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Chile – 25 Jahre danach

Jürgen Schübelin | | Artikel drucken
Lesedauer: 17 Minuten

Vor 25 Jahren, am 11 .September 1973, putschten sich in Chile die Generäle an die Macht. Die eigene Luftwaffe legte den Präsidentenpalast in Schutt und Asche. Präsident Salvador Allende starb während des Sturmangriffs auf die Moneda. Siebzehn dunkle Jahre dauerte das Regime der Militärs unter Augusto Pinochet. Der Staatsterrorismus verschlang Tausende von Menschenleben und teilte die chilenische Gesellschaft für immer. Doch stärker noch als die Blutspur der Militärs prägte die durch den Putsch möglich gewordene – und in dieser Radikalität bis heute einzigartig gebliebene – kapitalistische Revolution unter Pinochet dieses südamerikanische Land.

Chile wird seit den sechziger Jahren in der einschlägigen Literatur nicht mehr als Entwicklungsland apostrophiert, sondern als Schwellenland. In der Analyse lateinamerikanischer Wirtschaftswissenschaftler setzt sich mit immer mehr Vehemenz der Begriff país emergente (aufstrebendes Land) durch. Mit kaum verbrämter Euphorie feiern die Regierung und der Finanzsektor die seit 1986 ununterbrochen hohen Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts, die relativ niedrige Inflation, die hohe Sparrate und die beachtlichen Auslandsinvestitionen. Ihr Ziel ist es, das Stereotyp „Chile Pinochets“ durch das neues Markenzeichen Modell Chile zu ersetzen. Das seit den Unabhängigkeitskämpfen historisch verfestigte Wunschdenken der kreolischen Eliten, als Teil der zivilisierten, kultivierten, westlichen Welt anerkannt zu werden und die Aufnahme als ständiges Mitglied in den Kreis der erfolgreichsten Nationen zu erreichen, scheint für viele jetzt – vor der Jahrtausendwende – endlich Wirklichkeit zu werden. Die penetrante Lautstärke, die unverhohlene Arroganz der Werber für das „Modell Chile“, ihre krampfhaften Bemühungen, immer „Klassenbester“ in dieser imaginären Schule der Aufstiegskandidaten in die „Erste Welt“ sein zu wollen, wurzelt in dem tief verankerten Wunsch, ein für alle Mal den historischen und geographischen Schönheitsfehler, durch den Chile in eine so wenig attraktive Nachbarschaft, eine so geschäftsschädigende Umgebung – eben das restliche Lateinamerika – geraten ist, zu korrigieren.

Die große Transformation

Nach Jahrzehnten der Krise und sich wiederholender Fehlschläge beim Versuch, eine nachholende industrielle Revolution zu erreichen, mit der die ökonomische Integration aller Chilenen bewältigt werden sollte, war es der Staat, der in den dreißiger Jahren schließlich die Schlüsselrolle beim Aufbau eines nationalen Entwicklungsmodells übernahm. Das Ziel war, die immer stärker werdenden sozialen Spannungen durch einen groß angelegten nationalen Industrialisierungsprozess unter Kontrolle zu bringen. Der chilenische Historiker Gabriel Salazar (1997) spricht von dem Versuch einer „fordistischen Revolution“ mit dem Staat als Modernisierungsmotor und stellvertretendem Repräsentanten des chilenischen Industriekapitalismus. Der Staat übernahm die Rolle des großen Protektors der Industrie und war bereit, wenn nötig, die Ankurbelung produktiver Prozesse mit erheblichen Ressourcen zu ermöglichen. Chile erlebte ab 1939, unter der Verantwortung der sozialdemokratischen Regierungen dieser Epoche, seinen eigenen new deal zwischen den großen (mehrheitlich staatlichen) Industrieunternehmen und den organisierten Arbeitern. Es waren die Jahre der wichtigsten Investitionen in Bildung, öffentliches Gesundheitswesen, soziale Dienstleistungen und Infrastruktur. Der Staat trieb den sozialen Wohnungsbau voran und setzte ein umfassendes System sozialer Sicherung durch.

