Es verwundert sicher wenig, wenn sich jemand wie ich, die mehr als drei Jahrzehnte an der Universität Leipzig tätig und wissenschaftlich mit Lateinamerika beschäftigt war, für die von ihr geehrten, promovierten oder an ihr studierenden Lateinamerikaner interessiert. Einigen von ihnen bin ich persönlich begegnet. Andere „traf“ ich in ihren Publikationen. Bei meiner Recherche stieß ich, neben einschlägig Bekanntem, auf Spannend-Erstaunliches, das es wert ist, berichtet zu werden, obwohl oder gerade weil es sich jenseits jeglichen mainstreams und am Rande der universitären Annalen abspielt(e).
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Eine etwas ausführlichere Internet-Recherche ergibt, dass zu den verschiedensten Zeiten an der Leipziger Universität Angehörige tatsächlich aller lateinamerikanischen Staaten (französischsprachige Länder auf dem Festland werden hier nicht berücksichtigt) verweilten, wobei das Gros früher am Herder-Institut eingeschrieben war und es gegenwärtig womöglich an der Sportwissenschaftlichen Fakultät ist. Während das 1951 an der Universität gegründete Herder-Institut Ausländer in der deutschen Sprache qualifiziert(e), damit sie danach ein einschlägiges Studium in der DDR bzw., nach 1990, in Deutschland absolvieren konnten (heute gehört es zur Philologischen Fakultät), ging die Sportwissenschaftliche Fakultät der Universität 1991 mit reduziertem Bestand aus der früheren DHfK (Deutsche Hochschule für Körperkultur) Leipzig hervor, aus der sie u.a. ihre internationale, auch lateinamerikanische, Reputation schöpfte, ja schöpft.
Chilenen
Bekanntes
Ich beginne mit den lateinamerikanischen doctores honoris causa. Hier habe ich mich immer wieder gefragt, nach welchem Prinzip diese eigentlich von einer Universität ausgewählt werden. Bei denen, die etwas mit der jeweiligen Universität „zu tun“ haben, weil sie dort lehrten oder studierten und dann bekannt oder gar berühmt wurden, wie etwa in Leipzig der Philosoph Hans-Georg Gadamer (ein knappes Jahr auch Rektor) oder die Physikerin und Noch-Kanzlerin der Bundesrepublik Angela Merkel, ist das zugrunde liegende Prinzip offensichtlich, aber sonst?
Unter den Lateinamerikanern bei den Leipziger Ehrendoktoren, und hier zuerst bei den Chilenen, fällt in diesem Zusammenhang zunächst der weltbekannte Schriftsteller, einstige Diplomat in Burma/Myanmar, Ceylon/Sri Lanka und Indonesien und spätere Nobelpreisträger Pablo Neruda, eigentlich Ricardo Eliécer Neftalí Reyes Basoalto, auf und ins Gewicht:
Er, der 1969 vom Partido Comunista de Chile (PCCh) als Präsidentschaftskandidat aufgestellt worden war, dann aber zugunsten von Salvador Allende verzichtete, erhält die Ehrendoktorwürde allerdings schon zuvor, 1967, und auch schon vor der Verleihung des Nobelpreises. Sein epochales Werk Canto General ist da aber bereits erschienen. Für mich war dieses, in der Lesart von Gisela May, mein erstes großes Hörerlebnis. Ein letztes Mal hörte ich eines seiner Gedichte … in einer honduranischen Strafvollzugsanstalt – vorgetragen von einem Marero und mehrfachem Mörder, der es mit Emphase und Tränen in den von (nicht gerade Vertrauen erweckenden) Tattoos umschatteten Augen vortrug. Die anderen Mareros hörten ergriffen zu. Auch ich. Zwar mag Neruda, im Unterschied zu Gadamer und Merkel, nichts Unmittelbares mit der Leipziger Universität zu tun gehabt haben, dennoch war es kein schlechter „Griff“ von ihr, sieht man einmal von dessen hymnischer Ode an Josef Stalin und einigen heutzutage patriarchalisch anmutenden Texten ab. Neruda mag heute umstritten sein, aber Kritiker, die ihn im Kontext seiner Zeit betrachten, wissen ihn zu schätzen. Es tut hier nicht not, den Nobelpreisträger Neruda ausführlicher zu würdigen – dazu gibt es viele und sicher gewichtigere Quellen.
Etwas weniger begründet, dafür in den Annalen recht präsent ist 2005 die Wahl von Ricardo Froilán Lagos Escobar als Ehrendoktor, einem Landsmann von Neruda und zum Zeitpunkt der Verleihung des Ehrentitels Chiles Staatspräsident. Als Neruda zwölf Tage nach dem Putsch gegen Allende einem Krebsleiden erlag (so zumindest die offizielle Lesart; andere Quellen sprechen von Mord), ging Lagos in‘s argentinische und dann US-amerikanische Exil. Auch Lagos diente einmal als Diplomat seinem Land, als Botschafter in Moskau, noch ernannt von Allende, hatte er ihn doch in dessen Präsidentschaftskampagne von 1964 unterstützt. Später bezeichnete er sich indes als „unabhängigen Linken“.
Die Universität Leipzig würdigte bei Lagos des Präsidenten Anstrengungen für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Versöhnung. Nebenbei bemerkt, avancierte dieser als Vertreter einer Koalition von Partido Socialista de Chile (PS) und PPD (Partido por la Democracia), einer Mitte-Linkspartei, zum Staatspräsidenten. Mir ist jedoch nicht ganz klar, ob Lagos nur nach Leipzig kam (in Berlin wird er ohnehin wichtigere Dinge zu tun gehabt haben), um die Auszeichnung entgegen zu nehmen, oder die Universität ihm diese zuteilwerden ließ, weil er gerade da war. In jedem Fall war die Wahl zu seinen Gunsten zumindest insofern nicht zufällig, als insbesondere das Institut für Romanistik der Universität Leipzig viele fruchtbare Kontakte zu mehreren chilenischen Universitäten besaß und besitzt.
Spätestens hier muss nun auch die Rede von Verónica Michelle Bachelet Jeria sein. Dass sie in diesem Aufsatz erst nach Lagos erwähnt wird, hat nur mit der Reihenfolge chilenischer Präsidentschaften zu tun. Bachelets ministeriale Karriere begann übrigens in Lagos‘ Regierung. Hier leitete sie zuerst das Gesundheits- und dann das Verteidigungsministerium, ehe sie selbst – zweimal – das Präsidentenamt übernahm. Seit 2018 ist sie Hohe Kommissarin für Menschenrechte der UNO.
Auch mit ihr schmückt sich die Universität Leipzig gern – deren Ehrendoktorin wird Bachelet jedoch nicht, sie erhält dafür aber 2006 eine Ehrenmedaille. Allein, mit Angela Merkel, der Noch-Bundeskanzlerin, hat sie, wenn auch nicht die Leipziger Ehrendoktor-Würde, gleichwohl etwas gemeinsam: eine Studienzeit an dieser alma mater. NTV (2006) hatte den Aufenthalt Bachelets 2006 in Ostdeutschland und Leipzig als „Nostalgiereise in die DDR“ bezeichnet, wichtigen politischen Austausch als Reisezweck konnte sich der Sender wohl nicht vorstellen. Theoretisch könnten sich Merkel, die da inmitten ihrer Diplomphase war, und Bachelet als Studentin am Herder-Institut auch schon in ihrer Leipziger Studienzeit begegnet sein. Aber das ist eher unwahrscheinlich, es sei denn Bachelet hat bei Merkel einen Cocktail bestellt, als sich jene als Bardame noch etwas hinzuverdiente.
An der Karl-Marx-Universität Leipzig, genauer gesagt am Herder-Institut, studiert sie 1978 ein knappes Jahr. Auch sie wird in Deutschland Ehrendoktorin, allerdings der Bergakademie Freiberg und der Humboldt-Universität zu Berlin, an der sie ein Medizin-Studium absolvierte.
