Mehr als ein Dutzend Feldforschungsreisen führte mich zwischen 1991 und 2016 nach Süd- und Zentralamerika. Ihre Ergebnisse gingen in wissenschaftliche Publikationen ein. Doch Feldforschung hat auch immer eine emotionale Seite und zieht Reflexionen nach sich, die über Wissenschaft weit hinausgehen. Oft habe ich gedacht, wie schön es doch wäre, auch diese – eher verborgene – Seite von Feldforschung erzählen zu dürfen. In einer losen Folge werde ich das jetzt, und zwar für den Quetzal, tun. Es handelt sich dabei um Schlaglichter, die zudem immer in den entsprechenden historischen Kontext einzuordnen sind. Nüchternes ist dabei, Komisches und Tragisches auch. Zweierlei ist mit Gewissheit zu konstatieren: Feldforschung, das ist ein Abenteuer zwischen Adrenalin und Erschöpfung. Und: Nach der Feldforschung ist man nicht mehr derselbe Mensch wie zuvor.
Vorrede
Es ist kurz vor Weihnachten 1990, da finde ich in meinem Briefkasten einen Brief mit einer Einladung eines gewissen ICETEX, das staatliche Stipendien vergibt, nach Kolumbien. Ich traue meinen Augen nicht. Auf einmal erinnere ich mich: Mehrere Jahre zuvor hatte unser Wissenschaftsbereich an der Universität eine Einladung aus Kolumbien für einen x-beliebigen Wissenschaftler bekommen. Wie man weiß, war Kolumbien damals diplomatisch aufgrund seiner Drogen- und Gewaltproblematik international ins Abseits geraten und daher sogar an Kontakten mit sozialistischen Ländern interessiert. Mein Doktorvater und Chef schaute seinen jungen Leuten Gesicht und sprach dann entschlossen, auf mich zeigend: „Nach Kolumbien fährst du, da ist es gefährlich, und du bist die Einzige, die keine Kinder hat!“ Ich antwortete: „Aber ich arbeite doch zu Zentralamerika und nicht zu Kolumbien!“ „Das macht nichts, wir tun so als ob!“
Diese Episode hatte ich jedoch nicht wirklich ernst genommen, ich war ja auch kein Reisekader. Und nun, Jahre später, am Vorabend der Abwicklung meines Instituts an der Leipziger Universität, liegt doch diese Einladung in meinem Postkasten! Mein erster Gedanke ist: Im neuen Jahr, in wenigen Tagen oder Wochen, findet doch die Evaluation statt, und wenn ich da nicht anwesend bin, falle ich sofort aus der Auswahl heraus! Ich frage meinen zu dieser Zeit schon-nicht-mehr-Chef. Der antwortet: „Du glaubst doch nicht etwa, dass du in der Evaluation eine Chance hast! Nimm das als großartige Möglichkeit, wenigstens einmal, bevor du in deinem Leben etwas völlig anderes machen musst, ein halbes Jahr in Lateinamerika zu sein!“ Das überzeugt mich, und ich mache mich auf in ein Land, in mein erstes lateinamerikanisches jenseits der Karibik, in dem ich niemanden kenne, mit einem noch recht rudimentären Spanisch, aber voller Neugier. Es wird eine Reise, die eigentlich keinen Zweck mehr erfüllen soll. Indes, peu à peu münze ich sie in eine Studienreise mit ersten Feldforschungsversuchen um.
Kolumbien
Als Gott Kolumbien schuf, so sagen seine Bewohner, war er besonders großzügig: Er gab ihm zwei Küsten, am Atlantik und Pazifik, die weiten Llanos ebenso wie den Urwald am Amazonas. In gleich drei Kordilleren ließ er die Anden das Land durchziehen, und er schenkte ihm mit der Sierra Nevada de Santa Marta den einzigen Ort in Lateinamerika, von dem aus man mit einem einzigen Blick schneebedeckte Gipfel und karibische Sandstrände sehen kann. Kolumbien – El Dorado und El Inferno.
Bogotá
Ich sage die Reise zu. „Mein Gott“, rufen meine Freunde, „du weißt schon, dass es da gefährlich ist?“ Meine Eltern möchten mich erst recht von der Reise abhalten und … tun es nicht. Zwei Gefühle treiben mich dorthin: Neugier und Abenteurerlust zum einen, aber auch, zum anderen, Lust, dem damals bleiernen Gefühl in Ostdeutschland zu entrinnen, soll heißen, meine Seele im Kontext ganz anderer Probleme erholen zu können. Ein kolumbianischer Bekannter rät mir: „Schon auf dem Flughafen in Bogotá sind Diebe am Werke! Stelle bloß, wenn du ankommst, dein Gepäck nicht auf den Boden!“
Ich lande spät abends in der Hauptstadt, auf 2.600 Meter Höhe. Ich hatte um Abholung gebeten, eine Bitte, die spurlos verhallt sein mag. Um mit dem Taxi in die Stadt zu gelangen, muss ich auf dem Flughafen Geld umtauschen. Aber wie mache ich das bloß, ohne meine Koffer abzustellen? Nur ich selbst weiß, wie ich das Problem gelöst habe. Vom Taxi aus sehe ich ein Lichtermeer unter tiefschwarzem Himmel.
Ich komme im Pablo Sexto an, einem Plattenbauviertel der 1960er Jahre für die untere Mittelklasse. Ich wohne in der grünen „etapa“. Hier habe ich, in einer zweistöckigen Privatwohnung, ein klitzekleines Zimmer, mit eingebautem Schrank, Bett, Tisch und Stuhl, das ist alles. Ich packe aus und mich ergreift der Schock: Meine gesamte Kleidung im Koffer ist in Shampoo gebadet! Danach konnte man mich erst einmal die ganze Nacht lang unter der kalten Dusche sehen, Pullover und Jeans, Blusen und Strümpfe ausspülend, wieder und wieder und wieder. Nein, natürlich sieht das niemand. Das also ist mein erster Akt.
