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Die Geschichte vom schwarzen Orpheus

Gabriele Töpferwein | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

Die Geschichte ist alt und, zumindest in den Grundzügen, vielen auch noch bekannt. Orpheus, ein Sänger aus Thrakien, vermag mit seiner Lyra und seinem Gesang nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere und sogar Felsen zu verzaubern. Er liebt die Nymphe Eurydike. Diese wird von Aristaios belästigt, welcher ein Sohn des Apollon ist und somit, nach verschiedenen Überlieferungen, sogar Orpheus‘ Halbbruder gewesen sein könnte. Auf der Flucht vor den Nachstellungen des Aristaios findet Eurydike den Tod. Untröstlich durch den Tod der Geliebten begibt sich Orpheus in die Unterwelt, wo es ihm gelingt, mit seinem Gesang auch Hades zu beeindrucken. Dieser gibt schließlich dem Wunsch des Sängers nach, ihm Eurydike zurückzugeben. Einzige Bedingung: Er darf in der Unterwelt nicht zurückschauen. Auf dem Weg zurück in die Oberwelt kann Orpheus dann aber diese Bedingung nicht erfüllen: Er dreht sich nach Eurydike um, woraufhin er sie für immer verliert. Ins Reich der Lebenden zurückgekehrt, wird Orpheus dann von den Mänaden, den berauschten Anhängerinnen des Dionysos, zerrissen.

Orfeu NegroIn seinem Film Orfeu Negro verlegte der französische Filmemacher Marcel Camus die Geschichte aus der griechischen Mythologie ins Brasilien des 20. Jahrhunderts. Orpheus/ Orfeu ist bei ihm ein schwarzer Straßenbahnschaffner in Rio de Janeiro, der in seiner Freizeit eine Sambatruppe leitet – also auch singt und tanzt. Das Mädchen Eurydike/ Euridíce kommt vom Lande nach Rio, auf der Flucht vor einem Mann, der ihm auf der heimatlichen Plantage nachstellte. In Rio flieht Euridíce zu ihrer Cousine Serafina, die zu Orfeus Truppe gehört, und gerät so unmittelbar in den Trubel des Karnevals. Orfeu, ein Weiberheld und eher gegen seinen Willen mit Mira verlobt, ist überall beliebt und vermag, wie sein antiker Namensvetter, mit seinem Gesang und Tanz alle zu verzaubern; selbst die Sonne kann er mit seinem Gitarrenspiel aufgehen lassen.

Es kommt wie es kommen muss: Der Sänger und die Unschuld vom Lande verlieben sich ineinander. Doch der Verfolger, in der Maske des Todes, ist Euridíce bis nach Rio gefolgt. Sie flieht vor ihm durch den Karnevalstrubel, und findet schließlich den Tod. Orfeus Suche nach der Geliebten, sein Weg in die Unterwelt, führt ihn zunächst in eine Behörde für Vermisste, einen Tempel der Bürokratie, wo alles Lebende stirbt – zu Papier geworden. Nicht im Hades, sondern in einer Candomblé-Zeremonie* findet er Euridíce schließlich Orfeu mit der toten Euridícewieder. Doch auch er vertraut nicht seinem Herzen allein, will sich nach dem Mädchen umdrehen und verliert es so endgültig. Als er mit der toten Euridíce in sein Viertel zurückkommt, übernimmt die vor Eifersucht rasende Mira die Rolle der Mänaden – sie erschlägt Orfeu mit einem Stein. Am Ende des Films, nach dem Tod der Liebenden, gelingt es dem Jungen Zeca, der Orfeu bewunderte, mit seinem Gitarrespiel, die Sonne zum „Aufgehen zu bewegen“ – seinerseits bewundert von einer kleinen Freundin. Camus lässt den Mythos von Orpheus und Eurydike, das Spiel von Liebe und Tod, von Neuem beginnen.