Diese Mischung aus Strategien nachholender Entwicklung (unter Präsident Pedro Aguirre Cerda), behutsamen Versuchen eines desarrollo autocentrado (unter Eduardo Frei und Salvador Allende), vermengt mit Elementen keynesianischer Steuerungspolitik – und dabei immer in Konkurrenz zu national-populistischen Heilsverkündern – hat nach dem Urteil von Salazar und anderer Analytiker dieser Epoche nie zum ersehnten take off geführt. Die industrielle Revolution a la criolla und der Versuch der wirtschaftlichen und sozialen Integration aller Chilenen sind letztlich gescheitert.

Die blutige Machtergreifung im September 1973 durch die „politisch-militärische Klasse“, die bei diesem Unterfangen durch ein breites Bündnis der „zivilen politischen Klasse“ unterstützt wurde – denen es beiden klar um die Zerschlagung der „Zivilgesellschaft“ ging – ist der einschneidendste Veränderungsprozess in der chilenischen Geschichte. J. Martínez und A. Díaz (1996) sprechen von der gran transformación, Salazar apostrophiert diese Umwälzung als „die endgültige kapitalistische Revolution“.

Ihre wichtigste Grundlage besteht in der massiven Ausweitung des rohstoffexportierenden Primärsektors (Kupferbergbau, Fischmehl, Früchte für den Export, Holz). Die Politik einer nachholenden Industrialisierung, die das Ziel hatte, den Import von Konsumgütern zu ersetzen (1939 -1973) und so den Binnenmarkt zu stärken, wird mit einem Schlag beendet. An ihre Stelle tritt nun die Strategie, die großen nationalen Industrien -zum Beispiel im Textilbereich – durch „territorial kleine, aber merkantil starke, automatisierte und internationalisierte Betriebe zu ersetzen, produktive Prozesse zu zerstückeln und wichtige Segmente auszulagern. Das alles geschieht mit dem Ziel – ohne das Risiko von Widerstand – Automatisierungen durchzusetzen, und sich gleichzeitig der Kosten für menschliche Arbeit zu entledigen, indem alle verbleibenden arbeitsintensiven Bereiche im Produktionsprozess in einem Hort von abhängigen Kleinstunternehmen angesiedelt werden“.

Ein weiteres charakteristisches Element dieser „Modernisierung“ der chilenischen Ökonomie ist die Eigentumskonzentration in den Händen großer Finanzgruppen. Der Wirtschaftswissenschaftler Hugo Fazio zeigt in einer Untersuchung aus dem Jahr 1997, dass der Börsenwert der großen Konsortien und Wirtschaftsgruppen an der Börse problemlos das chilenische Bruttoinlandsprodukt übertrifft. Im April 1997 erreichte allein der Papierwert jener 40 chilenischen Unternehmen, die im nationalen Aktienindex IPSA registriert werden, 43,4 Milliarden US-Dollar, also 60 % des BIP. Die zehn größten Holdings im Land kommen bereits auf 32,4 Milliarden US-Dollar; dies entspricht einem Anteil von 45 % des BIP.

