Wenn es jemanden auf der Welt gäbe,
der ein Metronom auf den höchsten Punkt der Erde stellen könnte,
wären wir vielleicht dem Frieden näher.
Heitor Villa-Lobos
Wir betrachten es immer als ein ungeheures Wagnis, als eine Ketzerei, Beispiele aus Lateinamerika an denen in Europa zu messen. Das ist ein Teil des geistigen Kolonialismus in unserem Land …“ Diese Worte des Peruaners José María Arguedas scheinen programmatisch auch für den Brasilianer Heitor Villa-Lobos zu sein. Ja natürlich, Villa-Lobos hatte Erfolg in Europa und Nordamerika. Damit war er der erste lateinamerikanische Komponist, der dauerhaft auf sich aufmerksam machen konnte. Und heute vergleicht man ihn durchaus mit Belá Bartók oder Manuel de Falla. Aber in seiner Zeit war er in Europa der „edle Wilde“, der „weiße Indianer“. Sein „Anderssein“ machte ihn interessant und die scheinbare „Exotik“ brachte ihm den Erfolg. Man erfand ihm sogar eine Vita als Forscher und Abenteurer. Die Musik für den Film „Tropenglut“, die Hollywood bei ihm bestellt hatte, gefiel den Produzenten dann überhaupt nicht. Das mag daran gelegen haben, dass Villa-Lobos‘ Musik keine Tropenexotik bietet. Trotz der Chôros und Maxixes, die er in seinen Kompositionen verarbeitete, Villa-Lobos war kein Folklorist. Dieser Brasilianer orientierte sich an der „Polyrhythmie der Sklavengesänge“ und der „atonalen Dimensionen“ von Indiogesängen ebenso wie an der Musik Strawinskys. Seine Musik war sehr modern. Als einer der Begründer des brasilianischen Modernismus in der Musik verarbeitete er die europäische, afrikanische und amerikanische Musiktradition gleichermaßen.
Immer hatte er das erklärte Ziel, eine brasilianische Musik zu schaffen, „weil mein Buch Brasilien war…“. Die Musik, „die Kunst, die die anderen Künste führt“, sollte allen zugänglich sein. In den dreißiger Jahren wird er zum Musikpädagogen, widmet sich der musischen Volkserziehung. Der „estado novo“ des Mussolini- und Hitler-Verehrers Gétulio Vargas schafft dafür gute Voraussetzungen. 15 Jahre lang leitet Villa-Lobos die „Organisation für musikalische Erziehung“, setzt sich ein für die Verbreitung der Chormusik in ganz Brasilien. In Stadien organisiert und dirigiert er gigantische Chorkonzerte mit 40.000 Sängern und mehreren Hundert Instrumentalisten. 1942 gründet er schließlich das „Nationale Konservatorium für Gesang“. Seiner Meinung nach waren die politische oder die wirtschaftliche Entwicklung in Brasilien nicht wirklich wichtig – “Brasilien findet sich“ –, wichtig war allein die Musik. Er wollte die Welt mittels der Musik verbessern.
All das erfahre ich aus dem Film „Villa-Lobos, die Seele Rios“ von Eric Darmon. Das ist eine ganze Menge, aber irgendwie ist es mir zu wenig. Gleich zu Beginn des Streifens wird postuliert, Villa-Lobos‘ „Genialität, Spontanität und Kreativität“ spiegele die unendliche Vielfalt der brasilianischen Kultur. Und der Titel suggeriert dann auch, der Komponist verkörpere die (musikalische) Seele Rios. Ich glaube das gerne, aber so richtig erschlossen hat sich mir das aus dem Film nicht. Weil seine Musik immer noch gespielt wird (wie im Film demonstriert)? Weil die Musik von Gilberto Gil manchmal so klingt wie die von Villa-Lobos? Weil er Antônio Carlos Jobim beeinflusst hat? Weil in Rio immer noch Musik gemacht wird? Geschenkt!
Ich hätte schon gerne mehr vom Weiterleben der Musik des Heitor Villa-Lobos in Brasilien erfahren. Und über den Menschen Villa-Lobos auch. Ich habe gelesen, der Komponist sei unter Vargas Kulturminister gewesen. Stimmt das? Die Vorstellung von Massenkonzerten mit 40.000 Kindern erscheint mir gespenstisch: Was brachte ihn zu einer derartigen Gigantomanie, welche Funktion maß er solchen Demonstrationen bei? Es bleiben noch viele Fragen. Die Dokumentation beschränkt sich hier zu sehr allein auf die Lebensdaten.
Aber – im Film ist sehr viel Musik zu hören, natürlich vor allem die von Heitor Villa-Lobos. Und die macht Lust auf mehr, mehr jedenfalls, als die wenigen Preludes und Chôros, die sich in meiner CD-Sammlung befinden. Der Brasilianer hat an die 2.000 Werke hinterlassen. Da gibt es noch viel zu entdecken.
Heitor Villa-Lobos, Rios musikalische Seele
arte, 7. Juli 2008