Die Wohnung ist zwar eher ärmlich eingerichtet, aber es gibt dennoch eine Muchacha, die putzt, wäscht, einkauft und kocht. Nur Sonntagnachmittag hat sie frei und geht ihre Familie besuchen. Ich frage meine mit mir in der Wohnung wohnende Vermieterin, wo die Muchacha denn zu Hause und wie groß ihre Familie sei. Dass wisse sie nicht, so die Doctora – in Kolumbien heißt jeder, der etwas auf sich hält, Doktor – mithin die Vermieterin. Wie lange sie denn bei ihr tätig sei? Fünf Jahre. ‚In fünf Jahren kein einziges Gespräch über Familienangelegenheiten?!‘, wundere ich mich. Eines Tages vergesse ich, Brot zu kaufen. „Schick‘ doch die Muchacha zum Einkaufen“, rät mir die Vermieterin. Das bekomme ich nicht übers Herz: Ich habe noch nie jemandem geschickt, etwas für mich zu besorgen. Als ich das einer Freundin im selben Haus erzähle, lacht die nur und antwortet: „Du solltest mal zu uns kommen, dort machen diese Arbeiten neunjährige Kinder. Die bekommen überhaupt keinen Lohn, denn sie arbeiten allein für Kost und Logis. Sklaven?
Am nächsten Morgen werde ich zum ICETEX gebracht, das für die Organisation meines Studiums und die Auszahlung des Stipendiums zuständig ist. Letzteres beträgt monatlich umgerechnet 312 Dollar. Ich weiß, für Millionen von Kolumbianern gelte ich damit als reich. Die Summe reicht für Zimmermiete, sparsames Frühstück mit Brötchen und Joghurt, Mittagessen im „Punto Rojo“, einem Imbiss, Zeitung und Bus. Mehr nicht, kein Abendbrot. Gut, es reicht auch noch für einen Perico. Perico? Das heißt doch Sittich, Nachttopf oder großer Spargel?! Nee, hier, in Kolumbien heißt das Gegenstück zu „Tinto“ so. Letzterer ist aber genauso wenig Rotwein wie ersterer Spargel. Er ist einfach Milchkaffee, der andere ein schwarzer. Vorsicht! In Venezuela heißt Perico „Koks“. Doch letzteres probiere ich selbst in Kolumbien nicht, sehe es aber bei anderen – in diesen weißen Spuren auf glatter Fläche – und habe den süßlichen Geruch, wenn ich an ihn denke, noch in der Nase.
Ich bin in einer politisch besonders aufregenden Zeit nach Kolumbien gekommen, in der sich der bewaffnete Kampf zwischen Staat und Guerilla und auch die Gewalteskalationen durch den Drogenhandel fortsetzen, sich aber gleichzeitig bemerkenswerte, bis heute einmalige demokratische Spielräume eröffnen, und zwar durch die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung, die fast genau während meines halbjährigen Aufenthaltes tagt. Das heißt:
Einerseits sterben 65 Personen täglich einen gewaltsamen Tod. Einen Mord kann man in extra dafür eingerichteten Läden kaufen, zehn Dollar sollten dafür reichen. Die Lebenskosten sind in Kolumbien hoch, doch ein Leben kostet wenig, sagt man. Alle sieben Stunden wird jemand entführt. Hier, so sagt mir ein Interviewpartner, ist jeder Andersdenkende ein potenziell Verschwundener. Weniger als zwei Prozent aller Strafdelikte werden sanktioniert, auf 70 % des Landesterritoriums hat der Staat keinen Zugriff. 40 Prozent der Bevölkerung lebt in absoluter Armut – kein Peso Unterstützung, kein Arzt, der ihn behandeln würde. Die Gamines, die obdachlosen Straßenjungen, sind zum traurigen Symbol Bogotás geworden. Sie schlafen tagsüber auf einer Pappe, zugedeckt mit Lumpen, mitten auf dem Bürgersteig. Ich kann nur versuchen, mich links oder rechts an ihnen vorbei zu schmuggeln.
Andererseits haben die Bürger Kolumbiens durchgesetzt, dass es bald eine neue Verfassung geben wird. Vor allem zwei Forderungen, die alten Verfassungsartikel 120 und 121 betreffend, sollen damit erfüllt werden: Ein seit 1976 quasi permanenter Ausnahmezustand mit diktatorischen Befugnissen des Präsidenten und das traditionelle Zwei-Parteien-System, das letztlich den Zugang jeder dritten, alternativen politischen Kraft zu den staatlichen Gewalten verunmöglicht, gehören abgeschafft. Eine Konstituante, eine Verfassunggebende Versammlung, wird einberufen. Im Vorfeld der Konstituante gibt es 840 von Bürgermeistern, 286 von sozialen Organisationen, 244 von Rehabilitationsräten sowie 114 von Universitäten und cabildos indígenas organisierte „Arbeitstische“, die Vorschläge zu den Themen der Verfassungsdiskussion unterbreiten. Dies sind demokratische Diskussionsforen, die in Kolumbiens Geschichte ihresgleichen suchen. Die Wähler können sich frei für 70 von insgesamt 778 Kandidaten entscheiden. Sie treffen eine nichttraditionelle Wahl und öffnen damit ein einzigartiges „window of opportunity“: Es ist mit der AD M-19 unter Führung von Antonio Navarro Wolff eine ehemalige Guerilla, die mit Abstand die höchste Stimmenzahl (27 Prozent) und 19 Sitze erhält. Navarro Wolff wird folgerichtig auch Präsident der Verfassunggebenden Versammlung. Auch politische (UP), ethnische und religiöse Minderheiten und die anderen schwachen Guerillas (EPL mit Stimmrecht, PRT und MAQL ohne Stimmrecht) sind in der Verfassunggebenden Versammlung vertreten. Sie haben zuvor ihre Waffen abgegeben. Doch die beiden größten Guerillas, die FARC und der ELN, bekommen keinen Eintritt in diese Versammlung. Zumindest die FARC hätten das gern gewollt. Insgesamt existieren in der Versammlung zehn Sektoren, von denen keiner über eine absolute Mehrheit verfügt. Damit müssen unterschiedlichste und wechselnde Koalitionen eingegangen werden. Es dominiert die Suche nach Konsens, die aber schwierig ist. Aber damit hat nun endlich die letzte Stunde des „konkordanzdemokratischen“ Zweiparteiensystems geschlagen, das größtenteils beileibe nicht demokratisch ist. Am 05. Juli 1991, kurz vor meiner Abfahrt, wird die alte, von 1886 stammende Verfassung durch eine neue, demokratische ersetzt werden.
Nachdem mir ICETEX meinen Betreuer an der Universidad Nacional genannt hat, eile ich sofort zum Campus. Dort denke ich, ich sehe nicht recht: Auf seinen ausgedehnten Wiesen weiden im trauten Zusammenspiel Pferde und Kühe (beide wohl aus dem Institut der Veterinärmedizin), Graffiti der Guerillas ELN und FARC, Camilo Cienfuegos auch, wechseln einander an den Wänden ab, und das Hauptgebäude de Greiff ziert ein riesengroßes Porträt von Che Guevara. Ich wundere mich, wie geht das in diesem wenig demokratischen Land?!
