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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Chile befindet sich dieses Jahr im Wahlmarathon

Lesedauer: 11 Minuten

Seit den Unruhen Ende des Jahres 2019 ist das Land im Umbruch. Was zunächst mit punktuellen Aktionen gegen zu hohe U-Bahn-Preise begann, weitete sich zu landesweiten, zum Teil gewaltsamen Protesten aus, denen die Regierung erst nur mit Härte begegnete. Wie auch schon in den letzten Jahres lieβ sie auch die friedlichen Demonstrationen niederschlagen und reagierte mit einer Blockadehaltung und Unverständnis gegenüber den Forderungen der DemonstrantInnen, was die Situation nur zusätzlich eskalierte. Nachdem die Proteste aber nicht abebbten, mussten die etablierten politischen Kräfte einsehen, dass sie keine ausreichenden Antworten auf die Anliegen ihrer BürgerInnen hatten und dem Druck schließlich nachgeben.

Widerwillig erklärten sie sich dazu bereit, ein Referendum abzuhalten, indem sie gut ein Jahr nach dem Beginn der Proteste die ChilennInnen fragten, ob sie sich gegen oder für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung aussprechen. Die aktuelle Verfassung des Landes stammt aus dem Jahr 1980 und hat ihren Ursprung in der Zeit der Militärdiktatur unter Pinochet, weshalb ihr zurecht die demokratische Legitimation abgesprochen wird. Nachdem eine überwältigende Mehrheit von 78% der Befragten dafür votierte, kam ein Prozess in Gang, der endlich Hoffnung für einen substantiellen Wandel im Land machte. Unzählige Menschen wollten sich daran beteiligen. Insgesamt ließen sich 1191 KandidatInnen für die Verfassunggebende Versammlung aufstellen. Viele von ihnen engagierten sich das erste Mal politisch, denn sie glaubten, dass sie nun wirklich etwas im ihrem Land bewegen könnten.

Wahlen für die MitgliederInnen der Verfassunggebenden Versammlung und GouverneurInnen sowie Kommunalwahlen

So begaben sich die ChilenInnen trotz der Corona-Pandemie am 15. und 16. Mai unter strengen Hygieneauflagen zu den Wahlurnen, wo sie gleich vierfach abstimmen mussten. Die mit Abstand bedeutendste Stimme war die für die 155 Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung. Ganz eindeutig traute die Mehrheit der Wählenden der alten politischen Elite nicht zu, eine neue Verfassung auszuarbeiten, so dass mehrheitlich demonstrativ unabhängige KandidatInnen oder Mitglieder neuer politischer Parteien gewannen, die sich insbesondere seit den Studierendenprotesten in den Jahren 2011 und 2012 gegründet hatten.

Chile_Wahlen_Bild_Quetzal-Redaktion_csEntsprechend besetzen die rechtskonservativen Parteien der Regierungskoalition nun nur noch 37 Sitze und das Mitte-Links-Bündnis der etablierten Parteien 26. Alle anderen Sitze sind auf neue und unabhängige KandidatInnen verteilt: 26 Sitze ergatterte die unabhängige linke Bewegung „Liste des Volkes“, 25 das Linksbündnis „Ich stimme für Würde“, das sich unter anderem aus Parteien zusammensetzt, die von Studierenden der Proteste 2020/21 gegründet worden waren, wie Revolución Democrática, Comunes und Convergencia Social. Auf jeweils 11 Sitze kamen die „Unabhängigen-Nicht-Neutralen“ und einzelne unabhängige KandidatInnen. Zusätzlich sind in der Versammlung, die am 4. Juli ihre Arbeit aufnehmen wird, 17 Sitze für indigene VertreterInnen reserviert, welche ausschließlich von der jeweiligen Minderheit gewählt wurden (7 Mapuche, 2 Aymara und jeweils 1 Rapa Nui, Quechua, Atacameño, Diaguita, Colla, Kawésqar, Chango und Yagán).

Zusammengefasst bedeutet dies, dass fast ein Drittel (48) der gewählten Mitglieder unabhängig von Parteien oder politischen Listen ist und die Oppositionparteien sowie Unabhänigen über eine komfortable Zwei-Drittel-Mehrheit verfügen, da das Regierungsbündnis weniger als ein Drittel der Mitglieder stellt. Dies ist relevant, da dieses Bündnis das einzige war, in dem sich PolitikerInnen vor dem Plebiszit 2020 offen gegen eine neue Verfassung ausgesprochen hatten und welches eine umfassende Änderung der Verfassung stets abgelehnt hat.