Ökonomie der Vergangenheit als Modell für die Zukunft

Die jedoch einschneidendste Veränderung der wirtschaftlichen Struktur Chiles – durchgesetzt in gerade zwei Jahrzehnten – besteht in der Umgestaltung einer auf den Binnenmarkt zentrierten, regulierten und geschützten Produktions- und Industriekultur hin zu einem offenen System, das sich auf den Export von Rohstoffen, auf die Privatisierung und die konsequente Eingliederung in den Weltmarkt stützt. Dabei werden zwei komparative Vorteile ausgespielt: die billige Arbeitskraft der Menschen und die indirekte Subvention durch Ausklammerung aller ökologischen Folgeschäden. Anders formuliert: Die neue chilenische Wirtschaftsstruktur ruht auf zwei Pfeilern. Der erste erinnert an den Zustand im 19. Jahrhundert: Ein Rohstoffexportmodell – fast ohne Mehrwertschöpfung – aber unter großer Beteiligung ausländischen Kapitals. Der zweite Pfeiler – schon weit ins 2 L Jahrhundert hineinragend – symbolisiert Chile als Teil eines ökonomischen Systems der großen Maßstäbe, als Anbieter von Dienstleistungen für das Finanzkapital, fest integriert in eine postmoderne, tertiarisierte und entstofflichte Wirtschaft. Trotz der wachsenden Bedeutung des Dienstleistungssektors für das BIP basiert das seit 1986 kontinuierlich steigende Wirtschaftswachstum vor allem auf der intensiven Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Obwohl das Land heute weniger vom Kupferexport abhängt als noch vor 30 Jahren, als der Verkauf der Erze 80 Prozent aller Ausfuhren ausmachte, hat die Abhängigkeit vom Rohstoffverkauf nicht abgenommen. Heute setzt sich die Angebotspalette für den Weltmarkt aus zerkleinertem Holz (chips) für die Herstellung von Zellulose und Brennholz, aus Fischmehl, Fetten und Fischölen, Obst und Früchten, Gemüse sowie den Bergbauprodukten Gold, Silber, Lythiumkarbonat, Molybdän, Eisen, Salpeter und Jod zusammen.

Ein Wachstumsmodell, das sich fast ausschließlich auf die intensive Ausbeutung von natürlichen Ressourcen stützt, ruft nicht erst mit-tel- und langfristig Widersprüche und Umweltkosten hervor. Einen wesentlichen Teil der Probleme, die durch den Preissturz von Kupfer, Zellulose und Fischmehl auf dem Weltmarkt verursacht wurden, hat Chile provoziert. [1] Die Preise schwanken nicht nur wegen der jeweiligen globalen Konjunktur und Nachfrage, „sondern“, wie der chilenische Wirtschaftswissenschaftler Rafael Agacino betont, „weil die in unseren Ländern ansässigen Produzenten versuchen, durch Überausbeutung der natürlichen Ressourcen ihre Investitionen schneller zu amortisieren und ihre Umsätze zu steigern.“ Die großen nationalen und transnationalen privaten Kupferkonzerne kontrollieren in Chile 54% der nationalen Produktion. Die starken Einbrüche beim Kupferpreis auf dem Weltmarkt lassen sich zu einem wesentlichen Teil durch eine permanente Überproduktion in Chile erklären. Ökonomen nennen dieses Phänomen: Chile produziert gegen Chile.

Das Militärregime erließ 1974 ein Gesetz, das erhebliche Zuschüsse an Holzfirmen gewährte, die Naturwälder rodeten und durch industriell nutzbare Monokulturen aus Eukalyptus und Pinien ersetzten. Der Staat übernahm aus Steuergeldern 75 bis 100% der Kosten für derartige „Umwandlungsprozesse“ und befreite obendrein die sich in derartigen Geschäften engagierenden Firmen von jeglicher Vermögens- und Grundsteuer. 1996 sorgte eine Studie der chilenischen Zentralbank, nach der bis zum Jahr 2025 – in 28 Jahren -das letzte Fleckchen heimischen Naturwaldes in Chile verschwunden sein wird, für erhebliche Aufregung.

Die „precarización “ der Beschäftigungsverhältnisse

Das Modell Chile basiert jedoch nicht nur auf einer systematischen Überausbeutung der natürlichen Rohstoffe, sondern auch auf dem Raubbau an der menschlichen Arbeitskraft. Dem Militärregime gelang durch seinen Staatsterrorismus und eine repressive Arbeitsgesetzgebung innerhalb weniger Jahre die Neutralisierung und Zerstörung der Gewerkschaftsbewegung. Die neuen Arbeitsgesetze (Leyes Piñera) vom Juli 1979 ermöglichen die Atomisierung der Gewerkschaften. In mittleren und großen Betrieben können parallel mehrere Gewerkschaften existieren, die alle in Konkurrenz zueinander stehen. Jeder Firmenchef verhandelt mit jeder Gewerkschaft einzeln über eventuelle Lohnsteigerungen und die Verbesserung von Arbeitsbedingungen. Im Fall eines Streiks kann das Unternehmen sofort Ersatzpersonal beschäftigen. Sollte der Arbeitskonflikt nach 60 Tagen noch nicht beendet sein, müssen die Streikenden zurück an ihre Arbeitsplätze, sonst werden sie entlassen. Ein Beschäftigter hat während eines Streiks weder ein Anrecht auf Lohn noch auf Sozialversicherungsbeiträge.