Weniger Bekanntes
Michelle Bachelet hat im Kontext ihres dortigen Besuchs ihre Studienzeit in Leipzig (und in Potsdam) als „glückliche Zeit“ bezeichnet. Das hört man gern, aber trifft es auch die ganze Wahrheit? Dass sie nach dem Pinochet-Putsch ein Exilland suchte, ist wahrlich nicht erstaunlich: Ihr Vater, der Allende-treue General der chilenischen Luftwaffe Alberto Bachelet, der sich an diesem Putsch nicht beteiligen wollte, war von Pinochets Schergen in der DINA im Gebäude der berüchtigten Villa Grimaldi brutal gefoltert worden und in der Folge an einem Herzinfarkt gestorben. Auch Michelle – sie unterhielt schon in dieser Zeit enge Beziehungen zum PS und unterstützte dessen verfolgte Genossen – war dortselbst malträtiert worden und bat daraufhin, zusammen mit ihrer Mutter, in Australien um Asyl, wohin ihre Schwester bereits ausgereist war. Warum aber um alles in der Welt wollte sie, von Australien aus, wo sie doch bereits sicher war, dann noch in die DDR?
Nein, es ist nicht die Strahlkraft des Sozialismus, die sie von Australien weg- und zur DDR hinzieht – es ist schlicht und ergreifend … die Liebe, und nein, nicht zu einem DDR-Bürger: Der Erwählte heißt vielmehr Jaime Eugenio López Arellano, ist Chilene und Mitglied (zeitweise gar Generalsekretär?) der in Chile aktiven PS-Führung des sogenannten „Interior“. Er, so teilt er eines schönen Tages seiner Verlobten mit, soll jetzt in die DDR fahren und will sich dort mit ihr treffen. Und so geschieht es dann auch im April 1975, wo sie sich an einem Ort des DDR-Protokolls in der Nähe von Berlin erstmals nach längerer Zeit wieder sehen. Danach möchten beide unbedingt wieder nach Chile zurück, um ihren Kampf gegen die Militärdiktatur vor Ort weiter zu führen. Doch zuvor hat López noch Aufgaben in Moskau zu erledigen, wo mit Clodomiro Almeyda, dem früheren Außenminister der Regierung Allende, der Chef des einen der beiden „Exterior“-Flügel des PS sitzt. In Berlin – da ist mit Carlos Altamirano der Chef des anderen „Exterior“-Flügels ansässig – versucht Bachelet ihre Kontakte zu dieser Partei zu „offizialisieren“ (vgl. dazu ausführlicher Insunza/Ortega 2013). Doch eigentlich ist sie da schon, so wie López auch, gegen Altamiranos „liberalen“ Weg und für den Massenaufstand und die Diktatur des Proletariats im Sinne von Almeyda. Ob sie das heute als bloße jugendliche Verirrung oder als Lernereignis einschätzen mag?
Auch noch im April 1975 holt Bachelet ihre Mutter nach Berlin und arbeitet dort als medizinische Assistentin. Ende des Jahres, so hofft sie da noch, würde sie nach Chile zurückgehen. Dann jedoch fliegt die Führungsspitze des „Interior“ in Chile auf und „novio“ López wird mit seinen Genossen verhaftet. Nun aber scheinen seltsame Dinge zu passieren: López gerät in den Verdacht, mit dem Feind, mit Pinochets Geheimdienst bzw. -polizei DINA, zu kollaborieren. Er sei ein Verräter, heißt es. Bachelet kann es zuerst nicht glauben, zieht aber vor ihren chilenischen Mitstreitern das „mea culpa“ vor. Die nachfolgende Geschichte von López ist unklar. Da es in diesem Artikel jedoch um Bachelet geht und nicht um López, soll sie in ihm auch nicht weiter aufgerollt werden, nur so viel: López selbst hat das Verräter-Label stets zurückgewiesen und für sich vielmehr die Rolle eines Doppelagenten beansprucht. Die entsprechende, auf einer Serviette geschriebene Nachricht erreicht Bachelet, als sie schon in Leipzig ist. Er, so liest sie da das von López eigenhändig Gekritzelte, kooperiere mit Pinochets Geheimdienst nur, um den Feind zu desinformieren und das Schicksal seiner verhafteten Genossen zu erleichtern. Bis heute ist López, ob als Verräter oder Opfer, „vermisst“. Seine Leiche wurde nie gefunden.
Angesichts der Zwickmühle, in der Bachelet durch ihren „novio“ steht, konnte ich mir zunächst nur schwerlich vorstellen, dass ihre Zeit in Leipzig, wie sie im Nachhinein sagt, tatsächlich so „glücklich“ war. Doch ist sie da ja auch schon mit Jorge Dávalos, einem (anderen) Mitglied des Zentralkomitees (ZK) des PS, verheiratet, der in Weimar Architektur studiert. Ihr gemeinsamer Sohn wird bald darauf noch in Leipzig geboren. 1979 kehrt Bachelet nach Chile zurück. Eigentlich wollte sie bis 1984 in der DDR bleiben.
Noch aber ist sie in Leipzig, als im Februar 1978 ebendort das sogenannte „Plenum von Algier(!)“ stattfindet. Aus Leipzig, wer hätte es geahnt, war also für ein paar Tage Algier geworden! Auf diesem Plenum wird Carlos Altamirano ein letztes Mal in seiner Funktion als PS-Generalsekretär bestätigt und Clodomiro Almeyda vorerst „nur“ zu dessen Stellvertreter gewählt. Aber bald danach soll es schon letzterer sein, der die Geschicke der Partei de facto führt, ihr dabei einen stärker „leninistischen“ Anstrich verleihend. Altamirano, der für eine Autonomie der Flügel statt für demokratischen Zentralismus steht, lehnt das ab. Gerade als Bachelet nach Chile zurückgeht, wird er dann auch offiziell an der Spitze der PS durch Clodomiro Almeyda ersetzt. Altamirano findet sich damit aber nicht ab und beruft einen Parteitag ein, woraufhin sich sein Flügel zuerst „PS-Altamirano“ und dann „Convergencia Socialista“ nennt, die sich zur Zusammenarbeit mit den Christdemokraten und zu einer „bruchlosen“ Entwicklung bekennt, während der offizielle PS unter Almeyda die Linie des Volksaufstandes verficht. Nach und nach verlassen nun die meisten der Altamirano-Anhänger unter den Exilanten die DDR. Auch Altamirano geht, nachdem er das das Sekretariat der „Exterior-Führung“ in Berlin aufgelöst hat, aus der DDR weg … in Richtung Paris, wo er seine ursprünglich, einmal marxistisch-leninistische Position endgültig in eine sozialdemokratische überführt.
Als Bachelet in Leipzig am Herder-Institut Deutsch lernt und als sich all diese komplizierten Prozesse in der chilenischen Linken vollziehen, sind auch schon viele Exil-Chilenen an der Karl-Marx-Universität Leipzig wissenschaftlich tätig oder als Studierende eingeschrieben. Die wohl interessantesten unter ihnen finden sich am „Lateinamerika-Seminar“ der Sektion Geschichte, das unter der Leitung der Professoren Eberhard Hackethal und Manfred Kossok steht, letzterer ein herausragender Historiker und Schüler des berühmten Walter Markov. Während Hackethal, zumal als Mitarbeiter der Stasi, über die nötigen Kontakte sowie Informationen verfügt und sich zumindest das Verdienst zuschreiben kann, den PS-Generalsekretär Altamirano in seinem Auto, zwischen Rücksitz und Kofferraum, über die argentinische Grenze gebracht und somit vor Pinochets Schergen gerettet zu haben (vgl. Höhn, Quetzal 2007), ist der renommierte (Lateinamerika-)Historiker Kossok der intellektuelle Lehrer in dieser Gruppe, die sich Ende 1973 gründet. Doch nicht als „Lateinamerika-Seminar“, wie ich sie damals wahrnehme und wie sie laut Türschild auch hieß, sondern als „grupo de Leipzig“ geht sie in die Geschichte ein. In die Geschichte? Ist das nicht zu hoch gegriffen? Insoweit es die Geschichte der chilenischen Linken betrifft, sicherlich nicht.