Orfeu Negro kam 1959 in die Kinos, hat also schon 50 Jahre auf dem Buckel. Das merkt man dem Film auch an, für heutige Sehgewohnheiten ist er recht gewöhnungsbedürftig. Der schwarze Orpheus ist ein Film der großen Gesten. Mitunter erinnert der Streifen an diese alten italienischen Filme, in denen die Frauen oft zu viel und zu laut reden. Das wirkt sehr theatralisch und nervt auch ein wenig. Allerdings ist das portugiesische Original in dieser Hinsicht nicht so aufdringlich. Möglicherweise ist das also ein Problem der deutschen Synchronisation; wäre ja möglich, dass man sich hierzulande Lebensfreude und Leidenschaft genau so vorstellte.

Der griechischen Tragödie entsprechend, sind die Charaktere weitgehend eindimensional gehalten, die Rollen im Film sind klar zugewiesen. Orfeu, der Sänger und Tänzer, ist ein Frauenheld, aber gutmütig und allgemein beliebt. Euridíce ist naiv, unschuldig und hilflos. Und Mira, Orfeus Verlobte, erhält beim Zuschauer nicht die geringste Chance – sie ist einfach nur unsympathisch. Zudem reiht Camus ein Klischee ans andere. Während des Karnevals gehen die Cariocas, die Bewohner Rios, nicht, sie tanzen nur noch. Vor allem die Frauen bewegen sich nur sambatanzend durch ihr Viertel. Die Protagonisten leben zwar in einer Favela, aber sie sind glücklich. Gut, sie müssen beim Händler anschreiben lassen, doch der lässt sich schon mit einem Küsschen dazu überreden. Serafina und ihr tumber Freund Chico (der hat hier wohl die Funktion des Hanswurst) sind einfach nur glücklich und zufrieden, „wie die Kinder“, heißt es einmal. Der Junge Benedito, der Euridíce einen Talisman schenkt, dessen Verlust den Beginn der Katastrophe markiert, kommt malerisch schmutzig und zerlumpt daher. Lustigerweise wirkt Euridíce, das Mädchen vom Lande, in ihrem blütenweißen Kleid und den ebenso weißen hochhackigen Pumps wesentlich städtischer als die Cariocas in ihren Espandrilles.

Camus verpackte die Geschichte geschickt in Rios Karneval, der damals außerhalb Brasiliens wohl noch nicht so berühmt war wie heute. Die Bilder von dem Fest strahlen Lebensfreude aus, es gibt viel Tanz und Musik – Samba und Bossa Nova. Für die Musik von Tom Chobim und Luiz Bonfá wird der Film heute noch gerühmt. Hinzu kommen eine traumhafte Szenerie und wunderschöne Bilder.

Der Film war seinerzeit ein Wagnis: Außerhalb Brasiliens unbekannte und obendrein auch noch schwarze Hauptdarsteller, das sprach nicht gerade für einen Erfolg. Mit Ausnahme der Euridíce (Marpessa Dawn, USA) besetzte der Regisseur die Hauptrollen mit Brasilianern. Breno Mello, der Darsteller des Orfeu, hatte bis dahin keine schauspielerische Erfahrung – er war ein bekannter Fußballer. Der Kritik gefiel der Film damals überhaupt nicht, sie verriss ihn. Aus heutiger Sicht kann ich das schon nachvollziehen, die damalige Argumentation kenne ich allerdings nicht. Das Publikum ließ sich von den Kritikern nicht beeindrucken – Orfeu Negro wurde ein Erfolg. Weltweit. Die Geschichte von Liebe, Hass und Tod gefiel den Kinozuschauern. Die Exotik, erstmals war Brasilien Gegenstand eines europäischen Spielfilms, tat sicher ein Übriges. Eine gute Mischung für einen Oscar, den der Film dann auch gewann: Orfeu Negro wurde 1960 als bester ausländischer Film ausgezeichnet. Außerdem gab es einen Golden Globe und die Goldene Palme von Cannes (1959). Rundum ein großer Erfolg also. Ein kleiner Wermutstropfen blieb allerdings doch: Die Brasilianer konnten mit dem Film nichts anfangen. In Brasilien, wo die Geschichte ja spielt, floppte Orfeu Negro.