Die radikale Flexibilisierung menschlicher Arbeit, die durch das Militärregime als politisches Instrument zur Disziplinierung, zur Verhinderung jeglicher gewerkschaftlicher Strukturen und zur frühen Erstickung möglicher Widerstandsherde verstanden wurde, ist der Globalisierung uneingeschränkt dienlich. Sie verlangt nämlich keine strengen und dauerhaften Strukturen, sondern eher elastische und flexible Vernetzungen.

Die beiden chilenischen Ökonomen Yáñez und López (1996) definieren „Flexibilisierung“ nur als Instrument, das Einstellung und Entlassung eines Beschäftigten vereinfacht. Espinoza et al. (l997) ergänzen in ihrem Versuch der Systematisierung dieses Phänomens folgende Aspekte von Flexibilisierung: Arbeit ohne schriftlichen Vertrag, Arbeit ohne jegliche Sozialversicherungsbeiträge, Bezahlung unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns und exzessive Ausweitung der täglichen Arbeitszeit. All diese Elemente fassen sie unter dem Begriff „precarización von Arbeit“ zusammen.

In Chile konzentrieren sich diese prekären Arbeitsformen rund um die Achsen des Wirtschaftsmodells: in der Exportlandwirtschaft, der Holz- und der Fischindustrie. Die weltweite Tendenz, Produktionsprozesse in Subunternehmen auszulagern, spiegelt sich in Chile in der immensen Zahl von Klein- und Kleinstbetrieben wider, die für die „großen“ automatisierten Unternehmen arbeiten. Es sind diese subcontratistas, die besonders schlechte Arbeitsbedingungen anbieten. Sie sind immer gerade so groß, dass es ihre Mitarbeiterzahl gesetzlich nicht zulässt, eine Gewerkschaft zu gründen. In diesen microempresas konzentriert sich der höchste Prozentsatz von Menschen, die ohne Vertrag und soziale Sicherung arbeiten müssen.

Diese Situation betrifft vor allem die armen Bevölkerungsteile. Aus der Gruppe der ärmsten 20 Prozent im urbanen Raum findet ein Fünftel nur im informellen Bereich Arbeit; weitere 15 Prozent der Erwerbstätigen aus diesem Bevölkerungssegment sind gezwungen, sich ohne Arbeitsvertrag anstellen zu lassen; 40% sind keiner Rentenversicherung angeschlossen; 13% erzielen mit ihrer Arbeit nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn. Insofern überrascht das Ergebnis einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nicht: Beim Vergleich der Arbeitskosten in verschiedenen Ländern hat die ILO ein entscheidendes Geheimnis des „chilenischen Wunders“ aufgedeckt. So betragen die Lohnstückkosten, d.h. die Lohnkosten je Produktionseinheit, in den USA 45%, in Südkorea 28%, in Brasilien 24%, in Argentinien 21%, in Mexiko 20% und in Chile lediglich 19%.

Krise der Gewerkschaften

Eine weitere Ursache für diese precarización menschlicher Arbeit beruht darauf, dass die Arbeitszeit in Chile während der zurückliegenden zehn Jahre konstant ausgedehnt wurde. Die durchschnittliche Arbeitszeit von nichtlandwirtschaftlich Beschäftigten beider Geschlechter hat von 1983 (42,4 Stunden pro Woche) bis 1994 (45,3 Stunden) zugenommen. 1986 arbeitete ein Drittel der Männer und ein Fünftel der Frauen 48 Stunden pro Woche. 1994 sahen sich 10,4% der Frauen und 9,0% der Männer gezwungen, 60 oder mehr Stunden in der Woche zu arbeiten. Eine zwölf Länder der Region umfassende Studie der CEPAL (UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Lateinamerika) ergab für 1994, dass in Chile 70,2% der urbanen Erwerbstätigen länger als 45 Stunden in der Woche arbeiten müssen. Dies ist mehr als in allen anderen Ländern der Region. In Argentinien sind 49,4%, in Brasilien 42,9% und in Venezuela 34, l % mit einer Wochenarbeitszeit von mehr als 45 Stunden belastet.