Was mich aber zu der Zeit wundert, ist, da ich nur von Chilenen und nicht von anderen Lateinamerikanern in diesem Seminar weiß, ist, warum es nicht „Chile-Seminar“ heißt. Sollte es auch einmal andere Lateinamerikaner aufnehmen? Sooft ich dessen Mitgliedern über den Weg laufe, frage ich mich auch, was die Exil-Chilenen in diesem Seminar eigentlich tun, sieht man sie doch kaum als Lehrende in Erscheinung treten, wie es an einer Universität eigentlich üblich ist. Gänzlich unbekannt ist mir damals: Direkt vor meinen Augen, besser gesagt zwei Etagen über mir, an der Sektion Geschichte, schreibt im „Weisheitszahn“ der Universität Leipzig, in der gebotenen Klandestinität, „el grupo“ gerade an einem ganz spezifischen „Epilog“ der chilenischen Revolution, dessen Stoßrichtung, hätten wir sie damals gekannt, uns Außenstehenden – zumindest für Chile –wohl noch unrealistisch erschienen wäre: Dieser „Epilog“ handelt von der Alternative zum zuvor beschrittenen – friedlichen – Weg der chilenischen Revolution, etwas, was sich deren Protagonisten angesichts des Sieges der sandinistischen Revolution in Nikaragua, in der auch chilenische Kommunisten wie Sozialisten kämpften, nun auch als Alternative wenigstens diskussionswürdig zu sein scheint.
Die Konzeptualisierung einer solchen Alternative – des bewaffneten Kampfes und des Massenaufstandes – geschieht indes nicht etwa im Auftrag der PCCh-Führung, wiewohl auch nicht gegen sie: Diese lässt „el grupo“ vielmehr gewähren, und das auch nur insofern, als sie das Thema (sogar) vor der Mitgliedschaft der eigenen Partei geheim hält und es im „intellektuellen“ Rahmen belässt (vgl. Valdivia/Álvarez/Pinto 2006, 111 ff.). Und nein, homogen „denkt“ auch „el grupo“ nicht. 25 Etagen darunter wiederum braut sich zur gleichen Zeit, für die DDR, gerade das Gegenteil von diesem – bewaffneten – Konzept zusammen, etwas, was man später „friedliche Revolution“ nennen wird. Wie irrwitzig Geschichte doch sein kann: Die friedliche Revolution in Chile scheitert, in Leipzig aber wird sie siegen. Nur dass ihr Ziel ein völlig anderes ist.
Es ist hier nicht möglich, alle in „el grupo“ involvierten Personen zu nennen und in ihren Ansichten zu beschreiben. Exemplarisch soll das im Folgenden am Beispiel dreier ihrer Mitglieder geschehen: der Eine, Carlos Cerda, ist das in der Gruppe einzige Mitglied des ZK des PCCh, der Zweite, Patricio Palma, ihr möglicherweise wichtigster Theoretiker. Während der Eine es später vorzieht, sich als – ein eher mäßiger – Schriftsteller in der Linie der Nueva Narrativa Chilena mit einer nicht nur scharfen, sondern auch recht holzschnittartigen Kritik am Leben in seinem Exilland DDR zu profilieren (vgl. Töpferwein, Quetzal 1996), ist der Andere seit 1998 und bis heute ein hochangesehenes Mitglied im Politbüro des ZK des PCCh. Der Dritte im Bunde ist der mit dem unter Allende politisch höchsten Rang: José Cardemártori Invernizzi.
Der Eine, Carlos Cerda, studierter Philosoph und danach Dozent bzw. Professor in diesem Fach an der Universidad de Chile, hatte, bevor er ins Exil musste, als Chefredakteur der kommunistischen Zeitung El Siglo gearbeitet. Er promoviert dann an der Berliner Humboldt-Universität und wird an der Leipziger Universität an der Sektion Romanistik tätig, bis er 1985 nach Chile zurückkehrt. Am „Lateinamerika-Seminar“ ist er „nebenbei“ aktiv, seine Lust geht eher in Richtung Literatur. Sind seine ersten in der DDR herausgegebenen Werke lediglich Zeugnis der Einsamkeit im Exil, gehen sie danach, als er wieder in Chile ist, zur „offenen Kritik am sozialistischen System“ (Cerda o.J., 307) über. Einige haben Carlos Cerda auch dafür kritisiert, die DDR nicht schon früher schonungslos dieser Kritik unterzogen zu haben, andere dafür, dass er nicht an das Niveau der in der DDR ansonsten herausgegeben lateinamerikanischem Literatur heranreicht, wieder andere, darunter auch andere Chilenen, bezeichnen seine Schriften als Verrat an der DDR.
Der Andere, Jaime Patricio Palma Cousiño, der Kommunist mit den „aristokratischen Nachnamen“, hat dagegen einen völlig anderen Weg genommen: 1970 von der Gruppe „Ranquil“ wieder in den PCCh zurückgewechselt (vor „Ranquil“ war er schon Mitglied der Kommunistischen Jugend gewesen), firmierte er in der Regierung der Unidad Popular unter Allende als Direktor für Industrie und Handel, der DIRINCO (Dirección de Industria y Comercio), aber auch der lokalen JAP (Juntas de Abastecimiento y Control de Precios), einer Versorgungsinstitution der Bürger mit Unterstützung der Regierung. In die DDR kommt er zwei Jahre nach dem Militärputsch, 1975, und zwar über Panama, wo er noch Omar Torrijos getroffen haben soll. Galt er in Chile als „verschwunden“, wird er in Leipzig zum theoretischen Kopf des „Lateinamerika-Seminars“ und zum (in ihm) zentralen Autor der Strategie des bewaffneten Massenkampfes gegen Pinochet.
Der PCCh, jetzt wieder seine Partei, befindet sich da gerade – genauso wie der PS – in der internen Diskussion um die Form des Widerstandes gegen Pinochet und erkennt nun, 1977, den bewaffneten Kampf als eine der möglichen Kampfformen an. Doch auch damit ist Palma noch unzufrieden: Er bringt das Argument vor, dass sich, wenn sich die Bedingungen änderten, auch der gesamte „Weg der Revolution“ vom friedlichen zum bewaffneten ändern müsse und nicht nur einzelne Kampfformen „dazukommen“ sollten. 1980 verkündet dann auch PCCh-Generalsekretär Luis Corvalán das Recht auf eine „Rebellion gegen die Tyrannei“ und bildet in Moskau zu deren Umsetzung die Frente Patriótico Manuel Rodríguez. Mit seiner an der Sektion Geschichte verteidigten Dissertation vertritt Palma im „Lateinamerika-Seminar“ nicht zufällig auch das Thema „Armee“. Ich selbst höre ihn bei einem Vortrag zur Rolle der Armee in Surinam, allerdings auch bei Veranstaltungen des Universitäts-Ensembles „Solidarität“, hier als begnadeten Sänger in der kongenialen (1978 gegründeten) Musikgruppe Alerce, die in der DDR 1988 über Amiga die Schallplatte „Canto Latino“ herausgebracht hat. Bekannt wird sie insbesondere für ihre einzigartige Version der „Ode an die Freude“ – gespielt auf Gitarren und Percussion-Instrumenten.