Mein Betreuer offeriert mir, die ich von Kolumbien nichts weiß, für den Anfang Kurse zur Geschichte des Landes zu besuchen. Einen selbstständigen Studiengang Geschichte gebe es aber nicht. Ich sage natürlich zu, lande in einem Geschichtsseminar für Ingenieurstudenten und studiere mit ihnen gemeinsam die Historie des Landes. Der Seminarleiter fasziniert mich: Er trägt lange krause Haare und eine dicke Brille (später sollte ich erfahren, dass ihm bei einem seiner Gefängnisaufenthalte ein Auge blind geschlagen worden war) und strahlt pure Begeisterung aus. Er nennt die männlichen Studierenden „Hermano“ (Bruder) und liest zu Beginn einer jeden Lehrveranstaltung ein Liebesgedicht vor, um jeweils an deren Ende empathisch auszurufen: „Ist das nicht schön?!“ Ich bin begeistert und berichte meinem Betreuer darüber. Zu meinem Erstaunen teilt der mein Gefühl nicht, knurrt etwas, empfängt mich daraufhin nur noch mürrisch und schließlich gar nicht mehr. Was hatte ich getan?
Erst viel später, als ich die politischen Zusammenhänge schon etwas besser kenne, begreife ich: Der Zweite ist der Historiker der Kommunistischen Partei, mit der er aber zu diesem Zeitpunkt schon nichts mehr zu tun haben wollte, der Erste der der Guerilla ELN. Erst hier und jetzt lerne ich, dass Linke mit ähnlichen Zielen nicht notwendigerweise nett oder gar solidarisch zueinander sind. Dabei gehören zu dieser Zeit doch schon längst beide Organisationen dem gemeinsamen Guerilla-Dach, der Coordinadora Guerrillera Simón Bolívar, an, die Kommunistische Partei zumindest indirekt, über „ihre“ Guerilla FARC.
Ich erkunde, ob der Höhe recht kurzatmig, die Stadt, ein unwahrscheinliches Menschengewimmel und ein Verkehr, der mir Angst macht. Nur sonntags ist es anders, da werden die Hauptstraßen für den Autoverkehr geschlossen und für die Zweiräder ohne Motor geöffnet. Ich wundere mich, warum die Passanten bei 18 Grad Schal und Handschuhe tragen, und fange mit meinem Viertel an. Mein erster Gang führt mich zu Carulla, dem Supermarkt. Gewiss, ich kenne, es ist ja schon nach der Wende, westliche Supermärkte, aber angesichts der Fülle hier rufe ich, natürlich nur für mich, aus: ‚Und das ist die arme Dritte Welt!?‘ Ich weiß, dass Angebot und Nachfrage verschiedene Dinge sind, aber aus welchen Gründen auch immer, erwartete ich in der „Dritten Welt“ (heute wird sie zu Recht nicht mehr so genannt) ein so schmales Angebot wie in der DDR. Hier jedoch, gibt es alles und alle zwei Meter etwas zum Kosten, und das Gekaufte wird sogar noch fein säuberlich in Plastikbeutel eingepackt. (Umwelt ist noch ein Fremdwort.) Die Geldscheine irritieren mich. Alles Tausender und doch kein Geld.
Dann suche ich die Bushaltestelle, um ins Zentrum zu fahren, und lerne, dass es zweierlei Arten von Bussen gibt: normale und Expressbusse.
Ich entscheide mich für den normalen und erlebe zwei seltsame Dinge: Die Menschen setzen sich nicht etwa sofort auf den Sitz, sondern lehnen sich zunächst mit dem unteren Rücken an der Lehne an, das Hinterteil bleibt solange in der Luft. Dann bewegen sie sich langsam, im Zeitlupentempo, nach unten. Erst bei der nächsten Haltestelle sind sie auf ihrer Sitzfläche angekommen. Später frage ich jemanden, warum sie das so machen, und erfahre, man würde sich vor der Körperwärme des vorherigen Passagiers ekeln und warten, bis diese verflogen sei. Auf einmal steigen recht arm ausschauende Leute ein, die den Gang im Bus entlanglaufen und dabei blitzschnell in den Schoß eines jeden Passagiers etwas fallen lassen, Kitsch oder Handwerksarbeiten. Ich werde nervös, denn ich will das nicht haben, ohne indes schon zu wissen, dass der Verkäufer bald darauf wieder schnell zurückgehen wird und die Dinge im Zweifel auch wieder an sich nimmt. Haltestellen sind natürlich Schnee von gestern, man muss das dem Fahrer schon, von ganz hinten quer durch den überfüllten Bus, zurufen, wenn man aussteigen will und ein Strick mit Glocke nicht vorhanden ist. Besonders schwierig ist da natürlich, wenn man auf dem Trittbrett steht. Aber da kann man ja auch „ganz leicht“ aus dem fahrenden Bus springen!
Im Zentrum, umhüllt von Smog und Abgasen, kann sogar ich mich schnell orientieren. Das berühmte Schachbrett-Straßensystem, hier der Calles und Carreras, hilft. Zudem ist da eine Bergkette, die immer auf den Norden verweist. Ich gehe die Carrera 7 entlang, biege in die Calle 19 ein, zuerst nach rechts, dann nach links und laufe dann, erneut auf die Carrera zurückgekehrt, immer geradeaus, vorbei am legendären Goldmuseum und an Straßensmaragdverkäufern, bis zum Plaza de Bolívar.
Polizeipatrouillen reiten, uns zum Schutz, so sagt man, auf Pferden. An den wichtigen Eingängen stehen Soldaten mit Maschinenpistole. Wie aus dem Ei gepellte Passanten laufen gleichgültig vorbei an Obdachlosen und Bettlern. Auf dem Plaza de Bolívar trifft man zuerst auf unzählige Tauben, dann auf das entsprechende Denkmal des Unabhängigkeitshelden, die Kathedrale und das Präsidentenpalais. Gleich rechts vom Zugang steht aber auch eine (zu dieser Zeit noch) Ruine, und zwar die des Justizpalastes, der noch vier Jahre zuvor von einer Guerilla gestürmt worden war. Nach drei Stunden befreiten damals die Sicherheitskräfte die Geiseln. Zwölf Verfassungsrichter starben im Kugelhagel. Ich kann es nicht glauben, das war dieselbe Guerilla, die gerade jetzt der Verfassunggebenden Versammlung vorsteht.
