„Demokratie und Verelendung sind unvereinbar“
Wie sieht in Bezug auf die Menschenrechte, das in Argentinien besonders gewichtige und kontroverse Problem, die Bilanz der letzten zehn Jahre aus?
Für uns ist das Thema Menschenrechte nicht von einem breiteren Zusammenhang zu trennen. Es handelt sich also nicht nur um individuelle Rechte, um Rechtsverletzungen wie Folter, Entführungen und Morde, wie sie unter der Diktatur so häufig waren, sondern auch um soziale Errungenschaften wie Gesundheit und Unterricht für alle. In dieser Hinsicht hat auch die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung mit den Menschenrechten zu tun, ebenso wie die politischen und sozialen Rechte. Was nun aber selbst diese letzteren betrifft, so würde ich die Bilanz als enttäuschend bezeichnen, selbst wenn wir da natürlich einige bedeutende Fortschritte hervorheben können.
Wie ist insbesondere das demokratische Zusammenleben der Argentinier nach Jahrzehnten von Intoleranz und chronischer politischer Instabilität?
Ich glaube, dieses demokratische Zusammenleben ist eher formal als real. Es gibt einige Fortschritte in Bezug auf die Teilnahme der Bevölkerung an den politischen, sozialen, kulturellen und gewerkschaftlichen Organisationen, aber andererseits sehen wir von selten der Regierenden klare Defizite in puncto demokratischer Praxis. Ich würde vor allem sagen, auf der Grundlage der Straflosigkeit für die enormen Verbrechen der Diktatur ist es unmöglich, einen wirklichen demokratischen Prozess aufzubauen. Wir haben hier eine sehr schwache Demokratie, die unter schwerem Druck zu leiden hat, und zwar nicht nur von Seiten der Militärs, sondern auch der herrschenden wirtschaftlichen Interessen. Und dieser starke Druck preßt die Demokratie in eine sehr enge Zwangsjacke hinein. (…)
Wie ist man denn von dieser exemplarischen Bestrafung der Hauptverantwortlichen zu ihrer stufenweise Begnadigung abgeglitten?
Es ist ja dann ein starker Druck von selten der Militärs und auch der herrschenden Kreise der Wirtschaft gekommen, mit mehreren Militärrebellionen, und Alfonsin hat nachgegeben, obwohl er sich der Unterstützung durch die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sicher sein konnte. (…) Und von da an, würde ich sagen, hat seine Regierung sehr schnell an moralischer Autorität und Durchsetzungskraft verloren. Es kamen dann bald jenes „Schlusspunktgesetz“ und dann das „Befehlsnotstandsgesetz“, das eine völlig abwegige juristische Erscheinung darstellt. Mit diesem Gesetz könnte man schließlich auch die Naziverbrechen weitgehend rechtfertigen. Das ist ausgesprochen unverzeihlich in der Alfonsin-Regierung gewesen. (…)
Ein demokratischer Prozess, der diesen Namen verdient, müsste auch im sozialen Bereich einige Voraussetzungen zeigen. Wie ist hier die Bilanz des Jahrzehnts?
Die Lage hat sich deutlich verschlechtert, in erster Linie wegen der enormen Außenschuld, die auf unserem Land lastet. Dabei ist daran zu erinnern, dass diese ja ursprünglich privat war, aber dann vom Staat übernommen wurde und somit alle Argentinier dafür zu zahlen haben. (…) Heute haben also alle, insbesondere die zwei Drittel der Bevölkerung, die nunmehr weitgehend am Rande der Gesellschaft leben, für diese neoliberale Politik und ihre Folgen zu zahlen, darunter die steigende Arbeitslosigkeit und die Konsequenzen der Privatisierung nicht nur der Staatsbetriebe, sondern auch der öffentlichen Gesundheits- und Unterrichtssysteme, alles unter Druck der vom Internationalen Währungsfonds diktierten sogenannten Anpassungspläne. Wir werden immer mehr zu einem Land ohne Produktionskapazität, und das führt selbstverständlich zur drastischen Verschlimmerung der sozialen Probleme.
Im Ausland wurde oft der neuen Demokratie Argentiniens und Lateinamerikas im allgemeinen heftiger Beifall zuteil aber wenige haben sich gefragt, ob nicht das Problem der Auslandsschuld irgendwie gelöst werden müsste, um nicht eben diese Demokratie finanziell abzuwürgen. Gibt es da nicht eine Art Schizophrenie?
Ja, ich meine, die Europäer nehmen allzuoft ihre Demokratien als Beispiel und glauben, die anderen danach beurteilen zu können. (…) Hier sind wir erst in einem Übergangsprozess, der zur Konsolidierung wirklich demokratischer Institutionen führen soll. Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich sind ganz einfach die Voraussetzungen dafür nicht gegeben. Von welcher Demokratie können wir reden, wenn es immer mehr Elend, jeden Tag mehr verlassene Straßenkinder gibt? Demokratie kann ja nicht nur bedeuten, dass man alle paar Jahre seine Stimme abgibt. Das ist die Ausübung der Demokratie, nicht die Demokratie selbst. (…)
… besonders, wenn dann der neugewählte Präsident das Gegenteil von dem tut, was er vorher versprochen hat…
Sicher, in der Wahlkampagne versprechen die Politiker viel, und dann vergessen sie das oder können es einfach nicht. Und aus allen diesen Gründen neigt die Demokratie dazu, ihr Ansehen zu verlieren, die Leute zeigen sich immer weniger an einer aktiven Teilnahme interessiert.