2013 gehört Palma dann zu den Führungskräften des PCCh, die mit Bachelet und deren Wahlkampfkommando für den Präsidentschaftswahlkampf ihren „programmatischen Nexus“ besprachen. Da Palma, obwohl Kommunist, auch in das zu den Wahlen von 2013 für die Programmatik verantwortliche Bachelet-Team berufen wird, kann man ihn wohl zu Recht als Bachelets Vertrauten bezeichnen. Ich frage mich an dieser Stelle, ob sich beide schon von Leipzig her kennen (oder von noch früher), und wenn ja, wie ihr Gedankenaustausch in der DDR abgelaufen war. Als sie dann die Präsidentschaft gewinnt, ernennt Bachelet ihren Vertrauten Palma immerhin zum Direktor von ENAMI (Empresa Nacional de Minería), der staatlichen Bergbau-Gesellschaft. Palma ist ja nicht nur Historiker, sondern auch Ingenieur. Regierungsmitglied wird er aber nicht, obwohl der Bachelet-Regierung auch Kommunisten angehören. Wie weit ging also beider politisches Vertrauen? Wie mag er, der Kritiker des neoliberalen Wirtschaftssystems, mit „seiner“ Präsidentin umgegangen sein, die diese Kritik keineswegs teilt(e)?
Der Dritte, vielleicht gar der Wichtigste im Bunde, der im Rahmen der „grupo de Leipzig“ insbesondere zu (polit)ökonomischen Themen publiziert, ist José Cademártori Invernizzi.
Er war der letzte Wirtschaftsminister in der Regierung Allende und über lange Zeiten chilenischer Parlamentarier. Schon 1958 wurde er in‘s ZK des PCCh gewählt und blieb es für nicht weniger als ein halbes Jahrhundert. Nach dem Militärputsch von 1973 verbrachten ihn Pinochets Adlaten in das Konzentrationslager auf der Insel Dawson, in dem auch Corvalán eingekerkert war. Alles in allem blieb Cademártori drei Jahre und drei Monate eingesperrt. Danach, zwischen 1976 bis 1988, muss er im Exil leben, zuerst in Venezuela und Cuba, dann, von 1984 bis 1988 in der DDR. In der Frage der Kampfformen setzt er sich zwar wie Palma für den Massenaufstand ein und negiert auch den bewaffneten Kampf nicht, allerdings ohne ihn überzubewerten. Vor der UNO erreicht er, anders als es die US-amerikanische Regierung wünscht, dass der Frente Patriótico Manuel Rodríguez nicht verurteilt wird. Klein, unscheinbar und schon damals grauhaarig, huscht er oft an mir im Uni-Hochhaus vorbei. Nie hätte ich gedacht, dass ich da gerade einen Ex-Minister von Allende grüße, einen Mann mit einem intellektuell wie politisch derart beeindruckenden Profil …
Der im heutigen Chile möglicherweise bekannteste alumnus der Universität Leipzig heißt Roberto Ampuero. Ähnlich wie Carlos Cerda, ja noch mehr als jener, wird er als Schriftsteller bekannt. Auch er muss – als Mitglied der Kommunistischen Jugend – nach dem Pinochet-Putsch emigrieren und beginnt bald darauf an der Leipziger Universität ein Journalistikstudium, das er erfolgreich abschließt. Hier lernt er auch seine spätere Frau kennen, die Tochter von Kubas Generalstaatsanwalt bzw. Botschafter in Moskau, mit der er nach dem Studium auf die Insel geht. Die Zeitung „Die Welt“, die Ampuero am 22.07.2018 u.a. mit dem Satz zitiert „Ich warne davor, Trump zu dämonisieren“ (Strausberg 2018), meint, er sei in Kuba als Guerrillero ausgebildet worden. Den Kommunisten Ampuero indes desillusioniert das sozialistische Kuba, sodass er es nach fünf Jahren, ohne Frau, wieder verlässt, zunächst erneut in Richtung DDR, wo er, warum auch immer, nun auch noch die FDJ-Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“ besucht. Danach belegt er an der Humboldt-Universität in Berlin diverse Aufbaustudiengänge in Literatur, Wirtschaft und Politik, bis er 1983 nach Bonn übersiedelt. Am Ende, und zwar unter dem Konservativen Staatspräsidenten Sebastian Piñera, dient Ampuero als Kultur- und Außenminister.
Als solcher besucht auch er, 2018, wieder sein früheres Studienland. In dem mit ihm aus diesem Anlass von der bereits zitierten Zeitung geführten Interview bezeichnet er nunmehr die Politik seiner einstigen zweiten Heimat Kuba als „zynisch“. Seine Bücher, darunter besonders Kriminalromane, werden in Chile geschätzt, wenn auch mehr ihres spannenden Inhalts wegen als des Stils. Sie werden übersetzt, erhalten Preise und ja, auch in ihnen ist die DDR samt Klischees und allgegenwärtiger Stasi vertreten (vgl. Töpferwein, Quetzal 1997 und 2011).
Die bis hierher porträtierten Chilenen habe ich ausgewählt, weil sie wegen oder trotz (?) ihrer Anbindung an eine Karl-Marx-Universität in der DDR zu intellektuell, aber ebenso politisch relevanten Persönlichkeiten geworden sind, die meisten, so noch unter uns, auch heute noch eher links von der Mitte. Fünf von ihnen haben die DDR miterlebt, ja mitgelebt und sich auch im Nachhinein in der einen oder anderen Weise zur DDR und zur Leipziger Universität geäußert. Sie stellten ein Tausendstel der chilenischen Migranten in der DDR. Als Intellektuelle stehen sie aber auch dafür, dass insgesamt 95 Prozent dieser Emigranten Angehörige der Intelligenz waren. Ebenso spiegeln sie jene etwa 90 Prozent von ihnen, die dem PS oder dem PCCh angehör(t)en.
Nicht repräsentativ sind sie hingegen dafür, dass sie in der DDR das Glück hatten, in einem universitären Umfeld tätig sein zu können. Denn im Großen und Ganzen „fahren“ die chilenischen linken Führungskräfte in der DDR bei ihren Intellektuellen eine Strategie der „Proletarisierung“, oder, weicher ausgedrückt, sie wollen, dass es ihren Leuten in der DDR nicht besser gehe als dem durchschnittlichen DDR-Bürger. Das jedoch führt bei einigen ihrer Emigranten zu Frust, Depression, ja zu Selbstmordversuchen. Das Gros von ihnen fühlt sich aber beschützt und drangsaliert, bewundert und marginalisiert, beneidet und vereinsamt, begeistert und beengt, zuhause und heimatlos. Allein, um solcherart Ambivalenz darzustellen, eignen sich Holzschnitte kaum. Und ja, das MfS war bei einigen von ihnen genauso Zaungast wie auch bei deutschen Mitbürgern, was gerade bei den Chilenen besonders krass die dunkle Seite dieser Ambivalenz zeigt. Schließlich: Nicht alle chilenischen Migranten, die die DDR verlassen haben, taten das in Richtung Chile – viele von ihnen wanderten auch in die alte Bundesrepublik aus, nach Frankreich oder die USA, einige wurden von der DDR ausgewiesen. Zum Mauerfall 1989 sollen es noch 334 Chilenen in der DDR gewesen sein (Maurin 2005).
Die Einen der früheren Exilanten neigen im Nachhinein zu Nostalgie, die Anderen zu harscher Kritik, ein Teil von ihnen noch harscher heute als sie sie zu Zeiten der DDR artikulierten. Beides hat gute Gründe. Wenn jedoch Maurin (Op. cit., 362) schreibt: „Ziel (der SED) war es keineswegs, den verfolgten Lateinamerikanern zu helfen, sondern vor allem, die ‚Stärkung der DDR‘, also letztendlich der Parteiführung, zu erreichen“, dann sei hier gesagt, dass das damals bei weitem nicht alle – nicht alle Chilenen, nicht alle DDR-Bürger und auch nicht alle SED-Mitglieder – so sahen. Es gab in der DDR eine verordnete, aber eben auch eine nicht verordnete Solidarität, jenseits von Parteidoktrinen. Eine nicht-verordnete Solidarität gab es im Übrigen auch in der alten Bundesrepublik. Dass Menschen, die in ihrer Jugend selbst einmal das eine oder andere Flüchtlingsschicksal erlitten hatten, schlicht und einfach nur humanitär gedacht haben können, hat sich wohl die offizielle DDR damals genauso wenig wie der genannte Autor heute vorstellen können. Nun ja, letzterer ist Jahrgang 1974.