Die Franzosen René Letzgus und Bernard Tournois versuchen nun dem Mythos von Orfeu Negro auf die Spur zu kommen. Für ihren Film „Orfeu Negro – Mythos und Wirklichkeit“ begleiten sie Tunico Amâncio von der Universidade Federal Fluminense, der an einer Studie über Orfeu Negro arbeitet, an die Drehorte des Films. Sie treffen Akteure und Zuschauer von damals, befragen sie nach ihren Erinnerungen an den Spielfilm: den Regieassistenten Silvio Autuori, Léa Garcia, die die Serafina spielte und den Orfeu Breno Mello, um nur einige zu nennen. Es ist ganz reizvoll, den Schauplätzen des Films (besser den Spielfilm vorher ansehen!) oder den Darstellern wiederzubegegnen. Ihre Geschichten zur Entstehung des Films, ergänzt mit Aussagen von Marcel Camus, sind allemal interessant. Doch der Film kippt sehr schnell. Damit ist nicht gemeint, dass er schlechter oder langweiliger wird. Er wechselt nur ein wenig sein Thema.

Grundlage für Marcel Camus‘ Film ist ein Theaterstück des Brasilianers Vinícius de Moraes. Und auch, wenn die Dokumentation sich vordergründig mit Camus‘ Film befasst, so entsteht doch der Eindruck, als ginge es vielmehr um de Moraes und sein Stück. Vinícius de Moraes (1913-1980), der hierzulande kaum bekannt sein dürfte, war Theaterautor, Dichter, Sänger, einer der Pioniere des Bossa Nova. Seine Bedeutung für die brasilianische Kultur kann wohl nicht überschätzt werden. Und das gilt vor allem im Zusammenhang mit dem Mythos vom schwarzen Orpheus. Der Sänger Gilberto Gil weist ausdrücklich darauf hin, wenn er sagt: „Vinícius de Moraes ist für die Geschichte der brasilianischen Musik sehr wichtig. Er war bereits ein großer Dichter geschriebener Poesie, ein Diplomat, ein Mensch mit einer ungeheuren Liebe zur volksnahen Dimension der brasilianischen Kultur, zur Präsenz der Schwarzen, zum großen Beitrag, den die Schwarzen zur brasilianischen Kultur geleistet hatten. Als er die griechische Vorlage der Tragödie für den brasilianischen Orfeu nahm, tat er dies eben genau als Anerkennung der Größe, der Bedeutung, und ja, der Komplexität der afrikanischen Kultur … “ Das Stück „Orfeu da Conceição“, 1956 entstanden, war ein großer Erfolg in Brasilien. Oscar Niemeyer schuf das Bühnenbild, Tom Jobim schrieb die Musik.

Die Idee, die Geschichte von Orpheus und Eurydike in eine Favela von Rio de Janeiro zu verlegen, stammt also nicht von dem französischen Filmemacher. Camus erhielt von de Moraes die Erlaubnis, das Stück zu adaptieren und dabei auch weitgehend frei mit der Vorlage umzugehen. Das Ergebnis gefiel dem Brasilianer dann überhaupt nicht, er hasste den Film. Der brasilianische Regisseur Carlos Diegues schätzt heute sogar ein, Camus‘ Film sei fast eine persönliche Beleidigung gewesen. „Die Geschichte war vom Originalstück von Vinícius weit entfernt und hatte auch mit der konkreten Realität der Favelas Rios nicht viel zu tun.“ Marcel Camus ließ für den Film eine Favela aufbauen, eine sehr schöne Kulisse, die das Elendsviertel fast zu einer Sehenswürdigkeit machte, wie Milton Nascimento bemerkt. Suzanna de Moraes, die Tochter des Dichters, gewann seinerzeit den Eindruck, dass an diesem Film „nichts echt“ sei..

