es hat sich auch nichts an der neoliberalen Ausrichtung der chilenischen Wirtschaft und der passiven Rolle des Staats im Bereich der sozialen Leistungen verändert. Letztendlich entfernte sich die politische Klasse des Landes immer weiter von der Zivilgesellschaft. Selbst die erstmalige Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die konservative Alianza unter Piñera brachte kaum Veränderungen. Für die Chilenen macht es keinen Unterschied, ob eine sozialistische Führung oder eine rechts-konservative Regierung die Wahlen gewinnt; denn im Resultat wird der neoliberale Kurs fortgeführt und sogar vertieft. Dadurch verstärkt sich die allgemeine Politikverdrossenheit, aber auch die soziale Unzufriedenheit. Es sei nebenbei erwähnt, dass Chile heute eines der Länder mit der höchsten sozio-ökonomischen Ungleichheit weltweit ist [5].

Nachdem sich jahrzehntelang nicht wirklich etwas im Land verändert hat, verstärken sich nun wieder die sozialen Proteste. Die Schüler- und Studentenbewegung hat Chile im August 2011 zu einem Wendepunkt gebracht. Damals fanden sich landesweit zeitweise mehr als 200.000 Menschen auf der Straße ein, um sich für eine öffentliche. kostenfreie und qualitativ hochwertigere Bildung einzusetzen. Singend forderten sie die Abschaffung der Überreste der Diktatur. So stimmten sie zum Beispiel bei jeder Massendemonstration an: „Und die Bildung Pinochets wird fallen, wird fallen“ und „Die Bildung verkauft man nicht, sondern man verteidigt sie!“.

Die Bewegung findet bei der großen Mehrheit der Bevölkerung Unterstützung und motivierte auch andere soziale Akteure, auf die Straße zu gehen, um ihre Interessen öffentlich zu vertreten und ihre Rechte einzufordern [3]. Zwar bleiben die Gewerkschaften in Chile weiterhin stark geschwächt; dennoch steigt die Zahl der Demonstrationen und politischen Aktionen. Seit die 33-jährige Kommunistin und Professorin Bárbara Figueroa im September 2012 zur neuen Präsidentin des chilenischen Dachverbands der Gewerkschaften CUT gewählt wurde, weht zudem ein neuer und vor allem „junger“ Wind bei den Gewerkschaftlern. Da Figueroa als Professorin auch Nähe zu der Schüler- und Studentenbewegung hat und insbesondere eine enge Beziehung zur kommunistischen Studentenführerin Camila Vallejo pflegt, werden sich beide Bewegungen wohl vermehrt zusammen artikulieren [6].

Auch die Grünen-Bewegung in Chile wird allmählich stärker. Die Grünen-Partei Partido Ecologísta kämpft seit Jahrzehnten vergeblich mit den bürokratischen Hürden, um in eine volksvertretende Versammlung zu kommen. Die Gegner des Mega-Staudammprojektes HidroAysén hingegen lenkten durch ihre Beharrlichkeit ungewohnt große Aufmerksamkeit auf sich und die stark kritisierte Umweltpolitik des Landes. Es bleibt weiterhin unklar, ob der Staudamm, der gravierende Umweltschäden verursachen würde, gebaut wird.

Chile: Proteste gegen das Staudammprojekt Hidroaysén - Foto: Quetzal-Redaktion, Christine SchnichelsDie seit Jahrhunderten kämpfenden indigenen Mapuche, die durch das Anti-Terror-Gesetz unter besonders starker staatlicher Repression leiden, protestieren seit Oktober wieder verstärkt. Wochenlange Hungerstreiks stellen keine Ausnahme dar. In Temuco, im Zentrum des Mapuche-Gebiets, demonstrierten im Oktober mehr als Tausend für die Freilassung politischer Gefangener sowie gegen ihre politische Diskriminierung und Misshandlung. Ein dauerhafter Konfliktpunkt mit der Regierung besteht zudem in der Landfrage. Den Mapuche wurde seit der Kolonisierung kontinuierlich Territorium weggenommen, und bis heute werden ihnen die übrig gebliebenen Gebiete nicht gänzlich anerkannt. Seit den Schüler- und Studentenprotesten sieht man die Mapuche auch zunehmend in der Hauptstadt auf der Straße. Sie marschieren zusammen mit den Schülern und Studenten, welche wiederum selbst Mapuche- und Aymara-Fahnen schwingen, um ihre Solidarität mit den ursprünglichen Völkern Chiles zu demonstrieren [8].

Zwar erweist es sich als äußerst schwierig, in Chile einen strukturellen und ernsthaften Wandel zu erreichen; und selbst die Schüler und Studenten können bisher keine wirklichen Erfolge verzeichnen, obwohl sie seit fast zwei Jahren regelmäßig auf die Straße gehen und Hunderttausende Chilenen mobilisieren. Dennoch hat bereits ein Wandel in den Köpfen der Menschen stattgefunden, die nun beginnen, das chilenische Staatsmodell anzuzweifeln. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich Chile – mit allen realen politischen Folgen – bewegt. Die landesweiten Kommunalwahlen am 28. Oktober haben bereits haben bereits ein deutliches Zeichen gesetzt: Während viele Wähler die rechts-konservative Regierung mit einem historischen Stimmverlust abstraften, entschieden sich andere aus Protest am Wahlsystem demonstrativ nicht wählen zu gehen. Eine solche Wahl mit ungefähr vierzig Prozent Wahlbeteiligung lässt stark an deren Legitimität zweifeln und zeigt, dass sich bis zu den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr noch einiges in der politischen Landschaft Chiles ändern sollte [1, 8].

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Quellen:

1. Cooperativa, 21. Oktober 2012, http://www.cooperativa.cl.
2. Movilizate (eine Homepage der Bewegung), www.movilizatechile.cl.
3. N-TV, 12. August 2011, www.n-tv.de.
4. Straßner, Veit: Chile. Geschichte, Staat und Politik, www.liportal.giz.de.
5. Siavelis, Peter: Enclaves de la transición y democracia chilena, Revista de Ciencia Política, 2009, Vol. 29, Nr.1, S. 3-21.
6. Portal Amerika 21, 26. August 2012, www.amerika21.de.
7. Meganoticias, 23. Oktober 2012, www.meganoticias.cl.
8. El Mostrador, 29. Oktober 2012, www.elmostrador.cl.

Bildquellen: [1]-[4] Quetzal-Redaktion, Christine Schnichels.

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