Die an die (Karl-Marx-)Universität Leipzig gekommenen Chilenen waren an dieser alma mater nicht nur eine große Gruppe, sie besaßen auch, wie zu sehen war, eine besonders große intellektuelle und/oder politische Relevanz. Es gibt jedoch noch ein weiteres lateinamerikanisches Land, das ähnlich herausragend in seiner Beziehung zur Leipziger Universität und zur Revolution in Lateinamerika war. Bevor jedoch der Name dieses Landes „verraten“ wird (und nein, es ist weder Kuba noch Nicaragua), sollen zunächst die Bürger anderer lateinamerikanischer Staaten, die mit der Leipziger Universität zu tun hatten, ihre Würdigung erfahren. Da ist zunächst, wenn auch mit nur einem Vertreter, Uruguay zu nennen.
Uruguayos
Es handelt sich dabei um Rodney Tibaldi Arismendi Carrasco, der an der Leipziger Universität 1977 die Ehrendoktorwürde erhält: Arismendi war zwischen 1955 und 1989 Erster Sekretär bzw. Generalsekretär der Kommunistischen Partei seines Landes.
27 Jahre, von 1946 bis 1973, gehörte er dem Parlament seines Landes an. Seinen Posten als gewählter Senator (der Frente Amplio) konnte er schlussendlich nicht mehr antreten, weil er vorher verstorben war. Nach der demokratischen Wende in Uruguay, 1988, machte er seinen Chefposten in der Partei zugunsten einer Erneuerung ihrer Führung frei. Nicht viele gab es, die dieses Rückgrat besaßen. Nach dem Militärputsch sah sich Arismendi 1975 gezwungen, in‘s Exil nach Moskau zu gehen. In der lateinamerikanischen Linken galt er nicht nur als herausragender Politiker, sondern auch als führender Theoretiker. Schon mit 14 Jahren soll er Lenins „Staat und Revolution“ studiert haben. Später interessierten und beeindruckten ihn Haya de la Torre, Gramsci und Mariátegui.
Es ist nicht auszuschließen, dass ihn gerade diese unorthodoxen Denker dazu bewogen haben, nicht nur besonderen Wert auf die Intellektuellen und die Kultur zu legen, sondern auch (1971) die Frente Amplio, also eine breite, nicht-sektiererische Front, ins Leben zu rufen, das Pendant zur zwei Jahre zuvor gebildeten Unidad Popular in Chile. Wie bekannt, sollte es schlussendlich dieses Bündnis sein, das es zweimal, einmal mit Tabaré Vásquez und einmal mit José Mujica (bis 2020), schafft, Uruguays Präsidentschaft zu erringen. Arismendi hat dafür, wenigstens indirekt, einen Grundstein gelegt. Zu Recht wurde und wird er, der gegen jegliches linkes Sektierertum auftrat, für die Destalinisierung der uruguayischen Linken gefeiert (1954 hatte er gegen den stalinistischen Parteivorsitzenden der KP Eugenio Gómez „geputscht).
Arismendi war ein Linker, der die „bürgerlich-demokratische Revolution“ würdigte, in der, und zwar vor der praktischen Inangriffnahme jeder sozialistischer Vision, die Bourgeoisie ihre historische Rolle zu Ende erfüllen sollte, was von seinen linken Kritikern, die diese bestenfalls als Prolog einer sozialistischen Revolution ansahen, als „Menschewismus“ gewertet wurde. Allende ähnlich, stand auch Arismendi für den parlamentarischen Weg zum Sozialismus. In Montevideo wurde ihm nach seinem Tod gar ein Denkmal errichtet. Zwei Bücher von ihm befinden sich, wiewohl in der zweiten Reihe, noch immer in meinem Regal. Wie sorgsam hatte ich in ihnen seinerzeit unterstrichen!
Kolumbianer
Aus Kolumbien kommen zwei der Ehrendoktoren der Universität Leipzig. Der eine ist der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Carlos Eduardo Rincón Bolívar, dem dieser Titel im Jahr 2003 verliehen wird. Rincón promoviert in Leipzig (1965) bei Werner Bahner und dem berühmten Romanisten Werner Krauss zum Theater von Federico García Lorca. Als er mit diesem Ziel 1961 seine ersten Schritte in Leipzigs Zentrum lenkt, geht ihm, so erinnert er sich in seiner Dankesrede, der Gedanke durch den Kopf, dass sein berühmter Landsmann García Márquez ebendiese Stadt „als die unheimliche Kulisse eines expressionistischen Films bezeichnet hatte“ (Rincón 2003). Das jedoch schreckt Rincón keinesfalls ab: Anders als von anderen in diesem Aufsatz genannten Protagonisten ist es von ihm bekannt, warum er sich gerade Leipzig zum Promovieren ausgesucht hat. Von sich in der dritten Person Singular sprechend, gibt er dazu in seiner Rede zur Verleihung des Ehrendoktors an: „Als Randteilnehmer am großen Wissenschaftsgeschehen sollte Leipzig, so stellte er (Rincón H.Z.) es sich vor, die einzigartige Möglichkeit bieten, die Vorlesungen von Hans Mayer und von Ernst Bloch zu belegen. Immerhin hatte er bereits Fragmente aus dem Prinzip Hoffnung übersetzt. Er würde an den Seminaren über Geschichte, die Walter Markov abhielt, teilnehmen können, sich aber vor allem die Denk- und Arbeitswerkzeuge aneignen, die spezifischen literaturwissenschaftlichen Mittel, mit denen Werner Krauss die Gegenwart aufarbeitete. Das war sein Auftrag.“ (Ebd.) Als „Diskursformation“ (ebd.) sei Leipzig – und eben nicht Paris oder Frankfurt am Main – für ihn das „Fest“ (ebd.) gewesen. Dass ebendiese Universität mit einer solch genialen Diskursformation und den ihr innewohnenden „Festen“ derart undemokratisch umging, dass diese später „zerbrachen“ oder „ausfielen“, sei hier nicht nur am Rande erwähnt.
Ich selbst bin mit Rincón höchstenfalls indirekt bekannt. Gleichwohl trägt er die originäre „Schuld“ an meiner Faszination für Lateinamerika: 1976 gelangt die von ihm und seiner Frau Gerda Schattenberg-Rincón herausgegebene Anthologie chilenischer Gedichte „Gitarre des dämmernden Morgens“ in meine Hände. Daraufhin wusste ich, ich würde mein Studium und mein berufliches Schicksal mit Lateinamerika verbinden. Mit der Schrift einer Freundin geschrieben, stehen in der mir gehörenden Kopie dieses Bandes über den deutschsprachigen Druckzeilen spanischsprachige Wörter, die ersten, die ich in dieser Sprache lernte, auf dass ich sie zu Quilapayún und Inti Illimani mitsingen könne. Wie zerfleddert das Buch doch ist!
Zum Zeitpunkt der Verleihung der Ehrendoktorwürde ist Rincón gerade als Professor für Literatur- und Kulturtheorie emeritiert worden, eine Professur die er, seit 1990, indes nicht in Leipzig, sondern an der Freien Universität Berlin innehatte. Auch als Übersetzer von Theodor Adorno, Walter Benjamin, Michail Bachtin, Michael Foucault, Georges Canguilhem, Jürgen Habermas und Noam Chomsky hat er sich einen Namen gemacht. Übrigens war er auch einmal persönlicher Referent des sandinistischen Kulturministers und Schriftstellers Ernesto Cardenal in Nikaragua. Danach kehrt er aber wieder in die DDR, nach Berlin, zurück. 33 Jahre nach Nerudas Ehrung hat die Universität Leipzig bei der Auswahl lateinamerikanischer Ehrendoktoren einen zweiten bemerkenswerten Griff in Sachen Literatur getan.
