Ein Detektiv und die Liebesgeschichten eines großen Dichters
Vor reichlich zehn Jahren habe ich schon einmal einen Kriminalroman des Chilenen Roberto Ampuero um seinen Detektiv Cayetano Brulé rezensiert (Der Schlüssel liegt in Bonn/Wer tötete Daniel Kusterman?, Quetzal Nr.19/ Sommer 1997), und eigentlich hatte ich die Absicht, es dabei bewenden zu lassen. Doch dann war da diese Buchlesung in Leipzig, bei der Ampuero das Buch „Der Fall Neruda“ vorstellte. Tja, ich bekenne es: Der Mann war so sympathisch, dass ich mich selbst überredet habe, das vorgestellte Buch zu lesen und zu rezensieren. Jetzt kann ich nur feststellen, dass ich quasi eine Blaupause der alten Rezension hier veröffentlichen könnte, so ähnlich sind die Gefühle und Schlussfolgerungen nach der Lektüre.
Auch in „Der Fall Neruda“ heißt der Held Cayetano Brulé. Allerdings steht der Detektiv hier noch am Anfang seiner Karriere, und er hat nicht wirklich einen Kriminalfall zu lösen – er verfolgt vielmehr einen dieser Krimis, wie das Leben sie schreibt. Kein Geringerer als Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda beauftragt den in Kuba geborenen, in Miami aufgewachsenen und der Liebe wegen nach Chile gekommenen Brulé, eine frühere Geliebte zu finden. Der todkranke Dichter glaubt, die Tochter dieser Frau sei auch sein Kind. Und nun wünscht er sich die Gewissheit, nicht nur mit seiner Dichtung, sondern auch mit einem Kind unsterblich zu sein. Cayetano Brulé, der arbeitslos ist und dessen Ehe in Trümmern liegt, nimmt den überraschenden Auftrag an. Damit er sich in die Rolle des Detektivs einarbeiten kann, gibt ihm Neruda Maigret-Romane zu lesen. Derweil spitzt sich die politische Situation in Chile zu – wir schreiben das Jahr 1973, der tancazo genannte Putschversuch wurde gerade abgewehrt – und der frischgebackene Detektiv beginnt eine Suche, die ihn nach Mexiko, Kuba, in die DDR, nach Bolivien und schließlich wieder nach Chile führt. Am Ende wird er die Frau gefunden und scheinbar Gewissheit über die Identität ihrer Tochter erlangt haben. Aber in Chile hat das Militär die Macht übernommen, den Dichter trifft er nicht mehr lebend an.
Der Leser folgt der Handlung gewissermaßen auf drei Strängen. Da ist zum einen Pablo Neruda, dessen Liebschaften den allgemeinen Rahmen der Geschichte bilden, in der es eben auch um den Verrat menschlicher Beziehungen geht. Der Rekurs auf das Leben des Dichters ist reizvoll, Ampuero spinnt hier Nerudas eigene Erinnerungen geschickt weiter, und weckt damit sogar die Lust, die Memoiren des Dichters noch einmal zu lesen. Als Zweites wäre da die Detektivgeschichte, die nicht wirklich eine ist. Der Detektiv hat kein Verbrechen aufzuklären, es sei denn, man sehe den Verrat Nerudas an seiner früheren Geliebten als ein solches an. Aber man verfolgt die Detektivwerdung Brulés, den ja letztlich Neruda zum Detektiv gemacht hat. Und der Neuling im Schnüfflergewerbe meistert seine erste Aufgabe hervorragend. Allerdings, das sei hier eingewendet, wirken die ständigen Bezüge auf Simenon (Was hätte Maigret jetzt gemacht?) reichlich infantil, Brulé ist schließlich deutlich älter als 17.
Weiterhin wäre die abenteuerliche und reichlich verworrene Geheimdienstgeschichte zu nennen, in der Brulé nicht nur von der Stasi (sic!), sondern auch vom chilenischen militärischen Geheimdienst beobachtet wird (in der DDR!). Wieso Ampuero in diesem Buch (wieder) die finsteren Gesellen mit stechendem Blick – das ist jetzt nicht erfunden – aufmarschieren lässt, bleibt wohl sein Geheimnis. Interessanterweise wirken diese Passagen, klischeebeladen wie sie sind, selbst in diesem Buch aufgesetzt, in welchem es doch auch um geheime Lebensläufe, um Kundschaftertätigkeit geht. Schade, das hätte wirklich spannend werden können. Und – nur am Rande: In der DDR hieß die zum Glück Verflossene zwar auch Stasi, aber viel mehr noch das EmEfEs oder die Firma.
