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Die „Diktatur der Politisch Korrekten“ und ihre Feind*innen – Die Ideologiekrise des fortschrittlichen Denkens

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Lesedauer: 8 Minuten

Seit knapp einem Jahrzehnt ist in vielen Teilen der Welt „Politische Korrektheit” ins Fadenkreuz rechter Gruppierungen aller Art geraten, die mit politischen und „fortschrittsorientierten” Diskursen kollidieren, wie z.B. Förderung von ethnischen, durch rassistische Diskriminierung bedrohten Menschen, Geschlechtergleichstellung und soziale Gerechtigkeit. „Genderideologie”, „Kulturmarxismus”, die „neue Sprache des Fortschrittsglaubens” und „sozialistischer Totalitarismus” haben sich schon seit geraumer Zeit als Gemeinplätze im rechtskonservativen und rechtsextremen Verständnis eingenistet, dessen Kernthemen aus Familie, Religion, Freiheit des Individuums, republikanischen Werten und einem ausgrenzenden Nationsmodell bestehen.

In Bolivien kam es zu einen erheblichen Vorstoß für diese soziopolitische antikulturelle Bewegung. Unter ihren wesentlichen Auftritten waren natürlich die gesellschaftlichen Unruhen vom Oktober und November 2019, angeführt von jungen Erwachsenen aus dem akademischen Bereich und Berufstätigen der Mittelschicht, die gegen Indigenismus und „Sozialismus“ wetterten und die Werte Bolivien_LaPaz_Bild_quetzalredaktion_gceines christlichen Mestizo-Boliviens als Republik zurückforderten. Die Oktober-Novemberkrise 2019 war für die Rechten ein Sägen am Fundament des progressiven Gedankenguts. Die Machtübernahme durch Jeanine Añez brachte die Bibel in den Palast, radierte die Wiphala1 auf den Geburtsurkunden aus und die neue Regierung wurde mit dem Blut der indigenen Landwirte und Arbeiter bei den Massakern von Sacaba und Senkata im November 2019 getauft; ein Vorgehen, das bei weiten Teilen der städtisch-mestizischen Mittelschicht begeisterten Anklang fand.

Fast ein Jahr lang unter der besagten Regierung wurden multikulturelle und fortschrittliche Symbole mit Füßen getreten, die internationale Berichterstattung verboten, Hundertschaften an Demonstrant*innen der unterdrückten Gesellschaftsschichten eingesperrt und dabei gefoltert, wie ein Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission belegt. Obwohl die Regierung Jeanine Añez durch mehrere Korruptionsskandale rasch in Verruf geriet und daraufhin eine neue Verwaltungsspitze der MAS unter Luis Arce Catacora ihren Platz einnahm, bleiben die politisch-kulturellen Bedingungen, die den Aufstieg der Extremen Rechten ermöglichte, bestehen. Ziel des Artikels ist es, einige Hypothesen über die kulturellen Bedingungen der Ideologiekrise des Fortschritts zu diskutieren, die durch den soziopolitischen, antikulturellen Aufruhr und den Aufstieg der Rechten bis hin zum Palacio Quemado im Oktober/November 2019 offengelegt wurde.

Die „Diktatur der politischen Korrektheit“ und die Ursache der Ideologiekrise des fortschrittlichen Denkens

Hypothese: Der Nährboden auf dem Hetze Gestalt annahm und rechtspolitische Stimmen gegen „Sozialismus” und „Genderideologie” laut wurden, sollte entzogen werden durch die Versuche fortschrittlicher Regierungen soziokulturelle, ethnische, klassen-und genderbasierte Ungleichheit des späten Kapitalismus zu beheben. Multikulturalismus erfordert Toleranz und die Anerkennung der Würde anderer, Einheit in Vielfalt – in einer Welt, in der Unterschiedlichkeit eng mit Ungleichheit verwoben ist. Unter diesem Gesichtspunkt wird das Recht auf die Würde des/r Anderen vereitelt, da diese/r nicht nur anders ist, sondern oft ungleich behandelt wird.

