Von den Anfängen
Dokumentationen über „Indianer“ gibt es viele. Aber die wirklich guten lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Allen ist ihnen zunächst gemein, dass sie eben nicht von Indianern, sondern von Indigenen handeln (wenngleich sie mitunter so benannt werden). Im Besonderen zeichnen sie sich durch ein spezielles Thema, ein gutes Drehbuch und schöne Aufnahmen aus. Und eben diese Kombination wird für die meisten Regisseure zum unüberwindlichen Hindernis. Oft mangelt es einfach an Hintergrundwissen, was seinen Ausdruck dann in sinnfreien Allgemeinplätzen findet.
Nicht so bei Heinz Kindlimann. Der Journalist und langjährige leitende Mitarbeiter des Schweizer Fernsehens weiß, wovon er berichtet. Sein Leben und das der Yanomami waren über Jahrzehnte eng verknüpft. Wohl auch deshalb gelang ihm eine Reportage, die das Prädikat „ausgezeichnet“ verdient. „Geboren in der Steinzeit – gestorben in der Gegenwart“ gehört zweifelsfrei in die Kategorie der Dokumentationen, die als zeitlose Bilder auch dann noch fortbestehen, wenn jene Zeit längst als unwiederbringlich verloren gilt.
Zusammen mit dem Kameramann Wolfgang Brög machte sich der pensionierte Fotograf im Jahr 2005 auf den Weg in den brasilianischen Urwald, zu den Yanomami. Dabei hatte er nicht im Sinn, zum x-ten Mal die Ureinwohner der Nebelberge an der Grenze zu Venezuela zu porträtieren. Ihm ging es um ein Revival, ein gesellschaftliches wie privates. Denn bereits 40 Jahre vorher war er als erster Weißer mit der Kamera zu den Yanomami vorgedrungen. Er wollte sehen, welche Veränderungen die Ureinwohner seitdem erfuhren – und brachte Erkenntnisse mit, die aus ethnologischer Sicht erschrecken.
Als er 1965 zum ersten Mal bei den Waika, den „Tötern“, einem Stamm der Yanomami, auftauchte, fand er eine indigene Gemeinschaft vor, die wohl das Idealbild des kommunitären Zusammenlebens verkörperte. Um einen zentralen Platz herum hatten die Einwohner ein riesiges Rundhaus errichtet, in dem es weder Mein noch Dein, ja nicht einmal Privatsphäre gab. Lediglich der Liebesakt vollzog sich im schützenden Grün des Dschungels. Die Ureinwohner hingen einer Naturreligion an. Zu Feierlichkeiten benebelten sie ihre Sinne mit dem halluzinogenen Epéna-Pulver aus der Rinde des Baumes Virola callohylloides. Der Medizinmann und Schamane war der Gleicheste unter den Gleichen.
Kindlimann, den die Yanomami wegen seiner Behaarung am ganzen Körper den „weißen Affen“ nannten, stellte aber auch fest, dass über dieser Idylle ständig der brutale Hauch von Gewalt und Aggression lag. Häufig kam es zu Fehden mit anderen Dörfern – über Jagdgründe, Nahrungsvorräte, manchmal auch über Frauen.
„An Stelle von Pfeil und Bogen ist der Sonnenschirm getreten“
Als der pensionierte Schweizer nach langwierigen Verhandlungen mit der brasilianischen Organisation zum Schutz der indigenen Bevölkerung (FUNAI) – die Indigenen hatten sich das Recht auf Schutz und Isolation ab den 1960er Jahren erstritten – im Jahr 2005 in den Parque Nacional do Pico da Neblina zurückkehrte, um seine Gastgeber von damals und deren Nachfahren zu besuchen, erlebte er schon vor Erreichen des Zieles eine große Überraschung. Beim Überholen eines Einbaums der Yanomami bemerkte Kindlimann in simplen Worten, die hängen bleiben: „Längst hat der Außenborder die Paddel ersetzt. Und an Stelle von Pfeil und Bogen ist der Sonnenschirm getreten“. Diese Sätze resümieren wohl am treffendsten, was den Schweizer im Folgenden erwartet: die Anpassung der Kultur der Yanomami an das Industriezeitalter.