Nicht ganz so berühmt, aber in der kolumbianischen philosophischen Literatur und Universitätslandschaft einschlägig – er hatte in Kolumbien 1955 mit der INCCA eine eigene private und linke Universität gegründet und blieb deren Rektor bis zu seinem Lebensende – war Professor Jaime Quijano Caballero.
Von der Karl-Marx-Universität Leipzig bekommt er 1986 den Ehrendoktor auf dem Gebiet der Philosophie verliehen.** Als der Zug der Honoratioren im Universitätsinnenhof an mir vorbeigeht, habe ich wieder einmal nicht die geringste Vorstellung … nun gar davon, wer der Geehrte überhaupt ist. Ein Jahr später erhält der mit dem Stern der Völkerfreundschaft in Gold auch noch eine besonders hohe staatliche DDR-Auszeichnung. Quijano verstand sich bis zu seinem Tod als dialektischer Materialist und setzte an der Universität INCCA das Verhältnis zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften auf der Grundlage des historischen und dialektischen Materialismus als Schwerpunkt. Dass diese Theorie im Realsozialismus versagte, durfte/musste er noch miterleben.
Erst in der Recherche zu diesem Aufsatz ist mir aufgefallen, dass Jaime Quijano Philosophie im Berlin der Nazizeit studiert hatte, wo sein Vater gerade Kolumbien als (General)Konsul vertrat. An der Berliner Universität hörte Jaime dabei u.a. auch Vorlesungen bei Nicolai Hartmann, der den Lehrstuhl für theoretische Philosophie innehatte und sich nach dem Tod von Hindenburg für die Übertragung der Befugnisse des Reichspräsidenten auf Hitler aussprach. Hartmann galt als NS-treuer Jude. Quijano las in seiner Studienzeit aber auch und besonders intensiv die Schriften von Alexander und Wilhelm von Humboldt, die ihm auch später in Bogotá immer griffbereit zur Verfügung gestanden haben sollen. Von Alexander von Humboldt nahm Quijano insbesondere den Gedanken der „Urania“ auf, mit der er breiten Volksschichten wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln wollte, und versuchte diesen auch in Kolumbien zu verbreiten. Die zehntausenden Absolventen seiner Universität, die in der Regel aus den ärmeren Bevölkerungsgeschichten entstammten, legen davon Zeugnis ab. Gern hätte ich erfahren, wie Jaime damals den Hitler-Befürworter Hartmann perzipiert und ihn danach mit den Humboldts und dem Marxismus-Leninismus verbunden hat. Oder hat er später seinen Berliner Professor „vergessen“? Ob man das heute noch herausfinden kann?
Mexikaner
In einem kürzeren Zeitraum, von 1967 bis 1968, verschlug es mit Enrique Semo Calev schließlich auch einen mexikanischen Historiker nach Leipzig, das aber auch er nach seinem Deutschkurs am Herder-Institut wieder verlassen sollte, um auch seinerseits an der Humboldt-Universität Berlin zu studieren: Als bulgarischer Jude war er in seiner Jugend über Wien und Marseille zunächst nach Israel gegangen, wo er auch anfangs studiert hatte, und dann nach Mexiko. In Mexiko wurde er schlussendlich, neben Friedrich Katz, zum möglicherweise prominentesten nicht im Land geborenen Mexiko-Historiker (mit einem Schwerpunkt für Wirtschaftsgeschichte und Politische Ökonomie). Politökonomisch kann er in einer Reihe mit Maurice Dobb, Paul Baran oder Paul Sweezy bestehen.
Semo war Kommunist, ja langjähriges Mitglied des ZK des Partido Comunista Mexicano (PCM), der schon damals die Militärinvasion 1968 in Prag verurteilte und später, in Ablehnung der Diktatur des Proletariats, mit dem Eurokommunismus liebäugelte. In der Folge entwickelte sich diese Partei zum Partido Socialista Unificado de México (PSUM). Da er unter der Regierung Gustavo Díaz Ordaz in Mexiko als Kommunist bedroht war, schickte seine Partei Semo zum Studium in die DDR. Wie bereits an Michelle Bachelet zu sehen, reicht ja bereits ein Aufenthalt am Herder-Institut aus, um jemanden als alumnus der der Karl-Marx-Universität zu bezeichnen, doch bei Semo ging die Beziehung weiter: Denn auch einer seiner Promotionsbetreuer – der andere war Friedrich Katz – wurde der erwähnte Manfred Kossok. Die Dissertation, die späterhin zum wahren Bestseller geriet, verteidigte Semo allerdings ebenso wenig in Leipzig, sondern an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die von ihm gepflegte historisch-strukturelle Analyse im Sinne einer globalgeschichtlichen longue durée verdankt er jedoch mit Sicherheit seinem Lehrer Kossok. Semo lehrte als Professor an der berühmten mexikanischen UNAM (Universidad Autónoma de México) und der University of New Mexico in Albuquerque, USA. Sein wissenschaftliches Œuvre ist beeindruckend, er schrieb aber auch für journalistische Medien, ob im Excelsior, El Proceso oder La Jornada.
Kubaner
Auch Promovenden aus Kuba waren Schüler Kossoks: Der wichtigste von ihnen ist wohl Sergio Guerra Vilaboy, der gegenwärtig als der profilierteste kubanische Lateinamerika-Historiker gilt und 1985 an der Karl-Marx-Universität zum Dr. phil. promoviert wurde. Guerra Vilaboy ist Professor an der Universität Havanna und als solcher Chef des Departments für Geschichte sowie Präsident des Lehrstuhls „Eloy Alfaro“. Er fällt als Generalist auf, wiewohl mit einer besonderen thematischen Affinität zur Geschichte der lateinamerikanischen Unabhängigkeit(srevolutionen) und einer regionalen Vorliebe für die Karibik. Nicht nur als Präsident der Asociación de Historiadores Latinoamericanos y del Caribe (ADHILAC) ist er in Lateinamerika weit über die Grenzen seines Heimatlandes bekannt. Er hat auch viele Preise erhalten und ist nahezu weltweit mit wissenschaftlichen Vorträgen unterwegs. 2017 erhielt er den kubanischen Nationalpreis für Sozialwissenschaften.
Darüber hinaus haben an der Universität Leipzig, in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, die kubanischen Historiker Carmen Cuevas und Luis Clergé Fabre – letzterer hatte seinerzeit noch mit Frank País und Fidel in der kubanischen Revolution gekämpft – promoviert. Mir waren sie alle drei vor allem deshalb wichtig, weil wir den zu der Zeit vergleichsweise jungen tropischen Sozialismus, von dem sie uns berichteten, damals mehr schätzten als den geriatrisch-kalten in der DDR. Wiewohl, nicht immer habe ich sie verstanden – und nach der Wende noch weniger als zuvor (unterschiedliche Kontexte zeitigen eben Wirkung!) –, was daher nicht nur am für eine Dilettantin wie mich gewöhnungsbedürftigen kubanischen Spanisch liegt. Und auch die immense Bedeutung der kubanischen Orange konnten sie mir trotz überbordender Bemühung nicht so recht nahebringen. Nie vergessen werde ich allerdings, wie mich Sergio Guerra und Luis Clergé 1988 mit einem winzigen Fiat durch Havanna „düsten“, und der Ex-Guerrillero Luis, als auf einmal der Motor streikte, darin mit einem Besenstiel rührte (im Übrigen direkt vor dem Gebäude des ZK) – und ja, das Auto fuhr dann wieder.
Was Sergio Guerra Vilaboy in seiner Bedeutung für die Geschichtswissenschaft in Kuba darstellt, gilt für Pablo Guadarrama González auf dem Gebiet der Philosophie. Ihn treffe ich auf einer Konferenz über den Zusammenbruch des Sozialismus im Jahre 1991 im kolumbianischen Bogotá. Mein Vortrag über die DDR zu diesem Thema gefällt ihm augenscheinlich wenig: zu kritisch für ihn, zu wenig kritisch für mich heute. So kommt es gar nicht erst dazu, dass wir über unsere gemeinsame alma mater sprechen.