Diese verlängerten Arbeitszeiten, die im Extremfall bis zu 75 Stunden pro Woche erreichen können, ergeben sich in vielen Fällen durch die Notwendigkeit, mehr als einen Arbeitsplatz, oft in unterschiedlichen Betrieben und an unterschiedlichen Arbeitsorten, annehmen zu müssen. Nachdem der Arbeitnehmer seinen „normalen“ Arbeitstag beendet hat, sieht er sich gezwungen, eine zweite oder dritte Beschäftigung anzunehmen, Nachtarbeit und Wochenendjobs. Einen Ausgleich gibt es nicht. In den meisten chilenischen Betrieben werden den Beschäftigten lediglich zehn Ferientage pro Jahr zugestanden.

Henríquez/Roman beschreiben auch, wie durch das allmähliche Verschwinden von Teilzeitjobs Frauen gezwungen werden, mehr und mehr Stellen mit einer wöchentlichen Arbeitszeitbelastung zwischen 44 und 54 Stunden anzunehmen. Der Anteil von Frauen in derartigen jornadas prolongadas ist sogar noch größer als der der Männer. So ist beispielsweise die Mehrheit der Straßenhändler und informellen Verkäufer weiblich. Insgesamt wird geschätzt, dass 1,5 Millionen Menschen in Chile gezwungen sind, unter informellen Bedingungen, also ohne Verträge, zu arbeiten. Von ihnen sind nur 4% (60.122 Personen) in der Lage, Beiträge für irgendein Sozialversicherungssystem zu zahlen.

Die Situation verschlechtert sich noch durch das Fehlen eines organisierten Gegengewichtes. Der Zerfall der chilenischen Gewerkschaftsbewegung und die wachsende Individualisierung des Marktzugangs sowie des gesamten sozialen Lebens verstärken die „precarización der Arbeitsverhältnisse“. Nach einem kurzen Aufschwung während der ersten beiden Amtsjahre unter Patricio Aylwin nimmt der Prozentsatz der einer Gewerkschaft angehörenden erwerbstätigen Chilenen seit 1991 kontinuierlich ab. Waren 1991 noch 15,4% der Erwerbstätigen gewerkschaftlich organisiert, so sank diese Quote 1995 auf 12,7%.

Der Soziologe Patricio Frías (1969) führt dieses Phänomen unter anderem auf die Tendenz zurück, dass Unternehmen immer mehr Produktionsschritte und Dienstleistungen auslagern. Es ist eine Vielzahl neuer Unternehmen, die von ihrem Personal bei der Einstellung explizit den Verzicht auf das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, fordert. Die Gewerkschaften verlieren also nicht nur Mitglieder (im Durchschnitt gehören heute einer chilenischen Einzelgewerkschaft nur noch 50 Mitglieder an), sondern auch immer mehr Gewicht, um von den Unternehmern ernst genommen zu werden. Sogar die Regierung der Concertación unter dem Christdemokraten Eduardo Frei (1994 – 2000) erkennt an, dass eine der strukturellen Ursachen für die extreme Ungleichheit der Einkommen in Chile darin besteht, dass den Arbeitern die Freiheit vorenthalten wird, sich zu organisieren und so gemeinsam über Lohnerhöhungen zu verhandeln.

