Die Zahl der Ureinwohner Brasiliens wird auf 70 000 – 100 000 Menschen geschätzt; verteilt auf 143 Stämme unterscheiden sie sich in anthropologischer, kultureller und sprachlicher Hinsicht.
Das Gebiet des Alto Xingo, Quellgebiet des Xingu, im Innern Brasiliens, ist die Heimat mehrerer dieser Völker. Sprachlich gesehen, gehören sie vier verschiedenen Familien an, kulturell sind sie aber homogen.
Jedes dieser Völker besitzt eine handwerkliche Besonderheit, welche sie zum Austausch von Gegenständen untereinander veranlaßt. Die Waurá, eine sehr kleine, den Aruak-Sprachen angehörende Ethnie sind zum Beispiel für die Lieferung von Töpferwaren zuständig.
Ihren Lebensunterhalt sichern sich die Waurá hauptsächlich durch Bodenbau und Fischfang, wobei die landwirtschaftliche Tätigkeit den größten Teil ihrer Kraft und Zeit in Anspruch nimmt. Die wichtigste pflanzliche Grundlage für die Ernährung ist der Maniok, ein Wurzelknollengewächs, das eine komplizierte und aufwendige Zubereitung erfordert. Zuerst müssen die Maniokwurzeln geschält werden, dann wird ihnen die giftige Blausäure mit Hilfe einer Presse entzogen. Die Waurá verarbeiten den Maniok zu Fladen, von ihnen ‚beiju‘ genannt, und kochen den Saft zu einer Art Brei, dem ‚mingau‘. Im Denken der Waurá (eng verbunden mit dem Maniok) ist die Gestalt der kukuhu, der Larve eines Dämmerungsfalters. Als Herrin dieser Pflanze trägt sie Verantwortung für sie und rächt sich an jenen, die der Pflanze unnötigen Schaden zufügen. Wenn zum Beispiel eine schwangere Frau zu träge ist, die kleinen Maniokwurzeln zu schälen und sie wegwirft, kann die Larve wütend werden und die Geburt erschweren.
Der pflanzliche Teil der Nahrung wird durch Mais, Pequi (gelbe Früchte eines gleichnamigen Baumes), Bananen, Mamaos (Melonenbaum), Mangabas (ein niedriger, kautschukliefernder Baum) und Wassermelonen bereichert. Es werden außerdem Baumwolle zur Herstellung von Hängematten und Körperschmuck, Pfeffer als Gewürz für den Fisch und Tabak, der bei Krankenheilungszeremonien der Medizinmänner große Bedeutung besitzt, angepflanzt. Salz wird in einem langwierigen und mühevollen Prozeß aus den Wurzeln der Wasserhyazinthe gewonnen.
Die Pflanzungen werden kollektiv angelegt. Das Dorfoberhaupt ruft alle Männer zum Anpflanzen zusammen, dann ziehen sie gemeinsam auf das zuvor gerodete Landstück eines Dorfbewohners. Der Eigentümer selbst geht derweilen auf Fischfang, um allen eine gehaltvolle Mahlzeit bieten zu können. Die kühlsten Stunden des Tages – morgens und gegen Ende des Nachmittags – werden für die schwersten Arbeiten genutzt. Während der heißen Mittagsstunden kehren alle ins Dorf zurück und verrichten leichtere Tätigkeiten: die Frauen verarbeiten den Maniok, spinnen Baumwolle und fertigen Keramikgefäße an, die Männer stellen Pfeil und Bogen und Holzerzeugnisse her. Beide Geschlechter nutzen außerdem die Zeit zur Anfertigung von persönlichem Schmuck.
Für den Fischfang gibt es die verschiedensten Techniken und Geräte: Pfeil und Bogen, Netze mit langen Stielen, Fangkörbe mit kegelförmigem Rumpf oder auch die Stengel des Timbó, einer giftigen Lianenart. Vor allem während der Trockenzeit, von April bis September, benutzen die Waurá ihn beim kollektiven Fischfang. Man schlägt mit den zerstampften Lianenstengeln auf das Wasser, die Fische ersticken und kommen an die Oberfläche, so daß man sie nur noch einsammeln muß. Das Fangen und Essen des Fisches ist mit verschiedenen Tabus belegt: wenn eine Frau menstruiert, darf der Mann nicht zum Fischfang gehen, da es passieren könnte, daß er niemals mehr etwas fängt. Auch nach der Geburt eines Kindes dürfen die Eltern während der ersten Monate keinen Fisch zu sich nehmen.
Es findet sehr wenig Jagd zur Nahrungssicherung statt, unerläßlich jedoch ist sie für die Gewinnung von Material für Federschmuck.
Die Dörfer der Waura sind kreisförmig angelegt, in ihrer Mitte steht das Männerhaus, der Ort gesellschaftlicher Zusammenkünfte, zur Arbeit und für Versammlungen rituellen Charakters. Nur bei seltenen Feierlichkeiten ist Frauen der Zutritt erlaubt. Niemand wohnt dort oder verbringt dort die Nacht. Die Männer des Dorfes versammeln sich am späten Nachmittag im Männerhaus, rauchen zusammen, kommentieren die Ereignisse des Tages und tauschen Eindrücke über sie interessierende Angelegenheiten aus. Nur beim Tod eines nahen Verwandten geht man nicht dorthin.