Ist das nicht auch zum Teil Schuld der Massenmedien? Dabei wird gerade die Pressefreiheit als eine der großen Errungenschaften dieser Jahre gefeiert…
In Wirklichkeit gibt es eine Art Zensur, keine offizielle, ausdrückliche, aber niemand spricht mehr von Menschenrechten, das ist nahezu ein Tabu, fast genauso wie unter der Diktatur. Also, hier noch einmal, von welcher Demokratie ist hier eigentlich die Rede? Ich würde sagen, die Pressefreiheit ist dem Monopol zum Opfer gefallen. Das ist auch eine der Konsequenzen der Menem-Politik: Vorher durften die Besitzer der Presseorgane keine Radio-und Fernsehstationen erwerben, aber heute, im Rahmen dieser Privatisierungswelle, beherrschen drei oder vier große Gruppen praktisch das ganze Spektrum der Massenmedien. Unabhängig davon sind nur ein paar kleine Gemeinschaftsradios und alternative Medien, und diese stehen unter dem Druck der Regierung, die sie beseitigen will. Also, wenn man hier von Pressefreiheit spricht, ist dieser Ausdruck genau genommen ausgesprochen pervertiert.
Was würden Sie zur Haltung der Kirche in der jüngere Vergangenheit sagen?
Was die Hierarchie betrifft, so ist ihre Haltung als ausgesprochen negativ zu beurteilen. Sie hat insbesondere aus Schweigen und Komplizität bestanden, und der heutige Kardinal Quarracino hat sich öffentlich über die Begnadigungen gefreut. Mit wenigen Ausnahmen – wie von Bischof Angelelli, der ermordet wurde, oder den Bischöfen Novak und Hessayne – hat sie sich ja auch damals gar nicht von der Diktatur distanziert, ein Bischof hat sogar die Folter als „reinigendes Blutbad“ gerechtfertigt. Anders hat es natürlich bei den Basisgemeinschaften ausgesehen. Viele von diesen wurden verfolgt, zahlreiche Missionare ermordet.
Die argentinische Kirche ist ja auch als besonders konservativ bekannt. Nichtsdestoweniger gab es hier in den letzten Jahren immer wieder kritische Aussagen zu sozialen Themen.
Einige Bischöfe haben ihre Stimme erhoben, und das ist ja schließlich auch ihre Aufgabe. Als Katholik bin ich ja kein Außenstehender hier, und eben daher ist es für unsereinen sehr schmerzhaft, festzustellen, daß die Kirchenhierarchie in ihrer großen Mehrheit wohl die gesamten Probleme der Gesellschaft kannte, aber nicht gegen die entsetzlichen Verbrechen protestiert hat und damit zur Komplizin geworden ist. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die Basisgemeinschaften meist sehr aktiv für Gerechtigkeit und Menschenrechte engagiert waren und sind. Das sind eben die großen Widersprüche innerhalb der katholischen Kirche Argentiniens.
Viktor Sukup, Buenos Aires
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Rettet den Uhrwald
Nachdem der Deutsche Umweltbund (oder wie dieser Verein auch immer heißen mag) eine Plastik-Telefonkarte ediert hatte, um damit unserer Umwelt zu helfen, kann sich natürlich die deutsche Industrie nicht lumpen lassen. Den Anfang macht die Hamburger Uhrenfirma WEMPE. Wie die Leipziger Volkszeitung am 19./20. Juni von ihrer Klatschreporterin berichten ließ, brachte WEMPE „pünktlich zum Beginn der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz“ die Uhr „Mojo“ heraus, welchselbige sich mit Motiven aus der Kultur des gleichnamigen Indigena-Volkes schmückt. Die Idee für die Uhr kam der WEMPE-Tochter Kim-Eva (30) bei einem Besuch in Guatemala, wo sie die indigene Kultur Boliviens, dort leben die Mojo, aus allernächster Anschauung studieren konnte. Das Meisterwerk besticht durch seine geradezu ausgesuchte Häßlichkeit und kostet 145 Mark, wovon 30 auf das Spendenkonto von Rigoberta Menchú gehen. Selbstverständlich ist das gute Stück auf 2000 Exemplare limitiert und numeriert – schließlich möchte der Spät-Yuppie bzw. dynamische aufstrebende Jungunternehmer mit Touch für die Umwelt sowie für die armen Neger und Indianer sein Engagement nicht mit jedermann teilen. Wenn schon Kunststoff, dann muß es auch was ganz Besonderes sein. Man gönnt sich ja sonst nichts. So gesehen ist wirklich keine Ausgabe zu sinnlos, um damit anderen nicht zu helfen. Hauptsache, es bereichert unser neuzeitliches Ambiente. Und wenn es außerdem noch Geld und etwas Publicity bringt…
Natürlich ist eine solche humanistische Geste alles andere als verlogen: die Indigenas merken endlich, was ihnen die Stunde geschlagen hat. Nur für den Fall, daß sie das bei der genannten Menschenrechtskonferenz immer noch nicht mitbekommen haben.