Vor dem Gebäude spricht mich ein seriös, mit Schlips und Kragen, gekleideter Mann mittleren Alters an, zeigt mir einen Ausweis, den ich nicht so schnell entziffern kann, um mir dann mitzuteilen, dass hier zweifelhafte Subjekte herumliefen, vor denen ich mich in Acht nehmen solle. Schließlich fragt er, wie viel Geld ich denn bei mir trüge. Völlig überrumpelt sage ich ihm: 300 Peso für den Bus. Das ist die Wahrheit (ich bin zu verwirrt, um mir irgendetwas anderes auszudenken), aber manchmal hilft eben auch die Wahrheit: Der Mann lässt von mir ab. Denn das ist ihm definitiv zu wenig Geld. So ein richtig schöner Raub lohnt sich bei mir nicht.
Die Nachricht erhalte ich pünktlich: die argentinische Sängerin Mercedes Sosa wird in einem Stadion Bogotás auftreten. Wir bekommen tatsächlich Karten, und ich erlebe diese zärtliche Naturgewalt argentinischen Gesangs persönlich hautnah. Ob „Volver a los diecisiete“, „Gracias a la Vida“ oder „Alfonsina y el Mar“ – Gänsehaut ist unvermeidbar. Die Menschen im Stadion toben, steigen auf die Sitze und singen jedes Lied lauthals mit. Und dann beginnt diese „Wucht von Frau“ doch tatsächlich, grazil wie ein junges Mädchen zu tanzen, mit ihrem Halstuch im Rhythmus winkend. Ihr Abschiedssong – „Cambia, todo cambia“ – erhält im Kolumbien der Konstituante eine ganz eigene Bedeutung. Das Publikum ist nun nicht mehr ekstatisch, sondern nur noch ergriffen.
In „meine“ Wohnung ist gerade ein bulgarischer Geologe eingezogen, später ein berühmter Antarktisforscher. Wir sprechen beide Russisch und Spanisch. Trotzdem habe ich Verständnisschwierigkeiten: Bei einer bejahenden Antwort auf meine Fragen schüttelt er manchmal den Kopf, aber manchmal nickt er auch. Richtig: Ich sollte wohl beachten, dass für ihn Russisch wie Bulgarisch ist und er dann, dem Bulgarischen entsprechend, die Bejahung durch Kopfschütteln vornimmt, auf Spanisch aber zum „ja“ nickt. Es melde sich der, der da nicht durcheinanderkommen würde! Er ist etwa zwei Meter groß, mein bulgarischer Freund, und hat entsprechend lange Beine. Mit meinen viel kürzeren Exemplaren laufe oder besser trippele ich bei unseren Erkundigungen mit größter Anstrengung hinter ihm her, und alle Menschen um uns herum lachen. Ich schaue mich um und sehe: Ein Pantomime macht mich nach. Wohl wissend, dass es nicht ungefährlich ist, steigen wir schließlich, er sportlich, ich keuchend, zu Fuß den Hausberg Bogotás herauf, den Monserrate mit seinen rund 3200 Metern, am Kreuzweg Jesu Christi entlang. Uns belohnt eine herrliche Aussicht. Ich sehe die Wolkenkratzer gen Norden, aber auch die ärmlichen Hütten in den südlichen Bergen.
Einmal nehmen mich die Mennoniten in diesen Süden mit, in die Ciudad Bolívar, ein Stadtteil, in dem mehr als zwei Millionen Menschen in rund 120 kleinen Barrios wohnen. Heute stehen da bunte neuere Häuser, die der Gegend etwas Farbe verpassen sollen. Damals noch nicht.
Am Anfang unseres Aufstiegs sind da noch geteerte Straßen sowie, zwar unfertige, aber akzeptable Häuser aus unverputzten Ziegelsteinen, die den Weg säumen. Wasser und Strom kann man hier illegal anzapfen, so mag hier auch noch ein Fernseher zum Inventar gehören. Dann jedoch hört der Teer auf, der Weg ist gleichwohl noch gut passierbar, die Ziegelhäuser sind aber Holzbuden gewichen. Doch auch hier ist alles sauber, die Bewohner laden uns in ihr ärmliches Zuhause auf eine Limonade ein und berichten über die Selbstorganisation des Viertels: Das Barrio heißt Juan Pablo II, benannt nach dem Papst, in der Hoffnung, sein Name könne Schutz bedeuten. Wochentags kochen hier zwei Frauen, ohne dafür bezahlt zu werden, für hundert Kinder ein Mittagessen. Das ist für diese oft die einzige Mahlzeit am Tag. Dann wird der Berg steiler, der Pfad ist so schlammig, dass ich immer wieder, den Fotoapparat sorgsam schützend, abrutsche und auch das eine um das andere Mal falle. Hier sind nur noch Bretterzäune zu sehen, der Rest sind Blech und Plastikplanen. An die Wände sind Namen geschrieben …Alberto, Yinnier, Rodolfo … es sind die Namen von Jugendlichen, die die Polizei getötet hat. Wo war da eigentlich der Schutz des Papstes? Das Phänomen nennt sich „soziale Säuberung“: Allein weil man jung ist, muss man hier sterben. Alles ist grau, und vom Himmel fällt leichter Regen, so nutze ich denn auch einen Schwarz-Weiß-Film zum Fotografieren. Bunt würde einfach nicht passen. Auch schönes Wetter würde nicht passen Auf dem Rückflug durchforstet der kolumbianische Zoll akribisch mein Gepäck, alles scheint in Ordnung, nur die Schwarz-Weiß-Fotos nicht. Vorwurfsvoll fragt mich der Zollbeamte, warum ich denn schwarz-weiß fotografiert hätte, Kolumbien sei doch so schön!
Im Norden hingegen, hinter der Calle 100, wohnen die Reichen und Schönen. Hier werden sogar die Straßen vor den Häusern von den Muchachas mit schäumendem Spülmittel geschrubbt. Die Malls sind riesig und so langweilig wie überall. Es stehen schicke Gebäude in dieser Gegend, jedoch ohne Charme. Die Entfernungen sind groß und Fußgänger hier nicht vorgesehen. Die kleineren Wohnhäuser „zieren“ Gitter vor den Fenstern, Schilder verweisen darauf, welche private Security-Firma hier gerade verantwortlich ist. Der Wachmann trägt Schutzweste und Maschinenpistole.