Warum der Film in Brasilien nicht funktionierte, hat sicher vielfältige Gründe. Ende der 50er Jahre lebten noch ca. 70-80% der Brasilianer auf dem Lande, der Schauplatz des Films war ihnen also eher fremd. Ich könnte mir vorstellen, dass die Brasilianer auch Probleme mit der angedeuteten sexuellen Freizügigkeit der Cariocas hatten: So wird in Orfeu Negro extra mehrmals betont, dass Serafina und Chico nicht verheiratet sind. Und Orfeu und Euridíce sind es ja auch nicht. Für Camus war das sicher eine schöne Metapher für die exotische Lebensfreude der Brasilianer. Diese sahen das selbst vermutlich etwas anders. Das sorglose Leben in der malerischen Favela kollidierte zudem auch mit dem wirklichen Leben der armen Cariocas.

Letzgus und Tournois thematisieren die Probleme, die Camus‘ Orfeu Negro in Brasilien hatte, verdeutlichen aber auch die enorme Bedeutung von Orfeu da Conceição. Die Figur des Schwarzen in der Favela ist in Brasilien nach wie vor aktuell, Milton Nascimento betont sogar, dass Orfeus Geist in den Musikern weiterlebe. Und so zeigt der Film auch, wie sich das Leben in Brasilien seit Orfeu Negro verändert hat, und wie Musiker versuchen, ihre Verantwortung in der Gesellschaft wahrzunehmen. Brasilien, so heißt es, entdecke seine Kultur ständig neu. Und die Musik der Schwarzen spiele dabei eine große Rolle. Der Liedermacher und Schauspieler Seu Jorge, den Nascimento den „Orfeu von heute“ nennt, betont die Notwendigkeit, mehr in die Menschen zu investieren, ihre Herzen zu öffnen Und so gibt es Tanz- und Kunstkurse für Kinder in den Favelas, Musikschulen, die versuchen, die Kinder von der Straße zu holen. Die Musik solle die Macht in Brasilien übernehmen, wünscht sich Sérgio Cabral, denn „an dem Tag, an dem Brasilien von der Musik regiert wird, werden wir viel glücklicher sein“. Einmal mehr ein Beweis für die außergewöhnliche Bedeutung, die Brasilianer der Musik beimessen, man denke nur an die Visionen von Heitor Villa-Lobos.

Carlos Diegues hat übrigens 1999 einen neuen Film über den schwarzen Orpheus gedreht, kein Remake von Orfeu Negro, sondern eher eine Neuschaffung von Vinícius de Moraes‘ Stück Orfeu da Conceição, einen Film über das Leben in den heutigen Favelas von Rio. Aber auch der ein halbes Jahrhundert alte Film von Marcel Camus hat seine Anerkennung inzwischen auch in Brasilien gefunden: Suzanna de Moraes, die den Film ebenso wie ihr Vater, nicht mochte, wurde von dem Regisseur Glauber Rocha gebeten, sich den Streifen doch noch einmal anzusehen. Sie hat es getan und ihr Urteil inzwischen revidiert – Orfeu Negro, so meint sie heute, sei „ein richtiges kleines Meisterwerk“.

* Candomblé ist eine vor allem in Brasilien verbreitete Religion mit afrikanischen Wurzeln. Siehe auch: Stefan Schmelzer: Candomblé: Eine afro-brasilianische Religion. Quetzal 28/29. Herbst/ Winter 2000.

Orfeu Negro. Brasilien/ Frankreich/ Italien 1959. Regie: Marcel Camus.
Orfeu Negro – Zwischen Mythos und Realität. Frankreich 2005

Fotos: Snapshots

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