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Chile vor den Wahlen: Alles ist anders, und dennoch bleibt alles beim Alten

Christine Schnichels | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten

Chile: Proteste, dass die politischen Institutionen nicht funktionieren - Foto: Quetzal-Redaktion, csChile wählt am 17. November ein neues Staatsoberhaupt, eine neue Abgeordnetenkammer und einen Teil der Mitglieder des Senats. Seit den letzten Wahlen Ende 2009 hat sich im Land am Pazifischen Ozean viel getan: In den letzten Jahren kam es zu immer mehr Protesten, die teils bis heute anhalten. Die zahlreichen sozialen Bewegungen kritisierten nicht nur das Wie beim Übergang zur Demokratie nach der Pinochet-Diktatur, sondern stellten das gesamte chilenische Modell in Frage. Damit gelang es ihnen, neue Themen in den politischen Diskurs einzubringen und neue Akteure ins politische Spielfeld zu manövrieren. Das ist in Chile allerdings nicht so einfach: Denn die politischen Eliten haben sich von der Zivilgesellschaft weit entfernt und sind darauf bedacht, ihre politische Macht zu behalten.

Zu den etablieren politischen Gruppierungen gehören hauptsächlich zwei Lager. Die Nationale Erneuerung (RN) und die Demokratische Unabhängige Union (UDI) bilden die rechts-konservative Allianz, während sich die Oppositionsparteien der Diktatur zum Mitte-links Bündnis Neue Mehrheit zusammengeschlossen haben.

Die Allianz, die in den letzten vier Jahren unter Sebastián Piñera die erste Regierung seit dem Ende der Diktatur stellte, wird wohl von den WählerInnen abgestraft werden. Ihre unnachgiebige und harte Reaktion auf die sozialen Proteste im Land haben ihr Ansehen und die Hoffnungen in sie stark erschüttert. Viel Kritik fing sich die Regierung auch ein, da der Wiederaufbau nach dem Erdbeben im Februar 2010 nicht zügig vorankam. Im Oktober, kurz vor den anstehenden Wahlen, weihte Piñera dann auch noch ein Mahnmal in Gedenken an die Opfer des Erdbebens ein, dessen Baukosten von rund zwei Millionen US-Dollar besser in den Wiederaufbau hätten gesteckt werden können. Schließlich stellt die Allianz nach strategisch missglückten Vorwahlen die nur teils gestützte Präsidentschaftskandidatin Evelyn Matthei. Während der Vorwahlen im Mai dieses Jahres lieferten sich der RN-Kandidat Andrés Allamand und Pablo Longueira von der UDI ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das letzterer gewann. Kurz darauf trat Longueira aus persönlichen Gründen von seiner Kandidatur zurück, so dass die UDI ihn durch Evelyn Matthei ersetzte. Die erzkonservative Matthei wurde so weder durch die Vorwahlen legitimiert noch vermag sie, die eher gemäßigten Lager der Allianz, insbesondere die Allamand-AnhängerInnen der RN, zu mobilisieren, welche eher geneigt sind, ihr Kreuz beim unabhängigen Franco Parisi zu setzen. Zuletzt schadet ihrer Popularität sicherlich auch die Nähe zur Militärdiktatur.

Nicht nur Matthei befindet sich in einer schwierigen Ausgangssituation für die Wahlen. Der bisher durchaus populäre Parisi stolperte zuletzt über seine nebulösen Geschäftspraktiken. Zwar dementiert er jegliche Anschuldigung; aber der Vorwurf, dass seine Firmen in großem Stil die gesetzlichen Arbeitgeberbeiträge zur Alters- und Gesundheitsvorsorge nicht an die MitarbeiterInnen gezahlt haben, holte ihn von seinem hohen Ross herunter. Seit dem Skandal hat er kaum noch eine Chance, Matthei als stärkste Kandidatin der rechten Kräfte zu überholen. Nach einer Umfrage des Zentrums für Öffentliche Studien CEP für den Zeitraum zwischen September und Oktober [1] sprechen sich 14 Prozent für Matthei aus, während zehn Prozent der Stimmen an Parisi gehen.