Zurück im heimatlichen Pablo VI, bittet mich die Vermieterin eines Tages, da sie verhindert sei, um drei Uhr Nachmittag einen „Chino“ in die Wohnung einzulassen, der dann von ihrem Schreibtisch etwas entnehmen dürfe. Pünktlich klingelt es, ein junger Mann steht vor der Tür, aber kein Chinese. Was tun? Achtung, ich bin in Kolumbien, da können Leute auch gefährlich sein! Und da es kein Chinese ist, lasse ich ihn eben nicht ein. Abends stellt sich heraus, dass „Chino“ nicht notwendig „Chinese“ bedeutet, sondern auch „kleiner Bursche“. Armer Kerl, der musste leiden, weil ich so doof war.
An einem anderen Tag gehe ich die Carrera 7 entlang und hinein in einen Fotoladen, um Dias entwickeln zu lassen (ja, die gab es damals noch). Der Besitzer fragt mich: „¿En marcos?“ Hochverwundert, woher er anscheinend weiß, dass ich Deutsche bin und in Mark (die gab es damals auch noch) bezahlen könnte, antworte ich: „No, en Pesos.“ Denn ich möchte lieber in Pesos bezahlen. Da lacht der Mann herzlich auf: „¿En marcos?“ bedeutete, ob ich die Dias gerahmt haben möchte. Ich gehe später noch oft an diesem Laden vorbei, und jedes Mal winkt er, der Besitzer, mir herzlich durch die Schaufensterscheibe zu. Ich winke und grinse zurück.
Und dann noch diese für mich blamable Situation: Ich möchte in der Uni mit einem ganz bestimmten Professor sprechen. Man zeigt mir seine Bürotür, ich klopfe und öffne sie leicht, und da sitzt ein Dozent, der gerade in diesem Moment einen Telefonanruf erhält. Er sagt: „Kjubo“. Ein seltsamer Name, denke ich. Ich gehe zurück zu dem freundlichen Mann, der mir die Bürotür gezeigt hatte und sage: „Das ist nicht Professor X, der da heißt ‚Kjubo‘!“
Der Mann stockt und lacht sich dann halb tot. „Du meinst: ¿Qué hubo? Das heißt: Wie geht es?“ Mir ist etwas peinlich zumute, aber ich habe wieder etwas gelernt. Dann werde auch ich so angesprochen: „¿Qué hubo?“ Doch noch ehe ich mit „gut“ antworten kann, folgt schon die nächste Frage: „¿Cómo estás!“ Ich denke, nun ja, er hat es wohl nicht ganz verstanden und wiederhole mein „gut“. Dann aber kommt „¿Qué tal?“ Genervt stoße ich ein weiteres „gut“ zwischen den Lippen heraus. Um daraufhin zu hören: „¿Qué has hecho?“, „¿Cómo sigues?“ und schließlich „¿Cómo van las cosas?“ Da aber werde ich ärgerlich und antworte nicht mehr. Wie oft muss ich mich denn noch wiederholen! Und, wer hätte das gedacht, genau das ist die richtige Haltung! Denn alle Varianten bedeuten dasselbe: „Wie geht es?“ Und niemand der Fragenden erwartet auch wirklich eine Antwort darauf. Ist der Sprecher nett, zeigt er durch seinen Sprechtakt, indem er einfach die Pausen dazwischen weglässt, dass er gar keine Antwort erwartet: ¿Quéhubocómoestásquétalquéhashechocómosiguescómovanlascosas? Die Kolumbianer sind in der Regel ausgesprochen höflich und freundlich. Bei ihnen werden sogar kleine Kinder gesiezt, anders gesagt, Duzen und Siezen kann sich, bei Erwachsenen wie bei Kindern, abwechseln. Sie begegnen jedem mit der soeben genannten Fragekette. Das machen selbst die Mörder so, erst danach drücken sie ab …
Ich kenne die Mordzahlen in Kolumbien und weiß auch um Raub und Diebstahl. Wieder zurück in Deutschland, werde ich noch lange meine Tasche mit festem Griff halten. In Kolumbien schaue ich genau, in welchen Vierteln ich unterwegs bin, wie die Leute gucken und gehe immer leicht verkrampft mit einem Blick wie eine Drehleuchte. Wo es gefährlich ist, dahin gehe ich nur mit kundiger Begleitung. Doch langsam entspanne ich mich.
Ich bekomme nun auch die ersten Interviewtermine, darunter einen mit der gesamten Führung einer halblegalen, eine der Guerillas unterstützenden zivilen Organisation. Es ist der Tag, an dem die Ausgangssperre aufgehoben wird, und wir sitzen zum Interview in einer Kneipe. Dann gehen wir auf die Straße und sehen, wie Soldaten einen Demonstranten nach dem anderen, Hände im Nacken und Gewehr im Rücken, abführen. Wir drücken uns alle an einen großen Zaun, so, als ob man uns da, wenn wir nur unser Gesicht genügend abwenden, nicht erkennen würde. Denn klar ist, meine Begleiter sind die ersten Kandidaten, die abgeführt werden könnten. Es ist so, als ob man schwarzführe und der Kontrolleur kommt, man selbst aber denkt, dass man, wenn man nur aus dem Fenster schaut, nicht erwischt würde.
Tage später werde ich von derselben Organisation zu einer Art Parteitag eingeladen. Die PLO und auch die ETA sind angereist. Oh, das sind also deren internationalen Partner?! Ich halte mich am Rande und komme mit einem Mann aus Venezuela ins Gespräch, einem Vorsitzenden einer Bauerngewerkschaft. Er ist genauso einsam auf dieser Veranstaltung wie ich, und wir unterhalten uns gut. Später wird mich ein Führungsmitglied des kolumbianischen Veranstalters empört fragen, warum ich mich denn mit diesem Mann unterhalten habe. Er wartet meine Antwort nicht ab und sagt: „Hast du denn nicht gesehen, wie abgearbeitet seine Hände, schwarz seine Fingernägel und schmutzig sein Kragen waren!“ „Na und!“, antworte ich. Dann ergreifen mich Zweifel: Eine Organisation, die sich noch linker gebärdet als die Kommunistische Partei, ist so kleinbürgerlich zu fordern, dass man sich mit der eigenen Klientel nicht unterhalte, wenn sie nicht so kleinbürgerlich aussieht wie sie? Ich trete auf die Straße und gehe zum öffentlichen Telefon, denn ich habe einen Telefontermin, und Handys sind zu der Zeit noch ein Fremdwort. Danach werde ich endgültig ausgeschimpft: Durch mein Handeln habe ich die Organisation in Gefahr gebracht!