Interessant ist zudem die Tatsache, dass das Wahlergebnis an die Vorgabe angepasst werden musste, dass die Verfassunggebende Versammlung zur Hälfte aus Frauen und Männern bestehen soll. Da die weiblichen Kandidatinnen insgesamt mehr WählerInnen überzeugen konnten, wurden die männlichen Kandidaten bei den Ergebnissen teils bevorzugt.

Erwähnenswert ist noch die geringe Wahlbeteiligung von nur 43%, die zum Teil der Covid-19-Pandemie geschuldet ist, denn die Infektionszahlen sind weiterhin hoch und viele Gemeinden befinden sich immer noch im totalen Lockdown. Sie verdeutlicht aber auch, dass immer noch sehr viele Menschen von der Politik enttäuscht sind und sich nicht vertreten fühlen. So hat zwar defintiv eine politische Mobilisierung vor allem der jungen Menschen stattgefunden; diese hat allerdings noch längst nicht alle ChilenInnen erreicht. Denn viele Menschen haben immer noch den Eindruck, dass die Politik gar nicht für sie als BürgerInnen gemacht wird, sondern für die Interessen einiger weniger politischer und wirtschaftlicher Eliten. Bisher hatten sie bei Wahlen fast immer nur die Alternative zwischen dem Rechts- und Mitte-Links-Bündnis, so dass viele den Eindruck hatten, immer nur das „geringere Übel“ wählen zu können und es keine wirkliche Wahlmöglichkeit gibt. Dies hat sich jedoch mit der letzten Wahl geändert, da sich die politische Landschaft nun stark erweitert und somit gravierend verändert hat. Es ist fraglich, ob dies auch so von den Menschen wahrgenommen wird, die bisher immer noch politikverdrossenen waren. Bei den kommenden Wahlen wird sich zeigen, wie viel Mobilisierungspotenzial in der aktuellen politischen Bewegung steckt, sollte die Regierung nicht wieder die allgemeine Wahlpflicht einführen. Ein entsprechender Gesetzentwurf wird zurzeit im Parlament diskutiert, da die Abschaffung der Wahlpflicht 2012 in Chile zu einer der niedrigsten Wahlbeteiligungen weltweit geführt hat und bedeutende Teile der Regierung es bereuten, sie aufgehoben zu haben.

Die neuen politischen Kräfte haben nicht nur bezüglich der Verfassunggebenden Versammlung gut abgeschnitten, sondern auch bei allen weiteren Wahlen: Bei den Wahlen für das Amt des oder der BürgermeisterIn verlor das Rechtsbündnis der Regierung in mehreren politisch bedeutenden und emblematischen Gemeinden: So zum Beispiel gewann Irací Hassler in Santiago die Wahl und wird damit die erste kommunistische Bürgermeisterin dieser Gemeinde in der Geschichte. Zudem konnte sich der amtierende unabhängige Bürgermeister von Valparaíso Jorge Sharp erneut durchsetzten, der neben dem Abgeordneten Gabriel Boric zu einem aktiven Mitglied der Studierendenproteste 2011/12 und einem der Begründer der politischen Bewegung „Izquierda Autónoma“ zählt. In der Nachbarstadt Viña del Mar konnte sich überraschend Macarena Ripamonti von der Partei „Revolución Democrática“, die ebenfalls von Studierenden während der Proteste 2011/12 gegründet worden war, durchsetzen.

Insgesamt gewann das Links-Bündnis „Frente Amplio“ in gleich 12 Gemeinden die Wahlen um das Amt des Stadtoberhaupts; es war zum ersten Mal bei Kommunalwahlen vertreten. Unabhängige KandidatInnen konnten in 105 Gemeinden gewinnen (2016: 52). Während der Mitte-Links-Pakt noch 129 Siege (2016: 141) einfuhr, erlitt das rechte Regierungsbündnis eine noch größere Wahlschlappe und ergatterte nur noch 87 Posten des Stadtoberhauptes (2016: 145).