Spätkapitalistische, patriarchalische, rassistisch strukturierte Gesellschaften erhalten auf vielerlei Weise Ungleichheit zwischen den Anderen aufrecht und machen so aus der multikulturellen Forderung nach rechtlicher Anerkennung eine Utopie und eine Quelle immer wieder produzierter Widersprüche. Sehen wir uns das an einem Beispiel an: Das Gesetz gegen Rassismus und jegliche Form der Diskriminierung. Unter anderem verhängt das besagte Gesetz Freiheitsstrafen gegen Personen, die rassistische Beleidigungen geäußert haben. Das Inkrafttreten des neuen Gesetzes, die überwältigenden Kampagnen gegen Rassismus und Diskriminierung und das zusätzliche Risiko sich strafbar zu machen, führte zur Vermeidung rassistischer Ausdrücke, aber änderte nichts an der rassistischen Wahrnehmung des/r Anderen. Das Gesetz und der Antidiskriminierungsdiskurs konnte rassistische Äußerungen hemmen, aber nichts gegen den klassenmarkierten, machistischen und rassifizierenden Habitus ausrichten, der seine tiefsten Ursprünge im neokolonialen und patriarchalischen Kapitalismus hat.

Der rechtsextreme Diskurs fordert letztendlich das Recht der privilegierten Gruppen zurück in den Bereichen Klasse, Ethnie und Gender, um unbeschränkt unterdrücken zu können: Die Liberalen fordern das kapitalistische Recht, unbegrenzt Kapital anhäufen zu dürfen, ohne irgendeine „sozialistische“ Regulierung; die weißen Rassist*innen fordern ihr Recht, sich nicht mit Migrant*innen oder anderen rassifizierten Gruppen zu mischen, d.h. dass „ihre Stadtviertel“, „ihr Land“, „ihre Stadt“ (so die Biker der Resistencia Juvenil Kochala) nicht von den „Horden“ der Verdammten dieser Erde überschwemmt werden sollen; die Bewegungen für den Schutz des Lebens fordern ihr historisches Gewohnheitsrecht des Patriarchats ein, nämlich über den Körper der Frau zu entscheiden.

Von diesem Standpunkt aus ist der rechte Angriff gegen den Fortschrittsgeist auf politischer Ebene durch das Streben nach vollständiger Vorherrschaft gekennzeichnet – eine Herrschaft, die sie unrechtmäßig innehaben, aber mit Einschränkungen vonseiten fortschrittsorientierter Kräfte. Im Diskurs fordern die herrschenden Gruppen, man solle ihr Recht auf abschätzige freie Meinungsäußerung gegenüber den Unterdrückten respektieren. Genau auf diese Erfahrung, ihre Verachtung nicht offen zeigen zu können, gründet sich der Diskurs der „Diktatur der politischen Korrektheit“.

Die Tiraden rassistischer Beschimpfungen nach dem Fall von Evo Morales im November 2019, das Feiern der Senkata- und Huayllani-Massaker in den sozialen Netzwerken im November, machte den Zusammenbruch des multikulturalistischen Weltbilds, das, was die Rechten „Diktatur der politischen Korrektheit“ nennen, offenbar. Befreit von der Zensur der MAS-IPSP- Regierung entluden die Mittelschicht, die Wohlsituierten und die Mestiz*innen offen ihre ganze Verachtung und ihren Abscheu gegen „den Indio”, „den Cholo”, die Unterdrückten.

Die Ideologiekrise des Fortschrittsgeistes

In einem Gespräch mit einem beratenden Anwalt, ehemaliger Parteiangehöriger und Beamter in mehreren MAS-Regierungen, kamen wir auf die Risiken zu sprechen, die Paketzusteller*innen auf Motorrädern ausgesetzt sind und die den Nachrichten zufolge mindestens achtundfünfzig Prozent der Unfallopfer in Cochabamba ausmachten. „Wenn ich Auto fahre, und sie sehe, gebe ich ihnen immer den Vorrang“, sagte mein Gesprächspartner.