In dieser Zeit beginnt die kolumbianische Linke, dies nun sogar organisationsübergreifend, mit der Organisation einer großen internationalen Konferenz über das Schicksal des Realsozialismus. Der Titel der Konferenz lautet: „Socialismo: Realidad, Vigencia y Utopia“. Sie erklären mir, dass sie aus jedem vormals sozialistischen Land einer Vertreter einladen wollen, der über die Ursachen des Scheiterns des Sozialismus in seinem eigenen Land berichten soll. Dabei schauen sie mir intensiv ins Gesicht und sagen: „Das ist aber teuer. Und wir brauchen dazu viele Spenden, von den ganz Armen, die selber nichts haben.“ Endlich kommt das konkrete Anliegen: „Doch du bist ja schon da! Deine Reise müssen wir nicht bezahlen! Du wirst uns also über das Beispiel „DDR“ berichten. Ich sage zu, denn ich habe ja Zeit, ohne zu wissen, worauf ich mich da einlasse.
Ich versuche mich nun an einem entsprechenden Text, in dem ich so (selbst)kritisch wie möglich die enormen Defizite des Sozialismus benenne, die Unfreiheit und auch das Wenige, was ich da schon über das Unwesen der Stasi weiß. Ich habe ihn fast fertig, den Text, als die Organisatoren auf mich zukommen und ein neues Anliegen vortragen. Die Konferenz würde im größten Auditorium der Nationaluniversität – in dem Gebäude mit dem Che-Porträt – stattfinden. Aber nicht alle Interessenten in Kolumbien schafften es finanziell oder zeitlich, bis nach Bogotá zu reisen. Deshalb fahren wir zu ihnen hin und nutzen dabei alternative pädagogische Formate. Ob ich mitmachen würde? Ich bejahe, um später festzustellen, dass von den Vertretern der anderen (ex)sozialistischen Länder sich keiner dieser „Tortur“ unterziehen will, auch der bereits angereiste kubanische Philosoph nicht. So fahre ich dann mit meinem Vortrag über die Lande: nach Cali, Tunja, Cartagena, Turbaco, Barranquilla, Magangué und Barrancabermeja. Diese Reisen werden zu meiner kolumbianischen Universität. Der Platz reicht nicht, das Erlebte in Gänze zu beschreiben, aber in Ausschnitten schon.
Cali
Bogotá ist, wie man weiß, kühl und in den Nächten kalt (Heizung gibt es nur in Krankenhäusern). Welch‘ freudige Nachricht daher, dass ich eine Vortragseinladung in das angenehm-warme Cali, im Valle del Cauca, bekomme. Salsa tanze ich da nicht, aber Kolumbien zeigt sich hier von einer ganz anderen, wärmeren Seite. Meine Gastgeberin ist eine Zambo, eine Frau mit indianischen und schwarzen Wurzeln, die auf das eher mestizische Kolumbien ihre ganz eigene Sicht hat. Dazu passt, dass wir, nach getaner Arbeit, gewissermaßen auf den Spuren von „María“ wandeln, jenem Nationalepos von Jorge Isaacs, der in Cali geboren wurde.
Es ist eines der am meisten gelesen Romane Lateinamerikas, in dessen Mittelpunkt eine tragische Liebesgeschichte zu Zeiten der Sklaverei steht. Sie spielt auf der Hacienda, auf der sich nun das Freilichtmuseum Museo de la Caña de Azúcar befindet. Ein toller, friedlicher Ausflug: irre Natur und die ausgefallensten altertümlichen Zuckerrohr-Gerätschaften. Doch als mich am Abend meine liebenswürdigen Begleiter zum Flughafen begleiten, kippt das Bild: Ich denke, ich sehe nicht recht, als jeder von ihnen bei der Eingangskontrolle in das Flughafengebäude … zwei Pistolen abgibt.
Tunja und Villa de Leyva
In Tunja nehme ich an einem Workshop der comunidad teil. Das ist eine echte didaktische Herausforderung für eine Wissenschaftlerin: Mit den einfachsten Worten der Welt zu erklären, wie der Sozialismus in der DDR funktionierte bzw. eben nicht funktionierte. Die Zuhörer sind arm und können nicht verstehen, dass es die DDR-Bürger selbst sind, die diesen „Luxus“ von Sozialismus nun nicht mehr wollen.
Danach fahren wir nach Villa de Leyva, ein kleines Städtchen nicht weit von Tunja, das 1572 gegründet wurde und seinen Kolonialstil in Gänze behalten hat. Alle Häuser, selbst die Kirche, sind klein und schmiegen sich geduckt an die Straßen und Plätze aus Kopfsteinpflaster. Ich sehe nur weiß und blau: weiß sind alle Gebäude, azurblau der Himmel. Rote Geranien an den Fenstern bilden den einzigen farblichen Kontrapunkt. Es ist leise hier, so leise. Es ist, als ob in Kolumbien schon Frieden herrsche. Von Flöhen zerbissen, sind wir glücklich. Hier, in der Ostkordillere der Anden, könnte man bleiben. Nur Damen auf high heels würden es nicht aushalten.
Cartagena
In Cartagena soll ich in der Universität sprechen. Mit Megaphon auf der Straße werde ich angekündigt. Eine Stadt wie ein Märchen oder wie ein buntes Museum.
Damit unser Auto nicht geklaut oder beschädigt wird, entrichten wir unseren Obolus an kleine Jungs, bevor wir ein Restaurant betreten. Natürlich isst man hier Meeresfrüchte. Manche davon habe ich noch nie gesehen, geschweige denn gegessen. Die Rektorin lädt ein. Dann kommen die obligatorischen Sänger an unseren Tisch und singen das traurigste Lied aller Zeiten, den Vallenato. Natürlich geht es im Vallenato, herzzerreißend kitschig, um unerwiderte Liebe. Ja, genau das ist etwas für mein schlichtes Gemüt! Meine kolumbianischen Freunde bemerken das und tun verächtlich: Wenn man schon kolumbianische Musik liebe, dann doch Salsa oder wenigstens Cumbia… .
Turbaco
Wir reisen weiter nach Turbaco. Dort soll ich in einer Oberschule auftreten, dies, weil es tagsüber dafür zu heiß ist, erst 22.00 Uhr. Etwa tausend ältere Schüler folgen der Einladung – wie freiwillig, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, dass ich mich vor dieser Masse wie eine Dompteurin fühle und dass, als ich aufstehe, unter mir eine Pfütze ist … aus Schweiß. Vier besonders vertrauenswürdige Schüler sollen mich nach dem Ende im Taxi in das Haus eines Generals zum Schlafen bringen, der das aber nicht wissen soll, denn seine Tochter ist die – einladende – Kommunistin. Dort hatte ich schon vor der Veranstaltung mein Gepäck gelassen, mir aber nicht die Adresse aufgeschrieben, weil ich überzeugt war, man würde mich abends schon wieder dorthin zurückbringen. Doch die Jungs wissen die Adresse nicht. Es ist stockdunkel, und wie soll ich sicher sein, dass mich die Jungs nicht, weil ihnen keine Lösung mehr einfällt, einfach zum Aussteigen auffordern würden? Nein, sie sind solidarisch und nach neunmaligem Herumkurven erkenne ich das Haus.