Die Wohnhäuser werden aus Holz gebaut und mit Sapé-Gras gedeckt, bei neueren Bauten bestehen die Wände zum Teil aus Lehm und das Dach aus Stroh. Die Häuser besitzen keine Innenwände, in der Mitte ist die Feuerstelle, neben welcher der Lebensmittelvorrat, Mörser und Röstplatten für die Maniokfladen aufbewahrt werden. Ihre
Besitztümer verwahren die Waura in Körben, an hohen Balken des Hauses aufgehängt oder auf Gestellen abgestellt. Unter den Hängematten werden nachts kleine Feuer angezündet, um Kälte und Insekten zu vertreiben.
Die Geburt eines Kindes vollzieht sich in der Hängematte, im Beisein des Ehemannes, der Schamanen des Dorfes und verschiedener Verwandter. Während der Geburt rauchen die Männer unaufhörlich, der Tabakrauch ist im Glauben der Waura eng mit einer Geburt verbunden.
Nach der Geburt, deren Strapazen mit Hilfe von Kräuteraufgüssen gemildert werden, wäscht die Frau ihr Baby und sich selbst. Die Plazenta wird im Fußboden des Hauses vergraben, die Mutter legt sich mit ihrem Kind wieder in die Hängematte. Eine Zeit der Abgeschiedenheit beginnt nun für sie und ihr Kind, während der sie ihre Tage in der Hängematte verbringen muß. Jegliche Tätigkeit ist ihr verboten, und sie unterliegt einer strengen Diät, in deren erster Phase sie keinerlei Speisen tierischer Herkunft zu sich nehmen darf. Verschiedene Tätigkeiten sind für die Eltern während der Schwangerschaft und Kindheit ihres Nachwuchses verboten. So dürfen sie zum Beispiel keine Keramik herstellen oder überhaupt mit Lehm umgehen, da dies ein Element ist, bei dem man starke Beziehungen zum Übernatürlichen aufnimmt.
Von klein an verrichten die Kinder einige der Arbeiten, die sie später beherrschen sollen: sie begleiten ihre Eltern zu den Pflanzungen, die Jungen gehen Fischen, die Mädchen kümmern sich um ihre jüngeren Geschwister. Kinder beider Geschlechter spielen zusammen, ab und zu jedoch ziehen Gruppen von Jungen zur Erkundung der Umgebung des Dorfes aus, während die Mädchen mehr in der Nähe der Wohnung bleiben und bei häuslichen Tätigkeiten helfen.
Die wesentlichste Prüfung des Übergangs vom Jugend- zum Erwachsenenalter besteht in einer langen Periode der Isolation. Der Betreffende wird abgesondert in einem Teil des Hauses untergebracht, der vom restlichen Teil durch eine Scheidewand aus Bambus getrennt ist. Der Raum darf nur nachts zum Verrichten der Notdurft verlassen werden. Da es im isolierten Teil des Hauses keine Fenster gibt, wird ein kleines Loch in die Hauswand gebohrt, um wenigsten etwas Lichteinstrahlung zu ermöglichen. Auch die Belüftung ist sehr mangelhaft, darum ist es tagsüber sehr warm im Raum des Jugendlichen, der auch nicht zum Urinieren heraustreten darf. Die Zeit der Isolation ist eine der härtesten Reifeprüfungen im Leben der Waura. Es besteht ein Verbot der sexuellen Beziehungen während dieser Zeit, neben dem Verbot der Verrichtung von Tätigkeiten zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Die Mutter oder eine Verwandte ist mit der Versorgung des Jugendlichen beauftragt. Dieser soll sich dem Erwerb von kunsthandwerklichen Fähigkeiten widmen, die Jungen flechten Körbe, die Mädchen spinnen Baumwolle oder kümmern sich um die kleinen Kinder, während die Mutter in den Pflanzungen ist.
Das große Ziel eines Waura – Mannes ist es, stark zu werden. Aus diesem Grund erhält der Junge während der Periode der Isolation ‚Mittel‘ pflanzlichen Ursprungs, die ihn bei regelmäßiger Einnahme stärken. Außerdem unterwirft er sich Bearbeitungen mit dem Hautkratzer (aus Zähnen des Hundsfisches). Beim Sprechen mit anderen Personen muß er flüstern, zuviel Lärm könnte die Aufmerksamkeit der Geister erregen, die danach streben, die Seele des Menschen zu rauben. Die Zeit der Isolation ist voller solcher Gefahren übernatürlicher Art.
Für die Mädchen beginnt die Zeit der Isolation mit der ersten Menstruation. Ihnen werden dann die Haare über der Stirn kurzgeschnitten, erst wenn diese bis zum Kinn nachgewachsen sind, können sie die Isolation wieder verlassen. Für die Jungen hingegen ist die Dauer der Isolation nicht genau festgelegt, die Väter entscheiden über Anfang und Ende der Prüfung.