Die Wahlkampagne der zweiten Liste Neue Mehrheit scheint hingegen um einiges erfolgreicher zu laufen. Das Bündnis setzt sich zusammen aus der Sozialistischen Partei (PS), der Partei für die Demokratie (PPD), der Demokratisch-Christlichen Partei (PDC), der Radikalen Sozialdemokratischen Partei (PRSD), der Bürgerlichen Linken (IC), der Breiten Sozialen Bewegung (MAS) und zum ersten Mal auch der Kommunistischen Partei (PC). Die ehemalige Präsidentin (2006-2010) Michelle Bachelet schaffte es im Gegensatz zu Matthei, alle Stimmen des Bündnisses hinter sich zu bringen. Bei den Vorwahlen setzte sie sich mit 73 Prozent der Stimmen im eigenen Lager weit von den restlichen Kandidaten ihrer Liste ab. Die Sozialistin erhielt sogar 53 Prozent aller abgegebenen Stimmen (d.h. inklusive der abgegebenen Stimmen für Allianz und Neue Mehrheit). Mit einem solchen Ergebnis – der absoluten Mehrheit – würde Bachelet bei den kommenden Wahlen im ersten Wahlgang zur Präsidentin gewählt; und so unwahrscheinlich ist dieses historische Ergebnis auch gar nicht. Nach der Umfrage des CEP liegt sie bei 47 Prozent der Stimmen, während Matthei als zweitstärkste Kandidatin lediglich 14 Prozent erhält. Bei den Wahlen würde Bachelet mit diesem Ergebnis nach dem Ausgleich der leeren und ungültigen Stimmzettel auf die notwendige absolute Mehrheit kommen und müsste nicht in einer zweiten Runde bei einer Stichwahl gegen Matthei als zweitstärkste Kandidatin antreten.

Chile: Ex-Präsidentin Michelle Bachelet im Jahr 2012 - Foto: Ricardo Stuckert, AgenciaBrasilBachelet, die bis vor einigen Monaten noch in New York verweilte, weil sie dort für die UNO als Direktorin der Frauen-Organisation tätig war, kehrte nach Chile zurück, um erneut zu kandidieren. Aufgrund der derzeitigen Schwäche der Allianz und des Mangels an Konkurrenz innerhalb ihrer Liste, hält Bachelet es ähnlich wie Merkel während ihres Wahlkampfs: möglichst den Wahlkampf vermeiden und möglichst vage Aussagen und Versprechen abgeben. Diese Strategie scheint für Bachelet bisher aufzugehen. Bachelet möchte zwar keinen radikalen Wandel in Chile, der so oft von Seiten der Zivilgesellschaft gefordert wird. Dennoch verspricht sie nun, dass sie das Bildungs- und Steuersystem reformieren und die Sinnhaftigkeit der aktuellen Verfassung überprüfen werde. Allerdings versprach sie als Präsidentin schon einmal der SchülerInnenbewegung im Jahr 2006 eine umfassende Bildungsreform, änderte dann jedoch nur den Namen des Bildungsgesetzes und ließ die Hauptpfeiler des Systems unangetastet. Seitdem fühlten sich viele junge Menschen von Bachelet „betrogen“. Um sich volksnah und reformbereit zu zeigen, verbündete sie sich kürzlich mit bedeutenden RepräsentantInnen der SchülerInnen- und StudentInnenbewegung von 2011. So sind Camila Vallejo, Karol Cariola und Camilo Ballesteros, die allesamt zur kommunistischen Jugend gehören, mit im Boot der Neue Mehrheit. Auch die Anführerin der 2006er-Bewegung, Carina Delfino, unterstützt und posiert im Wahlkampf für Bachelet und deren Liste.

