Die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro mögen beginnen. Die Stadt steht für zweieinhalb Wochen im Mittelpunkt des Weltinteresses. Und ganz Rio fühlt sich in den Bann von Olympia gezogen. Ganz Rio? Die offiziellen Werbebotschaften und -videos zeigen jedenfalls kein anderes Bild. Überall wird die Cidade Maravilhosa – die wunderbare Stadt am Zuckerhut – als Traumziel und Festivalstadt inszeniert. Doch hinter der Hochglanzfassade brodelt es. Denn die soziale Kluft, die die Megacity kennzeichnet und die durch Olympia gemildert werden sollte, wächst weiter. Statt die Bedürfnisse der Allgemeinheit im Zuge der Investitionen für die Olympischen Spiele zu verbessern, wurden Milliarden US-Dollar in prestigeträchtige Infrastrukturmaßnahmen in den Nobelvierteln investiert und damit mächtige Privatinteressen befriedigt. Wie immer eigentlich. Nur diesmal unter dem Deckmantel von Olympia. Der Sumpf aus Bürokratie und Korruption blüht.
Am anschaulichsten lässt sich diese Entwicklung in Barra da Tijuca veranschaulichen. Das Viertel liegt etwa 20 Kilometer südwestlich der bekannten Copacabana. Die Einwohner sind überdurchschnittlich wohlhabend, ihre Apartments haben sie in gut gesicherten Hochhaustürmen mit Ummauerung und englischen Rasen im Garten. Eigentlich bräuchte dieses Viertel keine weiteren Investitionen aus dem Olympia-Topf. Und dennoch flossen schätzungsweise 85 Prozent der Olympia-Investitionen nach Barra da Tijuca. Denn die Organisatoren entschieden, den Olympiapark mit 20 Stadien und das Olympische Dorf hier zu errichten. Dafür musste aber der infrastrukturelle Anschluss ans Stadtzentrum verbessert werden – bisher ein Manko für die Reichenenklave. Olympia eröffnet nunmehr die elegante Möglichkeit, die U-Bahn um sechs Stationen zu verlängern. Der langfristige Nutzen für die sozial schwachen Familien in den Favelas ist gleich null. Ähnliches gilt für die Schnellbustrassen. Schon vor Olympia gab es Express-Busse in den reichen Süden Rio de Janeiros. Diese Busse waren klimatisiert und viel sicherer als die lokalen Schwenkbusse des Öffentlichen Nahverkehrs mit ihren Hartplastikschalen. Doch auch die Express-Busse blieben in den Staus auf der Küstenstraße oft stecken. Jetzt gibt es freie Fahrt für sie – vorbei an den Favelas Rocinha und Vila Canoas.
In Zahlen ausgedrückt bedeuten die Investitionsströme nach Barra da Tijuca, dass lediglich 300.000 wohlhabende Einwohner der 12 Millionen eher armen cariocas von den Olympischen Spielen profitieren werden.
Die Wahl Barra da Tijucas als Hauptaustragungs- und Wohnort von Olympia liefert zudem ein anschauliches Beispiel der so engen Verquickung von Politik und Business in der brasilianischen Gesellschaft. Alles begann mit der Wahl von Eduardo da Costa Paes als neuer Bürgermeister von Rio de Janeiro im Jahr 2008. Er profitierte dabei vor allem von seinem Bild als Saubermann und von seiner Kritik beim Korruptionsskandal um die Lula-da-Silva-Administration im Jahr 2005. Außerdem verstand er es sehr gut, Großspenden von Firmen für seinen Wahlkampf einzuwerben – wie den Obolus vom Carvalho-Hosken-Konzern. Nun ist scheinbar der Tag gekommen, sich zu revanchieren: Denn die Immobilienfirma ist verantwortlich für die Vermarktung der Apartments im Olympischen Dorf für die Zeit nach Olympia. Sie erhielt zudem die Erlaubnis, auf dem Olympiagelände, in das sie rechtzeitig investiert hatte und dessen Wert schlagartig explodierte, weitere Hochhäuser und Hotels zu bauen.