Am nächsten Tag besuchen wir dann noch kurz einen Jugendfreund der kolumbianischen Freundin, der Tankstellenwart ist. Sofort besorgt er Bier, und unter freiem Himmel diskutieren wir die ganze Nacht und sprechen über das Leben. Zum Abschied ruft der junge Mann mit begeisterter Stimme laut in die Nacht, es werde ihm niemand glauben, dass er stundenlang mit einer deutschen „profesora“ (hier im Sinne von Lehrerin) gesprochen habe. Wieder wundere ich mich über das hierarchische Denken unter den Linken.
Parque Tayrona
Nein, wir vergessen nicht, dass wir an der Karibikküste sind! Der Parque Tayrona, ein Nationalpark der Extraklasse, ist wie eine andere Welt. Ein paar Lodges, einmaliger Luxus für uns, ansonsten weite leere Sandstrände. Nur Pferde galoppieren hier entlang. Ich gehe vorsichtig ins Wasser, bis zu den Schienbeinen, und dennoch schnappt mich eine Welle und zieht meinen Rücken samt Anhang mehrere Meter über spitze Steinchen.
Ein Muss ist es, wenn schon nicht die Ciudad Perdida, dann doch wenigstens das Pueblito zu besuchen, wo noch, wie schon in lang zurückliegenden Zeiten, die Cogi-indígenas leben. Der Weg zu ihm hinauf ist vierstündig, steil und von wackelnden Steinen bedeckt. So hören die Cogis gleich, dass sie Besuch von unbedarften Gringos erhalten. Nur die laufen so steif, dass die Steine wackeln! Mir selbst ist das alles egal, ich muss alle meine Kräfte zusammennehmen, um es überhaupt bis nach oben zu schaffen. Zum Glück haben wir einen kräftigen jungen Afrokolumbianer dabei. Wir „mussten“ ihn anheuern, sonst wäre uns wirklich etwas passiert. Doch mich beruhigt weniger seine Pistole als seine starken Arme, mit denen er mich manch‘ großen Stein hinauf hievt.
Später erfahre ich von einem Attaché der deutschen Botschaft, dass es in dieser Gegend wirklich gefährlich ist. Ausländer werden gerade hier gern entführt, und die Botschaft sei nicht bereit, das Erpressungsgeld zu bezahlen, selbst wenn es nur eintausend Dollar sind. Es habe hier, so der Attaché, sogar Entführungstouristen aus Deutschland gegeben. Die taten alles dafür, von einer Guerilla entführt zu werden, nur um des Kicks willen. Das wurde für sie teuer.
Barranquilla
Einen Abstecher unternehme ich nach Barranquilla an der Karibikküste. Studenten haben mich zu einem Vortrag an ihre Uni eingeladen. Das Auditorium ist riesig und voll gefüllt.
Danach haben wir Spaß, tummeln uns am Strand und trinken ein Bier. Mit einem Mal stelle ich mit Schrecken fest: schon längst müsste ich am Flughafen sein. Der Flug nach Bogotá ist nicht mehr zu schaffen. Einer der Studenten nimmt mich in der Nacht zu sich nach Hause. Mit seiner Großmutter und Mutter sitze ich auf der Terrasse in einem dieser wunderbar bequemen hölzernen Schaukelstühle. So hätte ich das im Alter auch gern. Als es Nacht wird, sehe ich, wie eine Person nach der anderen in diesem kleinen Häuschen verschwindet. Ich zähle 13, und das Haus hat drei Zimmer. Ich selbst schlafe hinter einem Vorhang im Verschlag.
Magangué
Dann geht es nach Magangué, wo ich vor der Stadtöffentlichkeit sprechen soll. Wir steigen aber in den falschen Bus ein, der etwa 20 Kilometer vor dem Städtchen im stockdunklen Niemandsland anhält, uns allein aussteigen lässt und wieder zurückfährt. Wir haben die Wahl: zwei Frauen über Nacht im Freien unter schwarzem Himmel oder per Anhalter weiterfahren. Letztere Variante findet meine kolumbianische Freundin gefährlicher als erstere. Ich selbst mag die Gefahren nicht aufrechnen, finde es im Gras aber definitiv zu unbequem. Wir finden tatsächlich einen vernünftigen Autofahrer, der uns des Dilemmas enthebt.
Magangué liegt am Río de Magdalena und ist höllenheiß. Auf diesem Fluss schwamm einst, in den Zeiten der Cholera, ein Schiff mit jenem alten Paar, das nun endlich seine Liebe leben durfte. Auch Leichen schwammen da. Es ist schwül, diesig, und meine schweißumflorten Augen sehen zunächst nur Schlamm. Dann werden wir in die größte Halle des Ortes gebracht, die völlig überfüllt ist. Es empfängt uns der Bürgermeister, ein Liberaler mit Verbindung zu den paramilitärischen Banden, samt Protokollchefin. Rechts sitzen die Honoratioren der Stadt, links die Linken – vom Kommunisten über den Trotzkisten bis zum Maoisten. Es ertönt die Hymne Kolumbiens und dann die des Departements, und ich werde, bevor ich überhaupt reden kann, zur Ehrenbürgerin der Stadt ernannt. Erst jetzt beginnt mein Part. Aber, oh Schreck, ich habe mein Script in Cartagena vergessen. Wie gut, dass ich den Vortrag schon einige Male gehalten habe.
Nach dem Vortrag führt uns der Bürgermeister mit Verbindung zu den paramilitärischen Banden in das schönste Restaurant am Ort, wo allerdings nur zwei, allerdings größere Tische stehen. An einem Tisch nehmen die Honoratioren der Stadt Platz, am anderen Tisch die Chefs der Linken. Ich pendele zwischen ihnen, was niemand verwunderlich findet. Der Abschied fällt herzlich aus, der Bürgermeister mit Verbindung zu den paramilitärischen Banden verabschiedet sich von den Linken, seinen Feinden also, sogar mit herzlicher Umarmung, ich kann es kaum glauben. Er besteht darauf, mich und meine Freundin am nächsten Morgen persönlich mit seinem Auto nach Cartagena zu bringen.