Aber nicht nur Bachelet sicherte sich die Unterstützung von Teilen der Jugendbewegung: der unabhängige und von der Humanistischen Partei unterstützte Präsidentschaftskandidat Marcel Claude gibt sich als Jugendflüsterer und Bewegungsvertreter. Er nahm viele der Forderungen der SchülerInnen und StudentInnen in sein Wahlprogramm auf. Damit konnte er zwar zeitweise zahlreiche Jugendliche von seinem Projekt überzeugen; mittlerweile liegt er aber in den Umfragen bei weniger als 5 Prozent.

Die Jugendlichen möchten nicht mehr irgendwelchen PolitikerInnen vertrauen. Sie machen selbst Politik. Während die kommunistische Jugend innerhalb der Neuen Mehrheit Druck auf die PolitikerInnen ausüben möchte, um so grundlegende Reformen durchzusetzen, versuchen es andere Gruppierungen außerhalb der beiden großen Listen. Aufgrund des binominalen Wahlsystems wird es ihnen zwar kaum gelingen, Abgeordnetensitze zu gewinnen, geschweige denn, einen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen. Aber sie möchten ihr Misstrauen in die Politik und die Institutionen deutlich machen und ihre Themen in den politischen Diskurs einbringen. Dafür nutzen sie nun nicht mehr allein den Protest auf den Straßen, sondern lassen sich auch bei Wahlen aufstellen. Neben Giorgio Jackson, der eigens die Partei Demokratische Revolution gründete und als deren Vertreter für einen Sitz im Parlament für den Wahlkreis Santiago-Zentrum kandidiert, ließen sich auch drei Studierende der Autonomen Linken aufstellen. Während der ehemalige Studentenführer Gabriel Boric in seiner Heimat Magallanes im äußersten Süden des Landes antritt, kandidiert Francisco Figueroa für den bedeutenden Hauptstadtbezirk Ñuñoa-Providencia. In der Hafenstadt Valparaíso ließ sich Daniela López als Abgeordnetenkandidatin aufstellen. Zunächst führte auch der Präsident der Studierendenvertretung der Mapuche, José Ancalao, Wahlkampf. Nun unterstützt er die Abgeordnetenkandidatur seines Bruders Diego Ancalao in Araukanien.

Es gibt aber auch viele junge Menschen, die überhaupt nicht an die Politik glauben und deshalb zum Boykott der Wahlen aufrufen. Insbesondere sind hier einige anarchistische Gruppierungen sowie die SchülerInnenvertretung ACES zu nennen. Für sie ist jegliche Politik von der rechts-konservativen UDI bis hin zur Kommunistischen Partei neoliberal und unglaubwürdig. Im Gegensatz zu den oben genannten Gruppierungen gehen sie daher nicht in die Politik, sondern machen weiterhin Druck von der Straße aus.

Neben den StudentInnen haben sich auch andere soziale Gruppierungen politisch organisiert und machen Wahlkampf. Sie setzen sich vor allem für eine komplett neue Verfassung durch eine Verfassungsgebende Versammlung, die Schaffung eines Sozialstaats, eine Steuerreform und die Änderung des Wahlrechts ein. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Partei Gleichheit (PI) zu nennen, die mit Roxana Miranda als Präsidentschaftskandidatin und dem Wahlmotto „Neue Verfassung“ antritt. Die PI wird zwar kaum Stimmen erhalten, dennoch sorgt auch sie als Sprachrohr einiger Bewegungen dafür, dass neue politische Themen in den politischen Diskurs einfließen und dort nicht mehr so bald verschwinden werden.

Chile: Der Präsidentschaftskandidat Marco Enríquez Ominami - Foto: Marco Enríquez OminamiSchließlich kandidiert auch Marco Enríquez-Ominami von der Progressistischen Partei (PRO), welcher der einzige Sohn von Miguel Enríquez ist, der als Mitbegründer und Generalsekretär der revolutionären Untergrundbewegung MIR 1974 vom autoritären Regime ermordet wurde. Marco Enríquez-Ominami sah sich von der Neuen Mehrheit, damals noch Concertación, enttäuscht und trat aus der Sozialistischen Partei aus. Heute ist er ein unabhängiger Präsidentschaftskandidat und mit circa 7 Prozent nach den Umfragen Viertstärkster.