Guadarrama, Sohn von Tabakarbeitern, kommt, noch recht jung an Jahren, zum Promovieren an die Universität Leipzig, und zwar im Fach Philosophie. Martina Thom und Helmut Seidel schlagen ihm als Thema Kant oder Hegel vor, er aber zieht die lateinamerikanische Philosophie, insonderheit den in der DDR unbekannten Philosophen Enrique José Varona, vor. Thom und Seidel fühlen sich dazu eher weniger kompetent, umso wichtiger dürfte für Guadarrama gewesen sein, dass er bei Kurt Schnelle, der über José Martí geschrieben hatte, und dem Historiker Max Zeuske Unterstützung fand. Mit der offiziellen Betreuung von Martina Thom promoviert Guadarrama 1980 in Leipzig zum Dr. phil. Ein katalanischer Philosoph sorgt dafür, dass der Titel dieser Arbeit sogar in den Index einer Universität in Ohio aufgenommen wird, etwas, so Guadarrama später, was ihm wohl nicht passiert wäre, hätte er zu Hegel und Kant geschrieben. Er hätte auch gern noch in Leipzig habilitiert, doch die Wende „ist dagegen“. Sechs Jahre später holte er seine Habilitation in Kuba nach.
Seine Professur erfüllt Guadarrama an der Universität Las Villas, Santa Clara. So wie sein Kollege Guerra Vilaboy erhielt auch er (2009) die Premio Nacional de la Academia de Ciencias de Cuba. Seine Publikationen, Konferenzauftritte und Ehrentitel in vielen lateinamerikanischen Ländern (neben Kuba, besonders in Kolumbien), aber auch in Italien, Japan oder Spanien, sind kaum zu zählen. Er schätzt sich als wahren und unorthodoxen Marxisten (ein), den er gern durch etwas Althusser angereichert sieht (Guadarrama 2018, 5). Und ähnlich dem, wie Guerra Vilaboy heute als kubanischer Doyen der Lateinamerika-Geschichte gelten kann, ist es Guadarrama González gewiss für die lateinamerikanische Philosophie.
Doch damit noch nicht genug mit den kubanischen „Stars“ unter den Leipziger alumni! 2012 titelt die Revista Habanera de las Ciencias Médicas: „Profesor Doctor Jorge Caridad González Pérez Ph.D. Una gloria de las ciencias médicas de Cuba y el mundo (fett H.Z.)“ (Barreras González/Cathcart Roca 2012).
Das klingt nicht schlecht: Auch diese „gloria“ kann sich die Karl-Marx-Universität, zumindest zum Teil, auf ihre Fahnen schreiben: Immerhin hat González Pérez von 1982 bis 1987, in Rechtsmedizin, an ihr promoviert. Seine beruflichen Meriten verdiente er sich an der Universität Havanna, aber auch an Hochschulen der kubanischen Armee und des Innenministeriums. Im Rahmen seiner Profession war er in über 40 Ländern, auch im Rahmen der UNO, unterwegs. Er ist Mitglied des kubanischen Parlaments. Spannend ist er aber vor allem, weil er 1995 jene Mission leitete, die im Auftrag der Familie Che Guevaras die sterblichen Überreste des Che in Bolivien identifizierte.
…
Richtig, ein Versprechen bleibt mir noch einzulösen: Neben Chile hatte ich zu Beginn dieses Aufsatzes ja noch auf ein weiteres lateinamerikanisches Land verwiesen, das ähnlich herausragend in seiner Beziehung zur Leipziger Universität und zur Revolution in Lateinamerika war. Hierbei geht die Zeitreise nun am weitesten zurück – in die 1960er Jahre – und regional nach … Guatemala.
Mit Ausnahme eines 28-minütigen Dokumentarfilms über einen ihrer Vertreter ist zu den Guatemalteken an der Leipziger Universität in den einschlägigen deutschen Medien fast nichts zu finden. Und nur wenig wäre davon überhaupt ans Tageslicht gekommen, gäbe es nicht die Narrative von Zeitzeugen bzw. Angehörigen in guatemaltekischen Periodika. Bei den guatemaltekischen alumni muss die Rede aber auch davon handeln, dass sich manche von ihnen auch als Guerrilleros exponierten … wiewohl Guerrilleros wurden sie erst, wenn auch unmittelbar, nach ihrem Aufenthalt an der Leipziger Universität. Post hoc ergo propter hoc? Nun, kausaltheoretisch ist das wohl anerkanntermaßen ein Fehlschluss.
Guatemalteken
Der erste von ihnen, Mario Payeras, ist hierzulande aber nicht als Guerrillero, sondern als Schriftsteller bekannt geworden, über DDR-Verlage wie auch über linke Verlage der alten Bundesrepublik. Seine Romane wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Payeras studierte Philosophie an der Universidad de San Carlos de Guatemala (USAC), der UNAM in México und … das mag weniger bekannt sein, für die Zwecke dieses Aufsatzes aber entscheidend … zwischen 1964 und Ende 1967, auch an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Es war Miguel Angel Asturias, der spätere guatemaltekische Literaturnobelpreisträger, der für ebendiesen Payeras die Übersiedlung von Rumänien, wo es jenem nicht gefallen hatte, in die DDR organisierte. Hier entstehen auch Payeras‘ ersten Poeme und eine Novelle.
Sein Freund Julio César Pinto Soria (1997, 40), ein ebenfalls in Leipzig bei Kossok promovierter Historiker, charakterisiert ihn als einen ausgezeichneten Studenten, den man niemals studieren sah, und als Bohemien mit einem großen Sinn für Humor. Sie, Payeras und Pinto, fühlen sich „fröhlich“ in Leipzig und schätzen den Antifaschismus der DDR, ärgern sich aber über Vertikalismus, Paternalismus und zunehmende Distanz der DDR-Führung von ihren Bürgern. Gegenüber ihrem eigenen Kampf in Guatemala, den die DDR unter Ulbricht nicht gutheißt, habe sich diese DDR-Führung überdies „geizig“ gezeigt, sagen sie. Der DDR-Sozialismus frustriert beide, was jedoch nicht bedeuten sollte, dass sie danach für keinen Sozialismus mehr kämpften (Op. cit., 41).
1988, kurz vor dem Fall der Mauer, habe ihm, so Pinto, sein Freund Payeras gesagt, dass das Volk der DDR seine Regierung, die vorgab in dessen Namen zu regieren, zum Teufel schicken solle. Und in der Nacht vor seinem Abflug nach Guatemala Ende 1967 soll er sich noch deutlicher ausgedrückt haben: dass er seinen ersten Schuss, den er als Rebell in Guatemala abgebe, gegen ein solches System, wie die DDR es sei, richten würde (Op., cit., 44). Dennoch betrachte(te)n beide, Payeras wie Pinto, die DDR als ihre „zweite Heimat“ (Op. cit., 45).