Mir scheint, was der Anwalt sagte, bringt den Fortschrittsgeist der Epoche auf den Punkt: Er machte deutlich: dem/r Arbeitenden muss Respekt entgegengebracht werden, er hat Vorrang. Er wird nicht überfahren – wie es bei den achtundfünfzig Prozent der Verkehrsunfälle der Fall war. In der Metapher gesprochen können wir anführen, dass ein rechtsextremer Fahrer das Überlegenheitsrecht beansprucht, die ganze Straße für sich einzunehmen, trotz des Motorradfahrers. Wenn das einen Unfall verursacht, bei dem der Zusteller geopfert wird, wird der progressiv denkende Mensch das Recht des Schwächeren im Straßenverkehr verteidigen. Sowie der Progressive, als auch der rechts eingestellte Fahrer gehen davon aus, dass die Klassenungleichheit eine Tatsache ist. Unserer Ansicht nach ist diese Prämisse der Realitätserfahrung die Ursache für die Achillesferse der fortschrittlichen Einfühlsamkeit.

Bolivien_LaPaz_Bild_quetzalredaktion_solebDer grundlegende Widerspruch des fortschrittlichen Denkens besteht darin sich für das harmonische Zusammenleben verschiedener Ungleicher einzusetzen, in einer Welt, die täglich dieses Prinzip verneint, indem sie Ungleichheiten vertieft und die unterschiedlichen Menschen zu Antagonist*innen macht.

Vielen ist der Zwischenfall in einem Omnibus in Santa Cruz noch in Erinnerung: Die Polizei nahm eine „Dame” fest, die es im öffentlichen Verkehrsmittel wagte eine Quechua-Frau mit Pollera anzuschreien und sie als „Scheiß-Chola!” zu beleidigen. Obgleich die Frau eine Geldbuße zahlen musste, änderte die Maßnahme nichts an der Tatsache, dass Schulen, Medien, Unternehmen, Universitäten etc. täglich Menschen aufgrund von Ethnie und Klasse einordnen und abwerten. Die Beleidigung „Scheiß-Chola“ ist lediglich ein diskursiver Ausdruck für die die Ethnien-Klassen-Konstrukte und damit gerade mal die Spitze des Eisbergs.

[…]

Die fortschrittlichen Gesetze und Regierungen tadeln im Prinzip die dominanten Schichten dafür, dass sie sich so benehmen, wie es ihnen ihr gesamtes soziales Umfeld eingebläut hat. Sie hoffen, die Unterdrückungsverhältnisse und Beherrschung zu regulieren, indem sie gewaltvolle Ausbrüche abmildern, in Gesellschaften, die exakt aus diesen gewaltvollen Verhältnissen aufgebaut sind. Damit wecken sie den Zorn der Rechten, die den Weg der Reformen hin zu einer Überwindung ethnisch-basierter Widersprüche, also des „Kolonialismus”, scheitern lässt, woraufhin sich die Progressiven dem Sozialismus zuwenden. Also hat die Maßnahme in den meisten Fällen das komplette Gegenteil bewirkt, nämlich, den Brand des Neofaschismus, des Neoklerikalismus und des radikalen Anarchismus zu schüren.

Die Erfahrung zeigt die beträchtlichen Grenzen des Reformenweges, Veränderungen schrittweise und auf ein offenes Verständnis bauend durchführen zu können, so wie es von fortschrittlichgeprägten verschiedenen Lagern angedacht wird. Dabei drängt sich erneut die Diskussion auf, dass es notwendig ist, die materiellen und sozialen Grundfesten zu erschüttern, die aus verschiedenen Unterdrückungsmustern bestehen (rassistische, gender-und klassenbasierte Diskriminierung) auf deren Boden kontrakulturelle und rechtsextremistische Bewegungen Gestalt annehmen konnten. D.h., vorzugehen gegen häusliche Unterdrückung, den übermächtigen Anteil an Privatbesitz an Produktionsmitteln,-bedingungen, und -material (Banken, Ländereien, Großkonzerne) und gegen kulturelle Hegemonie (Mainstream-Kommunikationsmedien, Privat-und Konfessionsschulen und weitere Institutionen). Die Ideologiekrise des fortschrittlichen Denkens beweist, dass die Abwägung „Reform oder Revolution”, die Rosa Luxemburg vor mehr als einem Jahrhundert zur Sprache brachte, wieder hochaktuell ist.

 

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Originalbeitrag aus Bolpress, Ausgabe vom 3.08.2022. Mit freundlicher Genehmigung der Zeitung. 

Übersetzung aus dem Spanischen: Uta Hecker

Bilder: [1] Quetzal-Redaktion_gc [2] Quetzal-Redaktion_soleb

1 Indigene Flagge (Anmerkung Übs.)

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