Einige Wirtschaftswissenschaftler verbinden die Atomisierung der Gewerkschaften und die neue Strukturierung des Arbeitslebens (durch verstärkte Auslagerung von Produktionsprozessen in Subunternehmen) mit einem weiteren Phänomen: die extreme Verschuldung der privaten Haushalte mit mittlerem und niedrigem Einkommen. Um nach außen hin einen gewissen Status erhalten zu können, verschulden sich immer mehr Familien durch Kredite für Konsumgüter. Die Handelskammer von Santiago hat errechnet, dass im Durchschnitt jede chilenische Mittelschichtsfamilie um ein 3,6faches ihrer monatlichen Einkünfte verschuldet ist. Verursacht werden diese Belastungen durch Einkäufe mit Kreditkarten, Ratenkaufverträge und Konsumgüterkredite. Ende 1995 erreichten diese privaten Schulden, die durch den Ausgaben im Konsumbereich (also nicht durch Hypothekenbelastungen) verursacht wurden, 4 Milliarden US-Dollar, was einer Pro-Kopf-Belastung von über 260 US$ entspricht. Dieser Schuldenberg wächst jährlich um 18% und zieht eine bemerkenswerte Steigerung der Auslandsverschuldung Chiles nach sich, die im Mai 1997 24,4 Milliarden US$ betrug, d.h. l ,3 Milliarden mehr als noch im Dezember 1996. Während in den achtziger Jahren die Staaten Lateinamerikas mit ihren Auslandsanleihen eine Schuldenkrise verursachten, sind es heute – zumindest in Chile -die privaten Haushalte: 79,4% der Auslandsverschuldung wird dem privaten Bereich zugeschrieben, nur noch 20,6% sind öffentliche Anleihen.
All dies erhärtet die These, dass Chile – früher als jedes andere Land in Lateinamerika und mit großer Brutalität – auf das Zeitalter der Globalisierung vorbereitet wurde.

Ungleiche Verteilung

Die ungleiche Einkommensverteilung, die Vertiefung der Abgründe zwischen Arm und Reich sind zum markantesten Schönheitsfehler des neuen Markenzeichens „Modell Chile“ geworden. Die Weltbank katalogisierte Chile 1996 als das Land mit dem weltweit neuntschlechtesten Ergebnis in Sachen Einkommensverteilung. Der Anteil der 20% Reichsten im Land erzielt nach den Berechnungen der Weltbank ein Einkommen, das 18,3mal größer ist als das der 20% Ärmsten. Dieser Anteil des reichsten Fünftels der Bevölkerung umfasst 61 % des Nationeinkommens.

Wohin sich Chile in diesen Jahren bewegt hat, wird noch deutlicher, wenn man die durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen, die von der nationalen Statistikbehörde (INE) letztmals im Oktober 1996 erfasst wurden, vergleicht. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Monatseinkommen in einem Haushalt, der zum Segment der 10% Ärmsten gehört, erreichte damals 18.620 Pesos (ca. 43 US $), während es in den Haushalten des reichsten Bevölkerungszehntels 684.490 Pesos (1.611 US $) betrug- 37mal mehr. Die UN-Organisationen CEPAL resümierte diesen Zustand 1993 mit folgendem Rechenexempel: 25% der chilenischen Bevölkerung teilen sich 5% des Einkommens im Land, 50% aus den mittleren Sektoren stehen 25% zur Verfügung und die 25% Reichsten beanspruchen 70%.

Die Schere wird immer größer

Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich in Chile im Verlauf der zurückliegenden drei Jahrzehnte immer weiter geöffnet. Während in den 17 Jahren unter dem Militärregime dem Phänomen keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wurde, trat Patricio Aylwin im März 1990 sein Mandat als Präsident der ersten Regierung des „Übergangs zur Demokratie“ mit dem Versprechen an, für ein „Wirtschaftswachstum mit gerechter Einkommensverteilung“ zu kämpfen. Diese Zusicherung beruhte auf der Überzeugung, dass ein verstärktes Wirtschaftswachstum und einige umverteilende Maßnahmen sowie eine darauf fokussierte staatliche Sozialpolitik diejenigen sozialen Gruppen, die durch den Verelendungsprozess während der Jahre des Militärregimes am stärksten in Mitleidenschaft gezogen worden waren, am zunehmenden Reichtum des Landes beteiligen könne. Was sich jedoch entwickelte, war ein „Wachstum ohne Gleichheit“, ein eindrucksvoller Anstieg von Reichtum ohne die entsprechend gerechte Verteilung. Die Jahre mit dem höchsten Wirtschaftswachstum in Chile sind gleichzeitig die Periode, in der sich die Schere zwischen Arm und Reich am schnellsten öffnete. Der Anteil der ärmsten 20% der chilenischen Bevölkerung am im Land erzielten Geldeinkommen ist heute geringer als noch vor zehn Jahren. Am extremsten zeigt sich das im Segment des ärmsten Zehntels der Chilenen. Ihr Anteil am Lohneinkommen sank von l ,7% im Jahr 1992 auf l ,2% (1996). Dem steht die Vergrößerung des Anteils der reichsten 30% gegenüber. Sie bauten ihre Partizipation am Lohn- und Geldeinkommen Chiles von 1992 bis 1996 von 66,7% auf 67,7% aus.