Hin und wieder kann es dem Isolierten erlaubt sein, den Raum zu verlassen, um einer wichtigen Feierlichkeit beizuwohnen.
Am Ende der Isolation hat sich eine körperliche Veränderung vollzogen, die sich in Form von Gewichtszunahme und hellerer Haut äußert. Die Frauen sind nun am schönsten, denn eine dicke Frau mit weißer Haut vereint einige der am meisten geschätzten Merkmale des Schönheitsideals.
Junge Waurá tragen um die Knöchel und unterhalb des Knies Bänder aus Baumwolle, die so fest geschnürt sind, daß verschiedentlich Durchblutungsstörungen die Folge sind. Es entstehen Einschnitte, die, je tiefer und sichtbarer sie sind, ein Mädchen noch anziehender machen. Gegen Ende der Isolation stellen sich Bewerber beim Mädchen ein, unter denen sie ihren zukünftigen Ehemann wählt. Vor der Realisierung der Ehe gibt es stets eine Zeit inoffizieller Bindungen. Die Pflanzungen sind ein beliebter Treffpunkt für ein Liebespaar, aber auch verheiratete Paare genießen dort gerne die Ruhe für sexuelle Beziehungen. So wird die Pflanzung zu einem zentralen Punkt im Leben der Waurá, denn sie ist gleichzeitig der Ort der Nahrungs- und Holzsuche und bietet Schutz für vertrauliche Gespräche.
Eine wichtige künstlerische Äußerung der Waurá ist die Körperbemalung, sie wird von beiden Geschlechtern betrieben, jedoch nach unterschiedlichen Regeln. Auch auf Keramik, Holzgegenständen (Schemeln, Grabstöcken) sowie Kämmen und Körben findet man Zeichnungen. Diese Form der künstlerischen Äußerung ist ein wichtiger Bestandteil im Leben der Waurá. Die Instrumentalmusik mit Blas- und Schlaginstrumenten ist ein männliches Betätigungsfeld, während Gesang, Tanz und die Keramikanfertigung von beiden Geschlechtern ausgeführt werden. Eine kleine Flöte mit vier Röhren kann auch schon von Kindern gespielt werden, sie ist wichtig zum Erlernen des Musizierens.
Die Waurá sind inzwischen längst mit den Errungenschaften industrieller Kultur in Berührung gekommen und zollen Erzeugnissen aus Metall sowie Kassettenrecordern und Transistorradios Bewunderung. Ihrem Stolz auf die eigene Kultur ist dadurch jedoch kein Abbruch getan. Wie Vera Penteado Coelho zu berichten weiß, bemühen sie sich auch gerne, diese einem fremden Beobachter zu vermitteln.
Informationen entnommen aus: Vera Penteado Coelho „Die Waurá“
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Der Tradition entspricht es, Erzählungen zu hören, wenn man es sich abends in der Hängematte bequem gemacht hat. Dann werden Mythen und Geschichten erzählt, wie zum Beispiel die folgende:
Wie die Sonne das Rauchen lernte
Der Herr des Rauches ist eyula (Opossum), ein Tierchen, das auf Bäumen lebt und wie eine Maus aussieht. Ein Vorfahre von eyula, eyula-kumá genannt, hatte zwei Söhne, die noch Kinder waren.
Die Sonne wollte wissen, wo sie den Rauch findet und wie sie ihn benutzt. Sie fragte Kwanuti, ihren Großvater: „Wo gibt es Rauch?“
Kwanuti antwortete nicht. Er zeichnete nur mit dem Finger einen Kreis auf den Fußboden. „Wo gibt es Rauch?“ – „Dort.“
Also ging die Sonne in die angezeigte Richtung und gelangte zum Hause von eyula.kumá: „Könnte ich ein bißchen Rauch für mich haben?“
Eyula-kumá nahm seine Zaubermatte und holte ein Tabaksblatt hervor, machte aber nichts damit.
Als eyula-kumá auf die Pflanzung ging und seine Söhne zu Hause blieben, ging die Sonne hinein und tötete beide Kinder. Dann versteckte sie sich. Eyula-kumá kam zurück, fand seine toten Söhne und wurde sehr traurig. Die Sonne sah, wie er eine Zigarette drehte, sie anzündete und über den Köpfen seiner Söhne rauchte, während er gleichzeitig die passenden Worte sprach. So beobachtete die Sonne, wie ein Schamane verfährt.
Als die Zeremonie vorüber war, kam die Sonne aus ihrem Versteck, nahm die Zigaretten und wollte schon gehen, als der Herr des Rauches sie zurückrief: „Warte, damit ich dich alles lehre. Ich werde dir alles genau erklären. Wenn jemand stirbt, mußt du so beten.“
Da lernte die Sonne es. Sie überbrachte diese Lehre den Indianern, und daher wissen sie, wie man raucht und das Rauchen zu Heilzwecken nutzt.
aus: Vera Penteado Coelho, „Die Waurá“