Schließlich wurden auch zum ersten Mal GouverneurInnen für die 16 Regionen direkt gewählt. Dieser politische Posten entspricht den nun abgeschafften „Intendenten“, welche noch vom Präsidenten ernannt worden waren. Diese Änderung im politischen System soll der Dezentralisierung der Verwaltung und Macht dienen. Während in den meisten Regionen eine Stichwahl notwendig wurde, gewann in der Region Valparaíso überraschend deutlich der Unabhängige Rodrigo Mundaca, der Sprecher der „Bewegung zur Verteidigung des Wasserzugangs, der Erde und des Umweltschutzes“ ist und dem Links-Bündnis angehört. Daneben erreichten die zwei KandidatInnen des Mitte-Linksbündnisses Andrea Macías in Aysén und Jorge Flies in Magallanes bereits in der ersten Runde die notwendigen Stimmen, um ihr Amt als GouverneuInnen anzutreten. In den übrigen Regionen wurde ein zweiter Wahlgang notwendig.

Zweiter Wahlgang um das Amt der GouverneurInnen

Einen Monat später war der Groβteil der ChilenInnen erneut aufgerufen, ihre Stimmen abzugeben, um die 13 weiteren GouverneurInnen zu bestimmen. Das Mitte-Links-Bündnis der ehemaligen Präsidentin Michelle Bachelet ereichte einen fulminanten Sieg und errang acht weitere Posten. Zusammen mit den zwei GouverneurInnen, die das Bündnis bereits im ersten Wahlgang gewonnen hatte, stellt die Mitte-Links-Koalition damit zukünftig 10 aller neuen GouverneurInnen. Hinzu kommen die Siege von den zwei unabhängigen Kandidaten Miguel Vargas in der Region Atacama und Rodrigo Díaz in der Region Biobío, die beide dem Mitte-Links-Bündnis politisch nahe stehen. Das Bündnis „Frente Amplio“ kam auf einen Sieg in Tarapacá (plus den Sieg in Valparaíso im ersten Wahlgang), während die von den Grünen („Partido Ecologista Verde“) unterstützte Krist Narajo in Coquimbo gewann. Das Regierungsbündnis konnte lediglich mit Luciano Rivas in der Region Araucanía gewinnen. Warum die Konservativen ausgerechnet in der Chile_Militär_Wahllokal_Bild_Quetzal-Redaktion_csHochburg der Mapuche und der ärmsten Region des Andenstaates, so erfolgreich waren, ist schwierig zu beantworten. Der chilenische Politiker Diego Ancalao, der zum Volk der Mapuche gehört und zurzeit versucht, Präsidentschaftskandidat zu werden, hat 2017 in dem digitalen Nachrichtenportal „El Mostrador“ (spanisch) versucht, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Dort verweist er auf eine schwierige politische, ökonomische und sozialpsychologische Gemengelage.

Viel Aufmerksamkeit zogen die Wahlen in der Hauptstadtregion auf sich, die als „Mutter aller Schlachten“ bezeichnet wurde, da der Metropolitanregion eine auβergewöhnliche politische wie strategische Bedeutung zukommt. Dort mussten der Christdemokrat Claudio Orrego (25,5%) und Karina Oliva (23,4%) vom Linksbündnis „Ich stimme für Würde“ nach einem Kopf-an-Kopf Rennen in die Stichwahl. Schließlich konnte sich Orrego mit 52,7% durchsetzen, nachdem er auch von den WählerInnen der rechtskonservativen Parteien unterstützt wurde, um den Sieg der jungen Frau des neuen politischen Bündnisses zu verhindern. Die Wahlbeteiligung war bei diesen Wahlen leider noch geringer als beim ersten Wahlgang und lag nur noch bei knapp 20%. Diese noch geringere Zahl mag auch der Tatsache geschuldet sein, das viele Menschen gar nicht wissen, was die Kompetenzen und Aufgaben diese neuen Gouverneure überhaupt sind und diesem neuen Amt keine große Bedeutung beimessen.

Vorwahlen für die PräsidentschaftkandidatInnen

Am 18. Juli wird dann in Chile zum dritten Mal in diesem Jahr gewählt, wenn es um die Vorwahlen für die PräsidentschaftskandidatInnen des jeweiligen politischen Bündnisses geht. Bei dem Links-Bündnis „Apruebo Dignidad“ sind die aussichtreichsten Anwärter auf die Kandidatur der Kommunist und Bürgermeister von Recoleta, einer Gemeinde in der Hauptstadtregion, Daniel Jadue, der durch sein Projekt der staatlichen Apotheken landesweite Ausmerksamkeit auf sich zog, sowie der Abgeordnete Gabirel Boric der Partei „Convergencia Social“, der als Studentenführer im ganzen Land Bekanntheit erlangte.