Beim Betreten des Dorfes dann endgültig die Gewissheit: Die egalitäre Gemeinschaft der Yanomami existiert nicht mehr. Besitz, Rechnungen, Gold – neues Vokabular bei den Indigenen, das kommuniziert, welchen Wandel das Volk von einst durchlaufen hat. Separate (Einfamilien-)Häuser, Privateigentum, eine strikte Hierarchie, Anfeindungen, die Vermarktung ihrer Gastfreundschaft und ihre zunehmende Konsumorientierung findet er nun überall. Die Naturreligion ist dem Katholizismus gewichen. Brasiliens Flagge weht gleich neben der Parabolantenne, die den Fernsehempfang aus aller Welt ermöglicht.
Sein Aufenthalt, um den er so lange gekämpft hatte und der ihm so viele Mühen der Anreise gemacht hatte, hing auch im zweiten Dorf schon gleich nach der Ankunft am seidenen Faden. Er solle ein Boot mit Außenborder, eine Parabolantenne und einen Fernseher liefern. Nur dann dürfe er das Dorf betreten und filmen. Als zwei Yanomami versuchten, mit dem Gepäck zu entfliehen, wurde klar, dass das heilige Verbot des Diebstahls längst zu den Annalen gehört. Einfamilienhäuser, Baumwollkleidung, Fußballplatz, eine staatliche Schule (mit ausschließlich Portugiesisch als Schulsprache), ein Gesundheitsstützpunkt und eine klare Rangordnung – dieses Dorf musste ebenfalls als zunehmend integriert gelten.
Die Hoffnungsträger von heute
Erst im dritten Anlauf, ein halbes Jahr später, gelingt es Kindlimann, Yanomami zu finden, die weiterhin ihr traditionelles Leben führen – in Gemeinschaftshäusern rings um einen gemeinsamen Platz. Und das trotz der nahegelegenen Landebahn für Kleinflugzeuge. Die Zivilisation war jedoch auch bis hierher vorgedrungen. Mit negativen Folgen – mag man anfügen. Denn Goldgräber und Abenteurer haben sich nie um das Heil der lokalen Bevölkerung gekümmert. Kindlimann ist deshalb der erste Weiße seit sieben Jahren, dem die Yanomami den Zutritt zu ihrem Dorf gewähren. Hier leben noch die Geister, die von anderen Bergen, einer anderen Welt kommen. Hier herrscht sie noch, die Gleichheit unter Gleichen. Hier sprechen und lernen sie noch in ihrer Sprache: dem Yanomami. Und hier wehren sie sich gegen die Vertreter aus Brasilia und den USA, die den Fortschritt in Form einer Satellitenanlage bringen wollen.
Die mit viel Enthusiasmus gedrehte Dokumentation zeichnet kein gutes Bild unserer, der industrialisierten Zivilisation, die wie ein schwarzes Loch alles in sich hineinsaugt, was in ihre Reichweite gerät. Die Sympathien der Macher sind klar verteilt. „Shori Siori“, der Schwager aus dem Affenland, wie Kindlimann von den Yanomami gerufen wird, läßt daran keinen Zweifel. Trotzdem und gerade deshalb ist die Reportage für alle Akteure im großen Spiel sehenswert: für die Kirche genauso wie für (Entwicklungs-)NGOs, für Regierungen und Wirtschaftsleute, für Träumer einer idealisierten Welt der indigenen Völker wie für Kämpfer zum Erhalt einer solchen, für die Optimisten und die Pessimisten – vor allem jedoch für den aufgeklärten Zuschauer.
Geboren in der Steinzeit – gestorben in der Gegenwart
Ein Film von Heinz Kindlimann
Schweiz, 2006.
Bildquellen: Heinz Kindlimann.