Auch bei anderen Unternehmen, die Paes nahestehen, wurde Olympia zu einem Reibach. Die Immobilienfirma von Pasquale Mauro beispielsweise baute einen neuen 18-Loch-Golfplatz mitten in ein Naturschutzgebiet hinein. Die verordnete Strafzahlung für die Rodung setzte Bürgermeister Paes persönlich aus. Und er erlaubt dem Firmeninhaber darüber hinaus den Bau von 23 Hochhäusern mit Luxusapartments gleich nebenan, mithin in einer Gegend, wo – rein zufällig – der Präsident der Brasilianischen Golf-Föderation bereits eine Luxusimmobilie besitzt. Dieser wiederum hatte sich dafür eingesetzt, für Olympia überhaupt einen neuen Golfplatz bauen zu lassen, obwohl es mit dem Itanhangá-Golfclub auf der anderen Seite der Lagoa da Tijuca bereits eine olympiataugliche Anlage in der unmittelbaren Nähe gab.
Angesichts all dieser (und noch viel mehr) Ungereimtheiten keimte in der Bevölkerung schon früh Kritik an Olympia. Einige Künstler der Casa Colectiva / Mídia ninja nahmen es mit Humor und veröffentlichten bereits vor über einem Jahr einen Videoclip, der um die Welt ging: Der „Parque Olímpico de Santa Teresa“. Aufgrund der schleppenden Arbeiten an der Infrastruktur in ihrem Wohnviertel haben die Bewohner eine Parodie auf Olympia gedreht und Santa Teresa als ersten Austragungsort mit neuen olympischen Disziplinen inauguriert. Da gibt es nun Weitsprung mit Arbeitern, 400 Meter Wettrennen mit dem Bus, 100 Meter Stop and Go, Gehen auf Straßenbahnschienen, Hochspringen in den Sandhaufen, Absperrhürdenlauf, Steinstoßen und Mountainbiking im Krater. Das Traurige an diesem lustigen Spot ist, dass er der Realität entspricht.
Doch andere Veränderungen in der Stadt vor Olympia sind weniger lustig. Weil der Anblick der Favela Maré gleich hinter dem Flughafen die internationalen Besucher der Olympischen Spiele verstören und das Bild der Ciudad Maravilha beschädigen könnte, brauchte die Stadtverwaltung eine schnelle Lösung. Das Ergebnis ist allerdings mehr als erschreckend. Anstatt die Bedingungen in dem Viertel zu verbessern, wurden die Bewohner kurzerhand ausgegrenzt und eine riesige Mauer auf beiden Seiten der Schnellstraße errichtet. Getreu dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn. Oder: Was man nicht sieht, gibt es auch nicht.
Noch schlimmer erging es den Favelas in Barra da Tijuca. So war die Favela Vila Autódromo einst ein grünes Paradies – heute steht sie am Rande des Parque Olímpico. 2013 begannen daher erste Räumungen. Offiziell versuchte die Stadtregierung, die Bewohner zu bewegen, freiwillig in Sozialsiedlungen zu ziehen. Und sie zahlte recht üppige Entschädigungen. Aber der Druck wuchs von Tag zu Tag. Von 700 Familien sind 650 inzwischen weggezogen, ihre Häuser zerstört. Dabei standen sie dem Olympia-Komplex in keiner Weise im Weg. Aber sie verminderten durch ihre bloße Existenz den Bodenpreis und den Wert der Apartments des Carvalho-Hosken-Konzerns.
Es wird also keine Olympiade der Millionen, sondern eher eine der Millionen-Einkommen für ein paar wenige. Proteste sind vorprogrammiert. Vielleicht übertönen die Stimmen der Ausgeschlossenen das Scheinerascheln der korrupten Politiker und Unternehmer.
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Bildrechte: [1] Barrazine da Barra_; [2]-[4] Catalytic Communities_