So geschieht es. Als Ehrengast bekomme ich den Platz neben dem Fahrer, und im Fond sitzen der Bürgermeister, sein Bodygard und meine kommunistische Freundin. Auf einmal jedoch kommt ein Lastkraftwagen direkt auf uns zu, der nicht beachtet, dass hier eine Fahrbahn gesperrt ist. Unserem Fahrer gelingt es noch, das Lenkrad herumzureißen, und wir knallen an die Böschung. Fahrer und Bodyguard geschieht nichts, meine Freundin hat blaue Schienbeine, und meine Stirn, die auf dem Armaturenbrett aufgeschlagen ist, schmerzt. Aber der Bürgermeister! Er hatte vor dem Unfall seinen Arm lässig aus dem Fenster gehalten und mit der Hand das Autodach berührt. Nun ist dieser Arm voller Blut. Wir wollen bei ihm bleiben, ihn zu versorgen, doch er ruft schmerzerfüllt: „Nein, dann kommt die Polizei, und mit Kommunisten möchte ich nicht gesehen werden!“ So lassen wir ihn denn auf eigenen Wunsch mit seinen beidem Begleitern zurück und laufen los. Irgendwann nimmt uns ein Bus auf.
Barrancabermeja
Die letzte Vortragsreise führt mich nach Barrancabermeja. Es sei die solidarischste Stadt Kolumbiens, so mein Begleiter. Es ist eine Erdölförderstadt, und hier schießen sie alle: mindestens drei verschiedene Guerillas, die paramilitares und die Regierungssoldaten natürlich auch. Niemand sagt mir, wo ich am nächsten Tag meinen Vortrag halten und wo ich vorher schlafen soll. Da stehe ich nun auf irgendeinem zentralen Platz. „Du setzt dich jetzt hier auf diesen Stein und wartest. Es wird jemand kommen, der dich abholt und bei dem du schlafen wirst.“ Und schwupps, ist er weg, mein Begleiter. Ich warte lange, und es wird dunkel. Da gehe mit mir ins Gericht: ‚Warum zum Teufel hast du dich darauf eingelassen?!‘ „Dir fehlt ein Signalsystem“, wird mir später eine Freundin und Psychotherapeutin sagen. Endlich, auf einmal kommt, auf einem Moped, ein junger Mann angefahren und fordert mich auf mitzukommen. Gehe ich jetzt einfach mit diesem fremden Mann mit? Mitten in der gefährlichsten Stadt Kolumbiens? In absoluter Dunkelheit? Und ja, ich gehe mit, besser gesagt, ich fahre, auf dem Rücksitz seines Mopeds, das sich über unbefestigte Sandwege quält und das mit einer Mitfahrerin obendrauf, die zuvor noch nie Moped oder Motorrad gefahren ist. Der junge Mann am Lenkrad leidet sehr, aber wir erreichen wohlbehalten das Ziel. Dann führt er mich in sein Haus, schiebt mich in ein Zimmer ohne Licht und sagt: „Frau und Kind haben sich schon schlafen gelegt.“ Ich tue es auch. Und als ich am nächsten Morgen, inmitten in dieser kolumbianischen Sandwüste aufwache, erblicken meine Augen rundherum Regale mit Büchern … über Meeresbiologie … auf Russisch! Aber wo ist das Meer dazu? „Wer hat hier in der Sowjetunion studiert?“, rufe ich vor Verwunderung aus. „Ich“, antwortet mir auf einem kolumbianisch gefärbten Russisch eine Frauenstimme. Das alles glaubt dir kein Mensch, denke ich.
Frohgemut fahre ich zum Ort meines Vortrages, zum Sitz der USO, der Erdölarbeitergewerkschaft. Mit mir geht Manuel Cepeda, ein hochrangiger Funktionär der Kommunistischen Partei und ihr späterer Senator, der reichlich drei Jahre später ermordet werden wird. Mein Vortrag ist vorbei, und die Diskussion beginnt. Es ist aber keine Diskussion, es ist ein Tumult: Ein Arbeiter erhebt sich und schreit Cepeda an: „Ihr habt davon gewusst, von der Stasi und all diesen Dingen, und uns nichts davon gesagt?!!!!!“ Cepeda antwortet leise und unsicher, sich entschuldigend. Irgendwie bin ich froh, dass der Kelch an mir vorübergangen zu sein scheint. Wie habe ich mich aber geirrt! Denn ein anderer Arbeiter ruft nun mich an, nicht weniger unfreundlich und mit überschnappender Stimme: „Und ihr, ihr habt den Sozialismus für ein Paar Bluejeans verkauft und uns verraten!“ Nein, ich fühle mich nicht gut, gar nicht gut.
Im Mai findet dann in Bogotá die zentrale Sozialismus-Konferenz statt. Ein großer Erfolg. Dann gibt es ein Fest. Wie gut Kolumbianer doch tanzen können! Und ich? Sagen wir es so: Zuvor hatte ich in Kolumbien noch nicht versagt … . Ich bin den Organisatoren inzwischen so nahe, dass ich sogar mit ihnen gemeinsam die Teilnahmezertifikate ausstellen darf. Es scheint auch keine Rolle mehr zu spielen, wer welcher linken Organisation angehört. Doch da soll ich mich irren. Auf einmal höre ich, wie die Freunde aufrechnen, mit wem, aus welcher linken Organisation, ich mich wie lange unterhalten habe. Es wurde genau Buch geführt! Später höre ich Todesnachrichten. Es waren auch meine neuen Freunde darunter … von beiden Organisationen.
Zurück in Deutschland
Auf einmal bin ich wieder in Deutschland. Es ist wie im Film. Ich fühle nur Watte, und mir ist leicht übel. Aus dem gerade noch über meine persönliche Leinwand geflimmerten Kolumbien-Film komme ich nicht raus. Es ist, als ob ich den kolumbianischen Sand nicht aus den Füßen gewaschen, den Singsang des kolumbianischen Spanisch‘ nicht aus den Ohren getilgt und den Aguardiente, den Anisschnaps, nicht von der Zunge bekomme. Auch kann ich den Schmerz über die gerade erst gewonnenen, aber, im Kugelhagel, schon wieder verlorenen Freunde nicht abschütteln. Nein, nicht von der Erinnerung an Kolumbien bin ich verschlungen, sondern von ihrer für mich fortdauernden Gegenwart. Und niemand ist da, mit dem ich meine Erfahrungen teilen könnte.
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