Dieses Detail sei festgehalten. Schließlich ist Ampueros Detailversessenheit in diesem Buch höchst auffallend. Präzise Schilderungen vermitteln ja im Allgemeinen Authentizität, allerdings verrutscht selbige hier gelegentlich in ihr Gegenteil und wirkt einfach nur aufgesetzt und unglaubwürdig. So wird z. B. mitgeteilt, dass Brulé am Ende seines eintägigen Abstechers nach Leipzig eine Studentenparty in der Straße des 18. Oktober besucht oder dass sich das Bernauer Lokal „Zum Weißen Hirsch“ in der Eberswalder Straße 37 befindet. Das ist eigentlich irrelevant, zumal für Brulé, der beide Städte nicht kennt und sie aller Voraussicht nach auch nicht wieder besuchen wird. Doch Roberto Ampuero, der einige Jahre in der DDR gelebt hat, kennt Leipzig und die Straße des 18. Oktober mit ihren vielen Wohnheimen. Und er kennt auch Renft und die Puhdys, und teilt deshalb mit, dass ihre Musik in einer Kneipe gespielt wird. Als Schilderung der Wahrnehmungen Brulés, der die DDR-Bands weder in Chile noch in Miami gehört haben dürfte, wirkt das zumindest befremdlich. Diese penible Aufzählung von Details, typisch vor allem für die in der DDR spielenden Passagen des Buchs, gehört irgendwie in das Herr-Lehrer-ich-weiß-was-Fach. Und das ist enervierend.
Gleiches gilt auch für die Darstellung der tatsächlichen und vermeintlichen Linken. 1997 hatte ich geschrieben, alle auftretenden Revolutionäre sprächen, als hätten sie „das Kommunistische Manifest in einer Fassung der Bild-Zeitung studiert“. Das ist hier nicht anders, wird aber weiter auf die Spitze getrieben. Alle Personen in Kuba und der DDR, seien sie nun dafür oder dagegen, reden nicht, sie sondern Phrasen ab, und zwar höchst schlichte. Das beschert dem Leser zwar hin und wieder unfreiwillig komische literarische Kostbarkeiten, ist aber eigentlich nur ärgerlich.
An dieser Stelle sei noch eine Bemerkung zur Übersetzung erlaubt. DDR-Bürger wurden nicht pensioniert, sie gingen in Rente. Und eine voll gebildete sozialistische Persönlichkeit gab es nun wirklich nicht, das war eine allseitig gebildete solche. Mangelnder Kenntnis der DDR und damit einhergehender unzureichender Recherche ist noch so mancher Übersetzungsfehler geschuldet. Das ist immerhin ein interessanter Kontrast zu Ampueros Detailgenauigkeit.
Ansonsten ist es wie gehabt und vor vielen Jahren bereits beschrieben: Logisch geht da vieles leider nicht zusammen. Die Tochter einer Kundschafterin, die selbst Kontakt zu hohen Stasi-Chargen hat, lässt in ihrer Wohnung mit Sicherheit kein Bild ihrer Mutter herumstehen, das die Aufschrift Santa Cruz 1967 trägt. Dieses Bild steht dort bloß, weil es einem Detektiv weiter auf die Sprünge helfen soll. Und ein Brulé, der nach eigener Aussage mehrere Jahre in Ostdeutschland gelebt hat (hat der Autor hier vorgegriffen?) und auch noch etwas Deutsch kann, befindet sich nur deshalb in der unglaubwürdigen Situation, nicht zu wissen, was FDJ bedeutet, weil sein Erfinder uns mitteilen will, dass im Sozialismus „in Abkürzungen gesprochen“ wird.
Fantastische Momente hat das Buch übrigens auch. Bei einem Besuch in Auerbachs Keller in Leipzig beobachtet Brulé die Mephisto-Szene (diese Studenten!), in Bernau sieht er ein Känguruh, und beim Palast der Republik fühlt er sich an eine Lampenausstellung erinnert (haha), obwohl der Bau an selbigem im Sommer 1973 noch gar nicht begonnen hatte. Mit dem überraschend auftauchenden Beuteltier recycelt der Autor so ganz nebenbei seine Kurzgeschichte „Ein Känguruh in Bernau“; die kennt ja heute sowieso keiner mehr.
Das Buch ist ein Paradoxon. Man ärgert sich immer wieder über die Klischees à la Lieschen Müller, die mitunter schwachen Dialoge (siehe Revolutionäre) und die logischen Fehler. Aber der Band liest sich weg. Ampuero schreibt nämlich richtig gut, er kann Spannung aufbauen und auch halten. Wenn da bloß die holpernde Logik nicht wäre. Und man wünscht ihm, er möge zumindest beim Schreiben vergessen, dass er einmal ein Linker war und ihm das heute offensichtlich peinlich ist.
Zu den besten Abschnitten des Buches gehören für mich die letzten zehn Kapitel, in denen der Außenseiter Cayetano Brulé, gerade wieder in Chile angekommen, den Militärputsch miterlebt, in das Geschehen unmittelbar einbezogen wird und trotzdem irgendwie draußen bleibt. Diese Dichte hat der Roman selten, und hier kommt er auch völlig ohne Phrasen und Klischees aus.
Ich werde es mit „Der Fall Neruda“ wohl ebenso halten wie seinerzeit mit „Der Schlüssel liegt in Bonn“. Letzteres hatte ich mit den Worten Das kannst du behalten, ich hab‘s schon gelesen einem Freund geschenkt. Auch „Der Fall Neruda“ ist ein Buch, von dem man weiß, dass man wohl nie wieder Lust bekommen wird, noch einmal reinzuschauen, bei dem man aber auch nicht wirklich ein schlechtes Gewissen hat, wenn man es eben deswegen verschenkt.
Ampuero, Roberto
Der Fall Neruda,
Berlin Verlag, 2010