Als Payeras, über Rumänien, in Leipzig ankommt, ist er Mitglied des – damals noch für den friedlichen Weg optierenden – Partido Guatemalteco de Trabajo (PGT). Es macht ihn froh, dass nun, just in der Zeit seines Leipzig-Aufenthaltes, mit den Fuerzas Armadas Revolucionarias (FAR) auch im Umfeld seiner Partei „endlich“ eine Guerilla gebildet ist, der er sich anschließen kann. Ob die DDR zu diesem Zeitpunkt davon schon gewusst haben mag? Payeras wird dann auch, sofort nachdem er 1967 Leipzig hinter sich lässt, in Kuba militärisch ausgebildet. Genau da jedoch stirbt bei einem rätselhaften Autounfall FAR-Comandante Turcios Lima. Zwischen PGT und FAR und auch in den FAR selbst kommt es daraufhin zu einem Bruch, und aus einem seiner Flügel entsteht mit dem Frente Edgar Ibarra eine ganz neue Guerrilla, die 1972, aus Mexiko kommend, auf guatemaltekisches Territorium gelangt und sich ab 1974 Ejército Guerrillero de los Pobres (EGP) nennt. Zu dessen Begründer und späterem zweiten Comandante (Benedicto) wird Payeras. 1984 trennt er sich aber aufgrund strategischer Differenzen wieder von ihm: Er möchte den „guerrillerismo“ überwinden. Obschon selbst Guerrillero, findet Payeras schon da das Opfer des Che falsch, und manches von dem, was er in jenen Jahren schreibt, insbesondere bestimmte Metaphern, wecken Assoziationen zu den Zapatistas. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbringt Payeras entsprechend in Chiapas, wo er auch begraben wird.
Otto René Castillo, seinen revolutionären Landmann, in Guatemala ebenfalls hoch anerkannter Schriftsteller und seinerseits Guerrillero, dürfte Payeras in Leipzig aber verpasst haben: Denn Castillo hat an der Karl-Marx-Universität bereits von 1959 bis 1962 studiert. Er ist einer von zweien (der andere ist der mit ihm befreundete Roque Dalton), die, für Poesie, den Preis der kubanischen Casa de las Américas erhalten. Castillo tut sich aber auch als Filmemacher hervor, arbeitet hier mit Joris Ivens zusammen und gehört als solcher 1961/62 zur Jury des Internationalen Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmfestivals. Der oben erwähnte Dokumentarfilm wurde übrigens, von einem Deutschen, über ihn gedreht. In Leipzig gründet Castillo mit seiner deutschen Frau eine Familie und hat zwei Söhne, die meines Wissens noch immer in dieser Stadt leben.
1966 kehrt er nach Guatemala zurück und wird dort Mitglied eben der FAR, aus der sich Payeras entfernt, und er bleibt es auch bis zu seinem Tod. Nein, er stirbt keines natürlichen Todes, fällt aber auch nicht im Gefecht, sondern wird von den Regierungstruppen zusammen mit seiner Partnerin bestialisch-sadistisch gefoltert und verbrannt. Viele Jahre danach hat sich Guatemalas Präsident Álvaro Colóm bei den Hinterbliebenen dafür entschuldigt. Castillos Familie, darunter einer seiner Söhne, hatte hart darum gekämpft. Er ist es auch, der mich und einen Kollegen 1993 als erster durch die Straßen der Zona 1 von Guatemala-Stadt führt. Um ehrlich zu sein, zwar weiß ich da schon, wer sein Vater war, aber dessen grausames Schicksal ist mir unbekannt.
Zu den Leipziger Guatemala-alumni zählt schließlich auch Julio Castellanos Cambranes, der gleichfalls unter der Betreuung von Kossok an der Sektion Geschichte studiert und promoviert hat. Auch er war mit Hilfe von Asturias und über Rumänien nach Leipzig gelangt, wo er sich von 1966 bis 1977 aufhält. Danach wurde er Professor an der USAC in Guatemala, dann der University in Tulane, New Orleans, und arbeitete schließlich im Team des international bekannten Historikers Magnus Mörner in Stockholm, seinerseits Ehrendoktor der Universität Hamburg. Cambranes publizierte einschlägige Monographien zur Wirtschafts-, darunter insbesondere Agrargeschichte Guatemalas und auch zu dem eher weniger bekannten Aufenthalt Ches in seinem Heimatland.
Seine Ausbildung an der Leipziger Sektion Geschichte schätzt er jedoch (noch) weniger positiv ein als seine prominenteren Landsleute: „Ich wurde als Historiker an der Karl Marx-Universität in Leipzig, Deutschland, ausgebildet, aber man hat mich einen sehr orthodoxen Marxismus gelehrt, der ausgesprochen starr war und das Denken deformierte und den ich viele Jahre wie einen Stein mit mir herumtragen musste (Übersetzung aus dem Spanischen H.Z.).“ (Cambranes 2003). In der Folge, so behauptet er an gleicher Stelle, sei er zum „Anarcho-Marxisten“ mutiert. Als er das sagt, ist er schon Hotelbesitzer in San José, der Hauptstadt Costa Ricas, und nennt eine Lodge in modern-eigenwilligem Stil und 156 Farben sein Eigen. Nur Wissenschaftler und Geschäftsleute möchte er dort als zahlende Gäste, keine Familien mit Kindern, so informiert er mich bei einem Treffen. Was mich darüber hinaus auch noch erstaunt, ist, dass er, obwohl er mich bis dato persönlich noch nie gesehen hatte, nicht einmal bis zu nächsten Tag auf dieses Treffen warten will, um mir da, von Angesicht zu Angesicht, mit größter Nostalgie und Tränen in den Augen von seiner ach-so-tollen Studien- und Promotionszeit an der Leipziger Universität zu erzählen, wo die doch so orthodox mit ihm umgegangen war und ihn derartig deformiert hatte. Heuchelei? Wohl eher jene Ambivalenz, die auch und gerade Erinnerung oft eigen ist.
Schluss
17 „lateinamerikanische“ Porträts sind es geworden, bei denen ich es für wichtig hielt, dass sie im Zusammenhang mit der Universität Leipzig gewürdigt werden. Natürlich erhebe ich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, in keiner Hinsicht. Vor allem in den Naturwissenschaften und in der Medizin mögen mir viele interessante Persönlichkeiten entgangen sein, die an der Leipziger Universität weilten. Zweierlei ist mir aufgefallen: Von den Porträtierten sind es mit Bachelet, Lagos und Rincón anscheinend nur drei, die in den reichlich 30 Jahren nach der Wende den Ruhm der Leipziger Universität nach Lateinamerika trugen. Gewiss, da kann auch noch Manches nachkommen, etwa von Absolventen, die heute einfach noch zu jung sind, um schon bekannt geworden sein zu können. In den rund 30 Jahren davor, als die Universität noch den Namen jenes großen deutschen Philosophen trug, zähle ich stattliche 14. Aus deren Kreis wiederum habe ich von niemandem vernommen, dass er oder sie die DDR verklärt hätte, im Gegenteil, es ist erstaunlich, wie kritisch viele von ihnen schon zu einer Zeit waren, als wir selbst es für uns so noch nicht beanspruchen konnten. Allein, sie haben diese DDR auch nicht, zumindest in der Regel nicht, verteufelt: Die Wenigsten von ihnen formulierten ihre Kritik in Schwarz-Weiß. Vielmehr versuch(t)en die meisten, genauso wie wir, ob zureichend oder unzureichend, das Phänomen „DDR“ in all seinen Ambivalenzen zu verarbeiten. Eines aber bleibt: Alle Porträtierten waren oder sind Intellektuelle im besten Sinne des Wortes und blieben zugleich die politische Menschen, die sie schon in ihrer Studienzeit gewesen waren – solche, die in ihren Heimatländern, in die sie fast sämtlich zurückgegangen sind, Spuren hinterlassen haben und hinterlassen.
Ach so: Die Universität Leipzig (o.J.) nennt auf ihrer Website – unter der Rubrik „kluge Köpfe“ – im Übrigen nur zwei Lateinamerikaner: Michelle Bachelet und den hier nicht porträtierten Eduardo Pastrana Buelvas.
Nun ja.
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*Das generische Maskulinum sei in diesem Aufsatz nur Platzhalter und ist im Vergleich zum generischen Femininum oder Diversum ausdrücklich nicht prioritär gemeint.
**Ich danke dem Archiv der Universität Leipzig für diese Information.
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Bildnachweise:
[1–6, 9–10, 12–13, 17–18] Wiki; [7, 11, 14, 19] Cover Scans; [8] mit freundlicher Genehmigung von La Internacional de Allende; [15] funcionpublica.gov.co; [16] parlamentocubano.gob.cu