Um es noch einmal zusammenzufassen: Extreme Armut ist in Chile unmittelbar mit dem Problem verknüpft, eine angemessen bezahlte Arbeit zu finden. Im ärmsten Zehntel der Bevölkerung erreicht die offizielle Arbeitslosenrate 21,8%. Für Frauen und Jugendliche liegen diese Zahlen noch höher. In der Gruppe der bereits wirtschaftlich aktiven oder arbeitssuchenden Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren aus urbanen Armenvierteln waren im November 1997 35% ohne Beschäftigung. Diese Zahlen dokumentieren die fatalen Konsequenzen eines „klassischen“ Teufelskreises.

Der frühe Eintritt in den Arbeitsprozess, der durch die Armut erzwungen wird, führt zum Verlassen des formalen Bildungssystems schon nach wenigen Grundschuljahren. Die Konsequenzen des viel zu frühen Einstiegs in den Arbeitsmarkt, verbunden mit dem Schulabbruch, führen, wie auch das chilenische Planungs- und Entwicklungsministerium anerkennt, in eine klassische Sackgasse: hohe Arbeitslosenzahlen, unsichere, extrem schlecht bezahlte (hauptsächlich informelle) Beschäftigung verhindern dauerhaft die Möglichkeit zur sozialen Integration hunderttausender Jugendlicher.

Nach der Ursache muss nicht lange geforscht werden. Der chilenische Staat gibt monatlich für die Ausbildung eines Kindes in einer öffentlichen Grundschule ganze 30 Dollar aus. Eltern eines Kindes, das eine private Schule besucht, bezahlen im Monatsdurchschnitt 250 Dollar. Im gesamten chilenischen Staatshaushalt wurden 1997 für den Bereich Bildung (die Zuschüsse für die Universitäten eingeschlossen) 300 Millionen US $ ausgewiesen. In Chile leben 14,5 Millionen Menschen. Die beiden europäischen Staaten Portugal und Griechenland (bei jeweils 10 Millionen Einwohnern) gaben 1997 jeweils rund 1,5 Milliarden für Schulbildung aus. Das heißt, lediglich eine extrem kleine Gruppe chilenischer Jugendlicher hat die Chance zu einem Hochschulstudium. Der Anteil derjenigen, die Grundschule, Hauptschule, weiterführende Schule, Fachhochschule oder Universität abgeschlossen haben, liegt in Chile gerade bei 2,8% der Bevölkerung. In Peru sind es 6 %, in Argentinien 10% und in den asiatischen Schwellenländern im Durchschnitt 12%.

Vor Chiles Aufstieg in den Kreis der „Master club-Mitglieder“ ist das „Modell“ offenbar doch noch etwas nachbesserungsbedürftig.

* Mitarbeiter der Zeitschrift „Der Überblick“ Hamburg; Arbeitete zuvor lange Zeit in Chile.

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[1] Fast 87% aller 1995 exportierten Produkte waren Rohstoffe: 44,5% aus dem Bergbau, 17, l % aus der Landwirtschaft, 14% aus der Forstwirtschaft, 11 % aus der Fischerei und nur bei den übrigen handelte es sich um verarbeitete- oder Fertigprodukte. Um das Ausmaß der chilenischen Expansion auf dem Weltmarkt zu verstehen, genügt eine einzige weitere Ziffer: 1983 exportierte das Land Waren im Wert von 3.836 Millionen US-Dollar, zwölf Jahre später (1995) ist diese Summe auf 16.038 Millionen Dollar angestiegen.

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