Bei dem rechten Regierungsbündnis “Chile Vamos” wird zwischen vier AnwärterInnen ausgewählt: Joaquín Lavín von der „Unión Demócrata Independiente“, Mario Desbordes der „Renovación Nacional“ (RN, Partei des amtierenden Präsidenten Sebastián Piñera), Ignacio Briones der Partei „Evópoli“ (EVO) und dem Unabhängigen Sebastián Sichel.

Das Mitte-Links-Bündnis „Unidad Constituyente“ hat noch nicht entschieden, ob es Vorwahlen abhalten wird, obwohl es mindestens zwei Kandidatinnen gibt: Paula Narvaes von der Sozialistischen Partei und Yasna Provoste von der Christdemokratischen Partei.

Wahlen des oder der PräsidentIn, der Abgeordneten, der SenatorInnen und der „Regionalen Berater“

Am 21. November 2021 folgen schließlich die zweiten groβen Wahlen in diesem Jahr. Zunächst einmal werden die Präsidentschaftwahlen mit den siegreichen KandidatInnen der Vorwahlen stattfinden. Es wird aber auch für Unabhängige die Möglichkeit bestehen, sich aufstellen zu lassen. Hier sei nur der ultrarechte José Kast der Republikanischen Partei erwähnt. Laut einer aktuellen Umfrage des Instituts CADEM hat Daniel Jadue zurzeit die meisten Chancen die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen (20% Zustimmung), gefolgt von Joaquín Lavín (16% Zustimmung) und Yasna Provoste (13% Zustimmung). Daneben werden die Abgeordneten gewählt sowie die Hälfte aller Mitglieder des Senats und die „Consejeros Regionales“, welche zusammen mit dem oder der GouverneurIn die Regierungen der Regionen bilden.

Stichwahl um das Präsidentschaftsamt

Chile_Wahlen_2021_Quetzal-Redaktion_csFalls sich im ersten Wahlgang niemand der Kandidatinnen durchsetzen kann, wird am 19. Dezember zum fünften Mal in diesem Jahr gewählt, wenn sich die ChilenInnen zwischen den beiden erstplatzierten AnwärterInnen entscheiden müssen.

Plebiszit über die neue Verfassung

Und im kommenden Jahr dürfen die ChilenInnen dann erneut die Wahlurnen aufsuchen, wenn sie sich in einem historischen Votum für oder gegen die neu ausgearbeitete Verfassung entscheiden werden. Denn der Verfassungskonvent wird voraussichtlich am 4. Juli seine Arbeit aufnehmen und innerhalb von neun Monaten eine neue Verfassung ausarbeiten, die im ersten Halbjahr 2022 angenommen oder abgelehnt wird.

Neue PolitikerInnen, neue Politik?

Die Analyse hat gezeigt, dass in diesem Jahr fast alles gewählt wird, was gewählt werden kann. Offen bleibt, ob die Wahlbeteiligung bei den kommenden Urnengängen zunimmt und sich mehr ChilenInnen in der aktuellen Politik wiederfinden, um sich politisch zu beteiligen. Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von einer extremem Politikverdrossenheit und Skepsis gegenüber den politischen Eliten. Doch das Land ist im Umschwung und viele PolitikerInnen versprechen, den erhofften Wandel in die Tat umzusetzen. Denn der immer noch von der Militärdiktatur stark geprägte Andenstaat bedarf einer substantiellen politischen Erneuerung, damit sich die ChilenInnen wieder mehr wahrgenommen und verstanden fühlen. Die jungen Generationen sind nicht mehr in der Diktatur aufgewachsen, haben keine Angst mehr vor Unterdrückung und scheuen nicht vor Protesten zurück. Vielmehr sehnen sie sich nach einem modernen und sozial gerechteren Land, das nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft schaut. Es bleibt nun abzuwarten, für welche PolitikerInnen sich die SüdamerikanerInnen bei den kommenden Wahlen entscheiden werden und ob diese dann auch den versprochenen Wandel erreichen können. Insbesondere die Möglichkeit, dass Chile endlich eine neue Verfassung bekommen könnte, die ihre Wurzeln in der Demokratie hätte und Resultat des aktuellen politischen Wandels wäre, lässt hoffen.

 

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Bildquelle: [1-3] Quetzal-Redaktion_cs

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