Letztlich ist mit keinem spektakulären Ergebnis bei den Wahlen zu rechnen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden die ChilenInnen Michelle Bachelet zur neuen Präsidentin wählen – ob im ersten oder zweiten Wahlgang. Ihre Liste Neue Mehrheit wird wohl auch die meisten Stimmen bei den parlamentarischen Wahlen sammeln. Das binominale Wahlsystem wird jedoch stark die schwächelnde Allianz bevorzugen und sie wird wahrscheinlich in vielen Wahlkreisen mit gut einem Drittel der Stimmen je einen von zwei RepräsentantInnen stellen. In der Folge wird sie zwar schwächer sein als bisher und auch schwächer als das Mitte-links-Bündnis; aufgrund des Wahlsystems kann die Allianz aber größere Reformen im Land weiterhin verhindern und ihre Macht erhalten. Alle KandidatInnen außerhalb der zwei Listen haben es sehr schwer und werden sich bereits über ein paar Abgeordnetensitze freuen. Ursache für diese Schieflage ist die Ausgestaltung des Binominalen Wahlsystems aus Zeiten der Pinochet-Diktatur!

Auch wenn die historischen Bündnisse veraltet anmuten und aufgrund des neoliberalen Grundkonsenses innerhalb der zwei etablierten Bündnisse kaum von politischer Vielfalt gesprochen werden kann, bleibt wohl in der faktischen Politik alles beim Alten. Die neuen politischen Akteure werden daran kaum etwas ändern können. Nur die politische und öffentliche Debatte hat sich verändert und verstärkt zunehmend den Druck auf die kommende Regierung.

So wird parallel zu den Wahlen auch ein Volksentscheid abgehalten, bei dem sich die WählerInnen für oder gegen eine Verfassungsänderung aussprechen können. Natürlich ist das Ergebnis später für die Politik nicht verbindlich. Es rückt aber immerhin dieses Thema in die Mitte der politischen Debatte. Es bleibt abzuwarten, wie weit Bachelet mit ihren angekündigten Reformen gehen will. Aber selbst wenn sie sich bereit zeigt, dürfte sie wohl kaum über die notwendigen Mehrheiten im Parlament verfügen, um endgültig mit dem Erbe der Pinochet-Diktatur zu brechen.

Das ambivalente Verhältnis der ChilenInnen zur Militärdiktatur vermag es demnach zwar bisher kaum, die grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Strukturen zu verändern. Es offenbart sich aber immer mehr, dass sich in Chile etwas bewegt und sich das Land in baldiger Zukunft mit dem langen Schatten, den die Diktatur bis heute wirft, auseinandersetzten muss.

Sollte, wie erwartet, die Wahlbeteiligung gering bleiben, werden die Zweifel am politischen System des Landes wachsen. Nach einer Gesetzesänderung ist die Teilnahme an den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zum ersten Mal freiwillig und die Einschreibung ins Wahlregister automatisch. Nach einer Studie der Universidad Diego Portales werden wohl nur um die 66 Prozent der Wahlberechtigten ihre Kreuze machen. Ein solches politisches Desinteresse und Misstrauen gegenüber der Politik und den PolitikerInnen würde selbst nicht an der strahlenden Gewinnerin Michelle Bachelet vorbeigehen.

[1] Centro des Estudios Públicos: Estudio Nacional de Opinión Pública, Nr. 70, September-Oktober 2013, http://www.cepchile.cl/1_5388/doc/estudio_nacional_de_opinion_publica_septiembre-octubre_2013.html.
[2] Universidad Diego Portales: Encuesta Nacional UDP, 17. April 2013, http://www.encuesta.udp.cl/2013/04/encuesta-nacional-udp-revela-fuerte-desconfianza-y-desconocimiento-de-actividad-politica/.

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Bildquellen: [1] Quetzal-Redaktion, cs; [2] Ricardo Stuckert, Agencia Brasil; [3] Marco Enríquez-Ominami_

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